Dritter Anlauf um den Platz an der Sonne. Der deutsche Imperialismus

Tobias Hansen, Revolutionärer Marxismus 47, September 2015

A Einleitung

Alle Versprechen, welche das imperialistische System nach dem Sieg über die stalinistischen ArbeiterInnenstaaten des Warschauer Paktes gegeben hatte, sind Schall und Rauch. Die Etappe der „Globalisierung“, die nichts anderes war als die Ausbreitung der imperialistischen Wertschöpfungsketten über den gesamten Erdball, brachte nicht Millionen Menschen den Wohlstand, sondern Milliarden Menschen das Diktat der imperialistischen Ausbeutung und Unterdrückung.

2003 und 2007 veröffentlichten wir Artikel im „Revolutionären Marxismus“ (1) über die damaligen Herausforderungen des deutschen Imperialismus. Der EURO war damals seit zwei Jahren als neue Weltwährung etabliert und der deutsche Imperialismus stand vor der Herausforderung, die EU unter sich „zwangszuvereinigen“ und diesen Block gegenüber dem imperialen Hegemon, den USA, in Stellung zu bringen. Daran hat sich nichts Grundlegendes geändert – aber die inneren Widersprüche des Kapitalismus treten viel deutlicher hervor, der Kampf um die Neuaufteilung der Welt hat sich dramatisch verschärft.

Dabei tritt der deutsche Imperialismus historisch zum dritten Mal in die globale Konkurrenz ein, zum dritten Mal soll am „deutschen Wesen die Welt genesen“, der „Platz an der Sonne“ für das deutsche Kapital gesichert werden. Diese Aussprüche des deutschen Kaisers vor dem Ersten Weltkrieg  sind bekannt, weniger die Analyse des Nachfolgers Max von Baden zu Ende des Ersten Weltkriegs. Dieser stellte für das künftige Weltmachtstreben Deutschlands fest, dass Deutschland nicht mehr militärisch seine Rolle einnehmen kann, sondern es eine zivile, politische Führung in Europa übernehmen muss. Der Zweite Weltkrieg war dann der erneute Versuch, Europa militärisch (diesmal unter der Knute des deutschen Faschismus) zu beherrschen, welcher jedoch die Spaltung Deutschlands zur Folge hatte.

In der von der rot-grünen Bundesregierung so genannten „Berliner Republik“ versucht das deutsche Kapital erneut, eine Weltmachtposition zu erringen, dies v.a. über die Beherrschung des EURO-Raums und der EU. Dieser dritte Anlauf um den Platz an der Sonne kommt bislang ohne offene Kriegsführung in Europa aus, wie auch die militärische Komponente des deutschen Imperialismus heute nicht vergleichbar ist mit den Anstrengungen vor den beiden Weltkriegen. Heute dominiert das deutsche Großkapital ökonomisch und politisch die EU, verfügt mit dem EURO-Raum über einen eigenen „Hinterhof“, einen von ihm beherrschten Binnenmarkt und unterworfene Kapitalfraktionen, wie auch eine beherrschte deutsche und europäische ArbeiterInnenklasse. Von dort aus tritt das deutsche Kapital heute in Konkurrenz zu den USA, zu Japan und zu China, wie es auch gleichzeitig mit ihnen kooperiert – in einer Phase der neuen Bündnisse und Blockbildungen.

Die EU unter deutsch/französischer Führung soll der größte Binnenmarkt werden, hier soll die höchste Produktivität und Profitabilität entstehen und die meisten Investitionen angelockt und getätigt werden. Somit war die „Agenda von Lissabon“, die diese Ziele für die EU festschrieb, eine Erklärung des deutschen Imperialismus, diese EU soll die globale Wirtschaftsmacht Nr. 1 werden,  eine unverhohlene Kampfansage an den engen Verbündeten USA.

