100 Jahre Bremer Räterepublik

Jürgen Roth, Neue Internationale 235, Februar 2019

Jede Revolution
kennt Situationen des Voranstürmens der kämpferischsten Elemente, der
Avantgarde der ArbeiterInnenklasse. Die revolutionäre Ungeduld bildet eine
Triebkraft dieser Entwicklungen, eine andere das Kalkül der Konterrevolution,
diese Schichten in einen vorschnellen „Entscheidungskampf“ zu drängen, um sie
isoliert leichter schlagen zu können. Der sog. Spartakusaufstand und die
Münchner Räterepublik sind wohl die bekanntesten Phänomene dieser Art in der
deutschen Revolution. Ihren Niederlagen folgten blutige Repression, Tod und
Mord und die Konsolidierung der Konterrevolution.

Während
„Spartakusaufstand“ und Münchner Räterepublik, die Ermordung von KommunistInnen
wie Luxemburg, Liebknecht, Leviné weithin bekannt sind, fristet die Bremer
Räterepublik eher ein Schattendasein.

Sonderentwicklung

Es macht daher
Sinn, sich vorweg die Sonderentwicklung der Bremer ArbeiterInnenbewegung vor
Augen zu halten, die schon während des Krieges einen vergleichsweise starken
und bewussten revolutionären Flügel in Form der „Bremer Linksradikalen“
hervorbrachte.

Während des
Krieges entwickelte sich das Kräfteverhältnis zwischen den Flügeln im
Sozialdemokratischen Verein Bremen (SPD) anders als im übrigen Deutschland.
Bereits im Januar 1915 wurde ein Diskussionskreis vornehmlich oppositioneller
FunktionärInnen gegründet – der „Indianerclub“. Schon 1916 wurden etliche
Parteirechte aus ihren Ämtern abgewählt. Sie schufen daraufhin die Zeitung
„Bremer Correspondenz“ (Januar-Dezember 1916), während die Linksradikalen ihre
Wochenschrift „Arbeiterpolitik“ auflegten (24.6.1916-Frühjahr 1919). Am
1.12.1916 beschloss die linke Mehrheit eine Beitragssperre gegenüber dem
Reichsparteivorstand. Dieser schloss daraufhin die Bremer Organisation aus. Die
lokale Parteirechte gründete im Dezember 1916 eine Sonderorganisation,
Vorläuferin der späteren MSPD, der (Reichs-)Mehrheitssozialdemokratie. Der
Reichsparteivorstand übergab ihr das lokale Parteiorgan „Bremer Bürgerzeitung“
(BBZ).

Im Mai gründete
Alfred Henke die Bremer Organisation der Unabhängigen (USPD), die damit aus der
mit den Linken gemeinsamen Partei ausscherten. Diese gründeten sich am
23.11.1918 als „Internationale Kommunisten Deutschlands“ (IKD) neu, gaben ab
27.11.1918 die Tageszeitung „Der Kommunist“ heraus und schlossen sich der KPD
an.

In Zimmerwald
und Kienthal standen die Bremer Linksradikalen aufseiten der Bolschewiki.
Vergleichbar den Revolutionären Obleuten im Reich und im Unterschied zum
Spartakusbund verfügten sie durch ein gut ausgebautes Vertrauensleutesystem
über entscheidenden Einfluss auf die 10.000 ArbeiterInnen der Weserwerft, dem
bedeutendsten Industriebetrieb der Stadt.

Der Kampf um
Bremen: Räte
konstituieren sich

Nach
Massenversammlungen am 4. und 5. 11. brach am 6.11. der revolutionäre Sturm
los. Der am Morgen gewählte ArbeiterInnenrat (AR) der Weserwerft befreite
Militärgefangene aus dem Gefängnis in Oslebshausen, Matrosenmeuterer
entwaffneten auf dem Bahnhof die Begleitmannschaft. Am Abend kündigte der USDP-Linke
Frasunkiewicz die Bildung eines ArbeiterInnen- und Soldatenrats (AuSR) an. Am
9.11. mussten die Offiziere auf Druck der WerftarbeiterInnen den Soldatenrat
(SR) räumen. Der Senat (die bürgerliche Stadtregierung) bewilligte gleiches
Wahlrecht zum Parlament, gegen das er noch am 6.11. sein Veto eingelegt hatte.
Dieses verspätete Zugeständnis rettete ihn aber nicht, er wurde am 14.11.
abgesetzt.

Am 24.11.
stimmte der AuSR zwar gegen die proletarische Diktatur, aber für die Bewaffnung
der IndustriearbeiterInnenschaft und die Verwandlung der BBZ in sein eigenes
Presseorgan. Doch der letzte Beschluss wurde nicht umgesetzt, da die MSPD mit
Auszug drohte. Mit Unterstützung durch den Soldatenrat übernahm schließlich am
21.12. die USPD die BBZ und bootete so auch die KPD aus.

Die Banken
bereiteten dem Rat Kreditschwierigkeiten. Am 9.12. lehnte er zwar einen Antrag
auf volle Wiedereinsetzung von Senat und Bürgerschaft (Stadtparlament) ab, eine
Antwort auf die Erpressung durch die Banken hatte er aber nicht.

Das am 11.12.
eingezogene Reserve-Infanterie-Regiment 213 versuchte der offen
konterrevolutionäre Bürgerausschuss auf seine Seite zu ziehen. Doch dem SR
gelang dessen Demobilisierung. Am 30.12. gelangte das 75. Infanterie-Regiment
(ca. 600 Mann) vor der Stadt an und erhob konterrevolutionäre Forderungen,
konnte jedoch von aufständischen ArbeiterInnen und Matrosen entwaffnet werden.

Am 6.1.1919
fanden die AR-Wahlen statt, die die MSPD mit 113 Mandaten gewinnen konnte
(USPD: 64, KPD: 62). Die Beschränkung des Wahlrechts auf die in den 3 Parteien
organisierten Mitglieder, statt es auf alle proletarischen Schichten und ihre
wahlmündigen Angehörigen zu erweitern, war ein rechter USPD-Einfall und ein
schwerer Fehler, den auch die KPD mitzuverantworten hatte. Ursprünglich
gedacht, um Manipulationen der passiven Schichten der Lohnabhängigen durch die
Sozialdemokratie zu verhindern, vermochte die MSPD das Wahlverfahren für sich
zu nutzen, indem es die Partei für alle und jeden öffnete.

Das
Rätewahlrecht führte nicht nur zum massenhaften Zustrom in die Parteien,
darunter auch unzuverlässiger Elemente in die KPD. Vor allem schloss es
andererseits die unorganisierte Masse der ProletarierInnen von revolutionären
Entscheidungen aus, statt sie aktiv einzubeziehen. Der bestmöglichen
Entwicklung revolutionären Klassenbewusstseins unter breitesten Schichten wurde
somit ein Bärendienst erwiesen!

Die Räterepublik

Am 10.1. endete
eine riesige, teils bewaffnete, von der KPD organisierte Demonstration vor dem
Rathaus. Ihre Forderungen lauteten: „Nieder mit Ebert-Scheidemann und hinaus
mit ihren Wortführern aus dem Arbeiter- und Soldatenrat in Bremen! Restlose
Abdankung des Senats! Einsetzung von Volkskommissariaten! Ausscheiden aller
bürgerlichen und rechtssozialistischen Elemente aus dem Soldatenrat!“
(Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution, Frankfurt/Main 1970, Verlag
Neue Kritik, S. 339) Der AuSR stimmte ohne die ausscheidenden MSPDlerInnen den
Forderungen zu und wählte einen „Rat der Volkskommissare“ aus je 3 Vertretern von
KPD und USPD. Zur Ergänzung der Räteexekutive wurde ein Vollzugsrat aus 9 USPD-
und 6 KPD-Mitgliedern eingesetzt. Bremen wurde zur selbstständigen
sozialistischen Republik ausgerufen, die Entwaffnung aller bürgerlichen
Elemente binnen 24 Stunden angeordnet, die bürgerliche Presse unter Vorzensur
gestellt, das Standrecht verhängt. Der auf dem Sterbelager liegende führende
Kopf der Bremer KPD, Johann Knief, trat gegen eine Überschätzung der Berliner
Ereignisse auf und warnte vor einer lokalen, verfrühten Machtergreifung! Zu
Recht, wie sich zeigen sollte.