Imperialismus auf tönernen Füßen

Die tiefe Krise von 2007- 2009 brachte das imperialistische Weltsystem ins Wanken, Billionen von US-Dollar und EURO galten als „verspekuliert“, Großbanken wie Lehman Brothers gingen pleite, während andere wie Citibank oder die Hypo Real Estate durch die Staaten entschuldet wurden. Die Verluste der Finanzmärkte, des Finanzkapitals und dahinter der globalen Bourgeoisie wurden sozialisiert. Dafür entstand gleich die nächste Spekulationsblase, die der Staatsanleihen. Die Zentralbanken der imperialistischen Mächte (FED, EZB, Japan) haben Massen von Kreditgeld in die Märkte gepumpt, die Geldmenge nach der Krise nochmals drastisch erhöht. Diese Nullzinspolitik (Leitzinsen), die verschiedenen „Rettungsschirme“ und Fonds, ein „quantitative easing“ der „global player“ – dies sind Triebfedern und das Kanonenfutter der aktuellen imperialistischen Konkurrenz.

Diese Krise führte zu einem Einbruch der internationalen Börsen. Millionen Beschäftigte wurden entlassen, weitere Millionen haben seitdem prekarisierte Arbeitsverhältnisse, Hungerrevolten breiteten sich 2009 aus, der Arabische Frühling schuf letztlich für eine ganze Weltregion eine revolutionäre Periode. Doch diese Aufstände und Bewegungen stießen an ihre Grenzen, wurden durch den Vormarsch der Konterrevolution abgelöst. Gleichzeitig sind die imperialistischen Mächte bis heute weit davon entfernt, eine neue, relativ stabile Ordnung im Nahen Osten und Nordafrika zu etablieren.

Das liegt auch daran, dass diese Weltregion zum Schlachtfeld um die Neuordnung der Welt geworden ist. Der Arabische Frühling ist einem konterrevolutionären „Herbst“ gewichen: in Ägypten hat die kleptokratische Militärjunta den Staat wieder in Besitz genommen, Präsident al-Sisi empfiehlt sich als Statthalter des Imperialismus. Die libysche Revolution ist heute ein permanenter Bürgerkrieg, die NATO-Intervention von Frankreich und Großbritannien hinterließ einen so genannten „failed state“. Der syrische Bürgerkrieg hat inzwischen Hunderttausende getötet und Millionen zu Flüchtlingen gemacht und den Aufstieg des IS zu einer dschihadistischen Freiwilligenarmee erlebt. Der IS gründete sich auf den Trümmern der US-Besatzung des Irak. Diese war die Grundlage für zehntausende Freiwillige, welche mit erbeutetem Kriegsmaterial ihren reaktionären „heiligen Krieg“ starteten.

Der Nahe und Mittlere Osten waren Stützpunkte des US-Imperialismus. Hier begründeten sich auch nach 1990 die globale Dominanz und der globale Führungsanspruch der USA. Unter Georg W. Bush wurden Afghanistan und Irak angegriffen und besetzt. Der Krieg gegen den Terrorismus teilte die Welt in „gut und böse“. Für Cheney, Rumsfeld (Vizepräsident und Verteidigungsminister), Exxon und Lockheed Martin (Öl- und Rüstungskonzerne) lag hier der Schlüssel zur Festigung der US-Vorherrschaft.

Zwar konnten die Konzerne und Börsen des US-Imperialismus diese Feldzüge erfolgreich nutzen, die irakischen Ölfelder unter Kontrolle bringen und enorme Kreditgelder in Rüstung, Armee und Märkte pumpen. Jedoch muss heute festgestellt werden, dass die Besatzung eine Niederlage der USA darstellte. Weder politisch noch sozial wurde der Irak stabilisiert. Stattdessen wurde die Grundlage für Bürgerkrieg, Terrorismus und den Aufstieg des IS gelegt. Nach den Versprechungen von Freiheit, Demokratie und Wohlstand führt die imperiale Besatzung de facto zur Zerschlagung des irakischen Staates, zu hunderttausenden Toten und ebenso vielen Freiwilligen für den Dschihadismus.

Die treuen Vasallen des US-Imperialismus und der NATO in dieser Region fangen nun an, eigene imperiale Interessen zu vertreten. Die Türkei, Saudi-Arabien und Katar wollen ihren Status als Regionalmächte erhöhen und sehen sich als Nutznießer der schwindenden US-Dominanz. Dies sind Folgen der Krise von 2007/08 und der gescheiterten US-Politik im Nahen und Mittleren Osten.

Konkurrenz und Neuaufteilung

Die alten imperialistischen Mächte USA, Japan, BRD, Großbritannien und Frankreich standen vor dem Scherbenhaufen ihrer Ordnung. Neue Herausforderer wie China kamen in den Kreis der  Großmächte. Ein neuer Wettlauf der imperialistischen Akteure ist die Folge.

In dieser Periode der Neuaufteilung der Welt tritt die Konkurrenz zwischen den imperialistischen Staaten noch offener auf. Jeder Marktzugang, jede Direktinvestition und jedes Handelsabkommen ist umkämpft, was den Kampf der jeweiligen (nationalen) Kapitalfraktionen gegeneinander aufzeigt.

Der Aufstieg der BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) oder als neuer „Kategorie“ der MINT-Staaten (Mexiko, Indonesien, Nigeria, Türkei) zeigt auf, dass es weiterhin nationale Kapitalfraktionen gibt, die in ihrer Rolle im imperialistischen System nicht endgültig festgelegt sind, sondern als Herausforderer, als Zukunftsmärkte, als „Partner“ o.ä. in dieser Periode der Neuaufteilung neue Rollen einnehmen können. Dass Finanzkapital, Monopolbildung u.a. Elemente der Leninschen Imperialismustheorie gerade heute wirksam sind, werden wir noch am Beispiel des deutschen Imperialismus darstellen. Hier soll festgehalten werden, dass trotz aller Vernetzung und gegenseitigen Beteiligung es natürlich weiter nationale Kapitalfraktionen und nationale Interessen gibt, dies ist gerade bei den aufsteigenden Nationalökonomien sichtbar.

Und so treten die „stellvertretenden“ Nationalstaaten für das und mit dem jeweiligen imperialistischen Kapital international in Konkurrenz zueinander, vertreten mit ihren politischen, juristischen und letztlich auch militärischen Apparaten die nationalen Kapitalinteressen auf globaler Ebene.

Die Kontrolle der Rohstoffversorgung, der Handelswege, der Ausbeutung der Arbeitskräfte und die Sicherung der jeweiligen Profite, wie auch der Marktzugang und der freie Kapitalverkehr (Direktinvestitionen) – das sind die wichtigen Ziele der imperialistischen Staaten und der jeweiligen Kapitalfraktionen.

Dies führt dann ebenso zu einer militärischen Aufrüstung der jeweiligen Nationalstaaten und Blöcke. Wenn heute ein Teil der „radikalen“ Linken Imperialismus auf Militarismus, Nationalismus und Krieg beschränkt wie auch historisch eher den Zeiten der Weltkriege zuordnet, so ist ihnen nicht klar, dass letztere in der imperialistischen Epoche zwangsläufig sind. Diese Epoche beginnt Ende des 19. Jahrhunderts, führte zu zwei Weltkriegen – und führt seit der Krise 2007/08 zur verschärften Konkurrenz, wovon militärische Aufrüstung, Bürgerkrieg und Krieg die logische Folge sind. Nur eine letztlich kriegerische „Lösung“ kann die entstandene imperialistische Konkurrenz um die Neuaufteilung der Welt beenden, wie schon zweimal in der Geschichte geschehen – dann ist zumindest mittelfristig wieder ein „Sieger“ gefunden, welcher dann die Märkte, Arbeitskräfte, Rohstoffe und die Profite der unterlegenen imperialistischen Kapitalfraktionen auf dem Weltmarkt übernimmt.

Aktuelle Konflikte

Wie schnell sich das imperialistische Gefüge ändern kann, zeigte der Konflikt um die Ukraine. So reduzierte sich auch die Teilnehmerzahl der „G 8“ auf „G 7“, kündigt die NATO die seit 1990 stattfindenden Abrüstungsgespräche mit Russland, und Putin wird im Wochentakt mit Hitler verglichen – so schnell kann’s gehen in der Konkurrenz der Weltmächte. Im Streben um die Vorherrschaft in der Ukraine waren USA und EU auf der einen und Russland auf der anderen Seite aufeinander gestoßen. Beide „Blöcke“ wollen die Ukraine als Markt integrieren und der „Westen“ hatte seit 2013 intensiv auf eine neue Regierung in der Ukraine hingearbeitet. Als Präsident Janukowitsch zwischen EU-Assoziierungsabkommen und Krediten aus Russland schwankte, machten USA und EU klar, dass ein Schwanken nicht akzeptiert wird. Gestützt auf Teile der ukrainischen Bourgeoisie und faschistische Fußtruppen wurde eine neue Regierung an die Macht geputscht und ein Bürgerkrieg gegen die BewohnerInnen der Ostukraine begonnen, welche sich gegen diesen Putsch und die faschistischen Milizen zur Wehr setzen.