Die
Gegenrevolution

Kreditsperre mit
der Forderung nach Wiedereinsetzung von Senat und Bürgerschaft, Demonstrationen
gegen die Aufhebung des Religionsunterrichts und andere Schulreformen, Drohung
mit Streik durch ÄrztInnen und BeamtInnen bewiesen: die gegenrevolutionären
Bestrebungen im Bürgertum bekamen Oberwasser. Das Volkskommissariat wich
zurück. Es hob die Vorzensur und den Belagerungszustand auf. Die Wahlen zur
Nationalversammlung gingen am 19.1. unbehelligt über die Bühne. Am 21.1.
beschloss der AuSR, Wahlen für eine bremische, bürgerlich-parlamentarische
Volksvertretung am 9.3. auszuschreiben. Die KommunistInnen gaben die Abstimmung
angesichts der Unstimmigkeiten in ihrer Fraktion frei. Am 21.1. hatte die
Partei zum lokalen Generalstreik gegen die Finanzmanöver aufgerufen, der jedoch
ins Leere gehen musste, nachdem der Rat die Staatsmacht für sich reklamierte,
der Generalstreik also keinen gegenrevolutionären Adressaten mehr hatte.

All das sind nur
Beispiele dafür, dass die lokal isolierte Republik praktisch vom ersten Tag an
in die Defensive geriet. Recht bald suchte sie nach einer Verhandlungslösung
zum Rückzug – doch die Konterrevolution wollte keinen Kompromiss, sondern ein
Exempel statuieren.

Noske wollte den
besonders für die Wasserkante gefährlichen Brandherd Bremen löschen. Hier war
schließlich die Bewaffnung der Arbeiterinnen trotz der bereits erfolgten
Zugeständnisse an die bürgerliche Demokratie aufrechterhalten worden! Am 30.1.
ordnete er den Truppenvormarsch auf Bremen an. Der Große AR in Hamburg und der
SR des 9. Armeekorps drohten zwar mit Maßnahmen zur Unterstützung Bremens. Aber
mittlerweile hatte man sich auf die Entwaffnung der ArbeiterInnenklasse
geeinigt. Das 9. Armeekorps sollte dafür sorgen, dass die abgelieferten Gewehre
„treuhänderisch“ verwaltet werden.

Am 2.2.
erklärten sich die Bremer Volksbeauftragten mit der Unterschrift Ertingers
(KPD) zum Rücktritt und zur Übergabe der Waffen an eine gemäß der
Stimmenverhältnisse zu den Nationalratswahlen neugebildete Regierung bereit.
Dies akzeptierte die Reichsregierung jedoch nicht.

Die Armee war
den 500 Leuten, die als ernsthafte VerteidigerInnen Bremens zu werten waren,
haushoch überlegen. Militärisch kapitulierte der Rat am 4. Februar. Rückzugsgefechte
bis Bremerhaven und Cuxhaven zogen sich in den nächsten Tag hinein. Die
Niederlage war jedoch besiegelt. Anders als die Münchner Räterepublik endete
sie noch relativ unblutig, ohne Massenerschießungen. War der Bremer
Räterepublik die „Macht“ recht leicht zugefallen, so verdeutlichen Verlauf und
Ende, dass sie verfrüht kam, sie zu keinem Zeitpunkt in der Lage war, die
Revolution auch zu verteidigen und weiterzutreiben. Die Reaktion war durch die
Deklaration eines Rates längst nicht besiegt, die Sozialdemokratie verfügte
noch immer über einen beachtlichen Einfluss in der ArbeiterInnenklasse. Die
USPD erwies sich als jene Partei, deren Halbheiten sich in den Maßnahmen der
Räterepublik am deutlichsten ausdrückten.

Lehren aus der
Politik der Bremer
IKD/KPD

Dabei hatte die
Bremer Linke durchaus Stärken einzubringen. Sie trennte sich eher von den
ReformistInnen und ZentristInnen als die Spartakusgruppe. Doch mangelte es ihr
an taktischer Flexibilität, Disziplin, aber auch an Prinzipienfestigkeit und Klarheit.

Am
weitsichtigsten agierte sicherlich Johann Knief. Er verstand die Gefahr lokaler
Aufstandsversuche, die in der Situation nach dem fehlgeschlagenen
„Spartakusaufstand“ ihr revolutionäres Feuer nicht einfach aufs ganze Reich
ausbreiten konnten.

Die Münchner KPD
unter Eugen Leviné war jedoch konsequenter, was die Weigerung der Teilnahme an
der 1. Räterepublik betraf. In Bremen beteiligte sich die KPD hingegen an einer
Koalition mit der USPD, die eben nicht wie eine echte ArbeiterInnenregierung die
Zerschlagung des bürgerlichen Staats anstrebte, sondern bestenfalls die
Doppelherrschaft in der Armee verteidigte und Polizei, BeamtInnenschaft und
Justiz gänzlich intakt ließ. Es handelte sich um eine äußerst linke Variante
einer bürgerlichen ArbeiterInnenregierung: KPD/USPD statt MSPD/ USPD im Reich.

Die örtliche KPD
rührte nicht an der Doppelkonstruktion von AuSR. Die proletarischen
Mannschaftsdienstgrade der Armee hätten sich an den Wahlen zu einheitlichen
ArbeiterInnenräten beteiligen müssen. Die deutschen Soldaten waren keine Bauern
in Uniform wie in Russland. Sie setzte nicht an gemeinsamen Forderungen mit
mehrheitssozialdemokratischen ArbeiterInnen an, die in der Aufforderung an die
SPD zum Bruch mit der Bourgeoisie und „Alle Macht den Räten!“ führten. Ihr
Ausschluss aus dem AuSR war ein schwerer Fehler.

Auch die
ökonomische (Banken) und betriebliche Ebene blieb unterbelichtet, v. a. fehlte
das Element ArbeiterInnenkontrolle als entscheidendes Bindeglied zwischen
zahlreichen Teilforderungen und dem Kampf für ArbeiterInnenmacht.

Schließlich
lehnte sie zwar abstrakt die Wahlen zur Nationalversammlung ab und stellte
ihnen die Räte entgegen, aber sie war taktisch unfähig und unwillig, die Wahlen
und die verfassunggebende Versammlung für den Kampf um die Rätemacht und die
Diktatur des Proletariats auszunutzen. Somit kam es auch zur Paradoxie, dass
die gegen die Nationalversammlung gerichtete Räterepublik die Wahlen zu
ebendieser auch in Bremen ruhig abhalten ließ.

All das spiegelt
wider, dass die Räterepublik selbst auf ihrem Höhepunkt nie wirklich die
Doppelmacht in der Stadt lösen konnte. Das war sicherlich nicht einfach ein
„Fehler“ der KPD, sondern erwuchs aus den objektiven Schwierigkeiten und auch
Grenzen einer „lokalen“ Rätemacht. Anders als der Münchner jedoch mangelte es
der Bremer KPD an Bewusstheit dieses Verhältnisses – sie war somit selbst eher
getriebene als treibende Kraft.