So wurde ein Bürgerkrieg an der EU/NATO-Ostgrenze angezettelt, welcher kurzfristig einen neuen „Kalten Krieg“ mit Russland hervorruft. Dies geht einher mit gesteigerten Rüstungsanstrengungen: die NATO-Ostgrenze wird verstärkt, ein Raketenabwehrschirm wurde bereits installiert und nun werden die militärischen Kontingente aufgestockt. Dadurch wird mittel- und langfristig eine Blockbildung vorangetrieben werden. So entstehen neue Bündnisse, wie es derzeit zwischen Russland und China eine Annäherungen gibt.

Auf den globalen Märkten stehen sich die imperialistischen Kapitalfraktionen gegenüber, durch neue Bündnisse und alte Blöcke entstehen neue Fronten. Der deutsche Imperialismus hat in dieser Epoche immer zur Expansion gedrängt, mindestens die Unterwerfung Europas war immer das strategische Ziel des deutschen Kapitals. Davon ist abhängig, inwieweit der deutsche Imperialismus einen „Platz an der Sonne“ erobern kann.

B Stellung des deutschen Imperialismus in der globalen Konkurrenz

Die EU als „Hinterhof“?

Die Beherrschung der EU und des EURO-Raums ist die Voraussetzung für die globalen Ambitionen des deutschen Imperialismus. Die Bezeichnung „Hinterhof“ kennzeichnete den Aufstieg des US-Kapitalismus und die strategische Orientierung auf Lateinamerika. Dort sollte jeglicher europäische Einfluss unterbunden werden, natürlich mit dem „Hintergedanken“, dass somit die USA die vorherrschende Macht auf beiden Kontinenten werden sollten – „Amerika den Amerikanern“ galt als verkürztes Schlagwort dieser Politik.

Vom Gesichtspunkt des deutschen Imperialismus aus könnte heute der Slogan auf „Europa den Deutschen“ oder auch „Die EU muss deutscher werden“ lauten. Dabei ist die Bildung der EU, der gemeinsamen Währung EURO, des gemeinsamen Binnenmarktes und des Aufbaus einer EU-Bürokratie ein einmaliger Vorgang in dieser imperialistischen Epoche.

Verschiedene imperialistische Mächte und Kapitalfraktionen haben sich in dieser Epoche noch nie „friedlich“ geeinigt bzw. eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik gestaltet, erst recht nicht in Europa. Die Ansammlung imperialistischer Staaten in Europa war im Gegenteil zweimal in dieser Epoche Ausgangspunkt mörderischer imperialer Feldzüge.

Mit der Lissabon-Agenda von 2000 legten diese europäischen Kapitalfraktionen ein gemeinsames Programm gegen die ArbeiterInnenklasse Europas vor und eine Kampfansage an die imperialistischen Konkurrenten. In den Bereichen von Investitionen, Profitabilität und Umsatz soll die EU der führende Block des Globus werden, inklusive der Breite der beteiligten nationalen Kapitalfraktionen ein bisher einmaliges Experiment in der Geschichte des Imperialismus.

Seit der Schaffung des gemeinsamen Währungs- und Wirtschaftsraums ist das Bündnis des deutschen mit dem französischen Imperialismus elementar für die Stabilität der EU. So gibt es eine Tendenz zur Verbindung der beiden größten nationalen Industriekapitalfraktionen der EU inklusive ihrer politischen Marionetten zur herrschenden Kraft – sie tun dies aber gleichzeitig in einer Form, die nicht zur Herausbildung eines „supra-nationalen“ Kapitals führt, sondern in der Regel mit der Vorherrschaft eines nationalen Kapitals verbunden ist. Diese Verbindung bedeutet keine Verschmelzung des Kapitals, wenn auch einige strategische Sektoren dies getan haben, wie in der Pharma- und in der Luftfahrtbranche und teilweise in der Rüstungsindustrie, sondern die Kombination der strategischen Eigenschaften von Deutschland und Frankreich. In diesem Bündnis trifft die geballte industrielle Marktmacht des deutschen Kapitals mit den militärischen Fähigkeiten der Atommacht Frankreich zusammen. Dadurch lässt sich ein Binnenmarkt und teilweise eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik organisieren. Dieser Block ist hegemonial gegenüber den anderen Konkurrenten im EURO-Raum. Gemeinsam verfügen das deutsche und französische Kapital über die größten Monopolkonzerne und Großbanken; letztere sind eine weitere Stärke des französischen Imperialismus. Dieses strategische Bündnis ist auch eine Herausforderung innerhalb des westlichen Blocks, gerade gegenüber den USA und Großbritannien.

Andererseits sind es gerade die deutsch-französischen Beziehungen, die die größte Sprengkraft für die weitere Formierung der EU beinhalten, weil sie aufgrund des ökonomischen Übergewichts Deutschlands letztlich zu einer Unterordnung Frankreichs, als zweiter Führungsmacht der EU, also zur Unterordnung einer historisch gewachsenen imperialistischen Bourgeoisie führen müssen.

Als größter Konkurrent nicht im EURO-Raum, aber bis mindestens 2017 noch in der EU, verbleibt Großbritannien. 2017 wird es ein Referendum über die Mitgliedschaft in der EU geben, dies wird für das britische Kapital zur „Stunde der Wahrheit“. Ein Ausscheiden aus der EU würde einschneidende Konsequenzen haben, der britische Imperialismus wäre vom Kontinent zunächst abgekoppelt.

Diese Widersprüche begleiten die EU seit der Gründung des gemeinsamen Binnenmarktes und der Einführung der neuen Währung und haben sich in der „Schuldenkrise“ seit 2010 weiter zugespitzt. Dabei konnte der deutsche Imperialismus seine ökonomisch und politisch führende Rolle während der Krise behaupten und weiter ausbauen – auf Kosten der europäischen ArbeiterInnenklasse, aber auch auf Kosten der konkurrierenden Kapitale (inklusive des französischen und italienischen Imperialismus). Unter deutscher Führung wurden durch die „Achse“ Berlin-Paris-Brüssel massive Sozialangriffe durchgeführt, wie auch die EU-Bürokratie in diesem Sinne weiter ausgebaut wurde. So war es möglich, neue Regierungen im Interesse des Kapitals in Griechenland (2011) und Italien (2011 – 2013) zu installieren, welche von EZB- und EU-Spitzentechnokraten geführt wurden (Papademos und Monti). Dieses Schicksal widerfuhr auch der Syriza/ANEL-Regierung. Das letzte Memorandum hat Griechenland praktisch zu einem EU-Protektorat gemacht. Hier hat die EU-Bürokratie einen qualitativen „Sprung nach vorn“ gemacht.

Die deutsche Dominanz in der EU birgt in sich aber ebenso auch die Möglichkeit des Scheiterns dieses imperialistischen Projekts.

Krisenhafte Zuspitzung – welche Zukunft für die EU?

Ein Phänomen der aktuellen Krise ist der Aufstieg nationalistischer Kräfte in der EU; ebenso wie die Schuldenkrise ist dieser ein Beispiel für die innere Krise dieses imperialistischen Projektes.

Die Stärkung rechter/faschistischer und/oder populistischer Parteien in der EU ist einerseits der ökonomischen Krise der EU zu verdanken, ist aber auch eine Antwort der nationalen Kapitalfraktionen auf die Dominanz des deutschen Kapitals und seiner Regierung. Dass die Front National in Frankreich oder UKIP in Großbritannien stärkste Parteien bei den Europawahlen 2014 wurden, zeigt, dass Teile der jeweiligen Bourgeoisie wie auch radikalisierte Teile des Kleinbürgertums offen für nationalistische, rassistische und faschistische Antworten sind.

So gemeinsam die Interessen gegenüber der ArbeiterInnenklasse was die Kürzung von Löhnen, Sozialleistungen und Arbeitsrechten angeht, auch sein mögen, so unterschiedlich sind jedoch die immanenten Interessen jeder nationalen Kapitalfraktion in der EU, speziell der mit imperialistischem Anspruch. Dies begründet z.B. den strikt „antieuropäischen“ Kurs von FN und UKIP. Beide haben zuallererst den Fortbestand des eigenen Imperialismus im Sinn. Neben rassistischer Politik gegenüber Flüchtlingen zeichnet beide ein Schutzprogramm für das jeweilige Kapital aus. Der FN will den französischen Markt gegenüber der europäischen und US-Konkurrenz abschotten, somit speziell das kleine und mittlere Kapital schützen wie z.B. die französische Landwirtschaft.

Je stärker der Konkurrenzdruck und die Überlegenheit des deutschen Imperialismus werden, was z.B. 2013 fast zur Übernahme von Alstom durch Siemens geführt und damit den Verlust eines Trusts/Monopolunternehmens bedeutet hätte, desto stärker die nationalen Tendenzen des französischen Kapitals. Hier liegt der Knackpunkt für den Bestand von EURO und EU: in der strategischen Partnerschaft und letztlich ökonomischen Unterordnung des französischen unter den deutschen Imperialismus. Die französische Bourgeoisie hegte stets einen kontinentalen und afrikanisch-arabischen Führungsanspruch als europäische Großmacht. Historisch kollidierte dies zweimal mit dem deutschen Imperialismus. Nun stellt sich die Frage, inwieweit die Bourgeoisie der „Grande Nation“ von selbst darauf verzichtet.

Geschieht dies nicht freiwillig, liegt hier der Wendepunkt der deutschen Dominanz verankert. Dann würden das „Kerneuropa“ zerbrechen und zugleich neue Bündnisse und Blöcke in ökonomischer und politischer Konfrontation sich gegenüberstehen wie schon zweimal zuvor in der imperialistischen Epoche. Dann würden Konflikte wie heute in Mazedonien zu einer wiederholten Balkankrise führen, wie schon vor dem 1. Weltkrieg. Verschiedene europäische Bündnisse würden um die Vorherrschaft auf dem Kontinent ringen, Bürgerkrieg und Krieg Tür und Tor öffnen, wie auch schon die Zerstückelung Jugoslawiens nach 1990 die damalige Ausbreitung des deutschen Imperialismus inklusive der EG einleitete.

Gegenüber den konkurrierenden Kapitalfraktionen in der EU ist die aktuelle ökonomische Krise, welche zwischen Stagnation und Rezession für den EURO-Raum schwankt, der maßgebliche Standortvorteil des deutschen Kapitals. In dieser Lage ist es weder für das französische, italienische, spanische und erst recht nicht für das griechische Kapital verlockend, mit EURO, Binnenmarkt und EZB zu brechen. All dies, wie auch die EU-Austeritätsprogramme sind auch Standortvorteile dieser nationalen Kapitalfraktionen, wie auch der Zugang zum Weltmarkt mit der EU sich einfacher gestaltet.

In diesem Hinterhof sorgt die Krise für die Fortsetzung der Dominanz des deutschen Kapitals, welches selbst diesen Krisenzustand und die Schwächung der Konkurrenz benötigt, um die Führung zu behalten und die EU als Sprungbrett für die globalen Ambitionen zu benutzen.

Dieses scheinbar widersprüchliche Verhältnis innerhalb der EU und des EURO-Raums ist ein Spiegelbild der aktuellen Periode, der Neuaufteilung der Welt und die dadurch neu entfachte innerimperialistische Konkurrenz: entweder der aktuelle Hegemon stellt die Hackordnung zukünftig sicher oder die Konkurrenz bricht offen und letztlich kriegerisch aus.

Dabei muss der deutsche Imperialismus letztlich die Konfrontation mit den USA suchen, ein Unterfangen, was sowohl militärisch als auch ökonomisch ein enormes Risiko darstellt. Die globalen Ambitionen und Zwänge des deutschen Imperialismus müssen zwangsläufig auch das Verhältnis zum aktuellen Hegemon in Frage stellen und diesen auf den globalen Märkten herausfordern. Dies stellt auch das deutsche Kapital vor eine innere Zerreißprobe. Während auf der einen Seite das transatlantische Bündnis via TTIP (Transatlantisches Freihandelsabkommen), TISA (Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen) etc. ebenfalls Vorteile für das Großkapital bringt und via NATO das „westliche“ Militärbündnis weltweite Dominanz durchsetzen kann, so hemmt es auf der anderen Seite den expansiven Charakter des deutschen Imperialismus. Über die Beherrschung des EU-Binnenmarktes hinaus sind es nämlich die Märkte Zentral- und Ostasiens, welche in der nächsten Dekade die höchsten Profite versprechen und hier will das deutsche Großkapital eine entscheidende Rolle einnehmen.

Dies wiederum ist nur möglich, wenn die EU unter deutsch/französischer Führung mit anderen Partnern in Asien kooperiert und damit auch in Konkurrenz zum US-Imperialismus tritt. Ein Schritt in diese Richtung ist die Beteiligung an der Entwicklungsbank der BRIC-Staaten, welche von den USA richtigerweise als Konkurrenzorganisation zum IWF verstanden wird.

Die USA wiederum sind bemüht, ihren Einfluss in der EU und die EU als „Juniorpartner“ innerhalb von NATO, IWF, Weltbank und UNO zu halten. Dabei übernehmen Großbritannien, Polen und die baltischen Staaten ökonomisch und politisch die Rolle von „Stützpunkten“ der USA in der EU. Gerade in Polen und den baltischen Staaten ist diese Position aber stark umkämpft, das deutsche Monopolkapital ist sehr bemüht, diese Staaten und Märkte zu kontrollieren und dort den Einfluss der USA und Großbritanniens zu brechen bzw. zu schwächen.

Zum einen könnten diese Staaten den Ansatzpunkt eines „antideutschen“ Blocks in der EU darstellen, zum anderen direkt die politischen, militärischen und ökonomischen Interessen der USA in den EU-Gremien vertreten. Für den US-Imperialismus wäre es daher nicht günstig, wenn mit Großbritannien der engste Verbündete 2017 die EU verlässt, v.a. wenn Großbritannien allein austritt. Sollte es aber an der Spitze einer Koalition verschiedener austrittswilliger Staaten stehen, dann wäre das Projekt EU unter deutscher Führung gescheitert; der Schlüssel dazu liegt in Frankreich und Italien.

Sollten diese beiden Staaten und Kapitalfraktionen nicht mehr dem „deutschen Weg“ folgen, dann wäre eine Koalition mit Großbritannien das sicherste Ende dieser EU – Europa würde in ein Mosaik verschiedener Bündnisse und Blöcke zerbrechen, wie schon zuvor historisch geschehen.

Je mehr der deutsche Imperialismus die Unterwerfung der anderen nationalen Kapitale forciert, desto eher ist deren Ausscheren aus der EU zu erwarten. Die inneren Kräfte des deutschen Kapitals zwingen dieses, bei Strafe des Untergangs der EU genau diese Situation herbeizuführen. Dies kann durch das Erstarken nationalistischer und faschistischer Teile des Bürgertums geschehen, welche sich dann als Schutzpatrone der jeweiligen Bourgeoisie aufspielen und ihren nationalen Markt und ihre Wertschöpfungsketten vor dem deutschen Imperialismus schützen wollen.

Andererseits haben die fast 15 Jahre EURO-Raum unter deutsch/französischer Führung zur Expansion des EU-Binnenmarktes geführt und ein stabiles imperiales Regime via EU-Bürokratie aufgebaut. Die EU bleibt somit ein einmaliges Projekt in der Epoche des Imperialismus: die inneren Widersprüche und Gegensätze zeigen den Weg der Spaltung, die Realität des letzten Jahrzehnts wiederum bezeugt den Aufstieg des deutschen Imperialismus auf globaler Ebene.

Die EU – schwächstes Glied der Global Player

Das 1. Quartal des Jahres 2015 brachte zwar für die nach der BRD größten Volkswirtschaften ein Wachstum (Frankreich: 0,7%, Italien 0,1%, Spanien 2,6%), was sich aber relativiert, wenn man steigende Staatsverschuldung und ihr langfristiges Niveau berücksichtigt. Die EU-Kommission prognostiziert für Frankreich einen Anstieg der Bruttostaatsschulden für das laufende Jahr um 2,6% (74 Mrd. US-Dollar) bei nur 1% BIP-Wachstum (30 Mrd. US-Dollar). Im 1. Quartal 2015 legte das italienische BIP um mickrige 470 Mio. EURO zu, der gesamtstaatliche Schuldenberg aber um 65 Mrd. EURO. Im Mai 2015 belief sich der Bruttostaatsschuldenstand auf 2,22 Billionen EURO, also 137% der jährlichen Wirtschaftsleistung. Die industriellen Zuwächse der spanischen Volkswirtschaft beschränkten sich fast ausschließlich auf die Sparte Kraftfahrzeugproduktion – SEAT ist eine VW-Tochter. Alle anderen Bereiche stagnieren praktisch. Der Einbruch der spanischen industriellen Erzeugung von 2007 bis heute liegt bei 27%. Dieses Wachstum reicht nicht zum Schuldenabbau. Die EU-Kommission rechnet bis 2016 mit einem Anstieg der Staatsverschuldung auf 102% des BIP. Insgesamt schafften alle Länder der Eurozone 2014 eine Wachstumsrate von 0,8%, obwohl die EZB mittels einer sintflutartiger Geldschwemme die Zinsen auf einem historischen Tief hielt. Der EURO und die Energiepreise schwächelten, die Industrieproduktion vieler Euroländer bleibt weit unter ihren Höchstständen verharrt. Das homöopathische Wachstum dürfte sich ins Negative verkehren, wenn das weltwirtschaftliche konjunkturelle Umfeld, insbesondere der Volkswirtschaften der USA und  Chinas, sich weiter abschwächt. Im Juli 2015 brach der chinesische Export um 8,3% ein – schlimmer, als die Experten erwartet hatten.

Ohne die niedrigen Zinsen wären die Staatsschulden stärker gestiegen und die Exportchancen schlechter – die durch den niedrigen Außenwert des EURO begünstigt wurden. Die Niedrigzinspolitik begünstigt höhere Einkommensschichten, die von Aktienkursgewinnen und niedrigen Hypothekendarlehen profitieren, Ersparnisse und Lebensversicherungen des „Kleinen Mannes“ für die Altersvorsorge verlieren dagegen tendenziell an Wert.

Der auch von vielen linkskeynesianischen Ökonomen erhoffte Effekt des Kredithebels – die Ankurbelung von Erweiterungsinvestitionen – blieb aber aus. Zum einen geht die Angst vor einer neuen Rezession um, zum anderen haben Banken an Vertrauen verloren. Unternehmen suchen verstärkt nach alternativen Finanzierungswegen, die von den Zentralbanken indirekt gepuscht werden. Das billige Geld fließt in vermeintlich sichere Vermögenswerte wie Staatsanleihen, Aktien und Immobilien. Große Konzerne besorgen sich über neue Aktien Geld, das sie aber nicht real investieren, sondern als Finanzanlage nutzen.

Rudolf Hickel, einer der „alternativen“ Wirtschaftsweisen, fordert eine „deutliche Zinswende“. Höhere Zinssätze belasteten nicht die davon relativ unabhängige Kreditaufnahme der Wirtschaft. Vielmehr sei eine aktive Finanzpolitik mit staatlichen Ausgaben im Bereich der Investitionen und der Infrastruktur erforderlich. Wenn der Gaul der „aktiven Nachfragestimulierung“ totgeritten ist, muss der nächste aufgesattelt werden. Die Staatsschulden lassen Hickels Investitionsförderträume grüßen! Was dem Professor der Arbeitsgruppe „Alternative Wirtschaftspolitik“ (Memorandum-Gruppe) wie dem gesamten akademischen Halbmarxismus der linken SchülerInnen Keynes‘ entgeht: Geldpolitik und Zins sind nicht die Triebfedern kapitalistischen Wachstums, sie sind abgeleitete Phänomene der Mehrwertproduktion. Wenn in der Krise die Zinsen stärker fallen, als sie in der Erholung danach angehoben werden, wenn dies zudem über Jahre so bleibt, dann handelt es sich um eine ganze Periode verschärfter Überakkumulation. Im „Revolutionären Marxismus 39“ (2) haben wir diesen Zusammenhang ausführlich dargelegt. Die Eurozonenkrise ist ein schlagender Beweis dafür (3).

Sicher ist die EU weit von einer bürgerlichen Vereinigung Europas entfernt – ohne Russland, die Türkei, Schweiz u.a. Länder. Doch immerhin gehören 4 G7-Staaten (noch) zur EU, 3 sogar zur Eurozone. Nach dem 2. Weltkrieg war die Achse Deutschland-Frankreich Motor dieser kapitalistischen Einigung. Seit Beginn des imperialistischen Zeitalters bis zum Ende des 2. Weltkrieges waren beide Länder erbitterte Konkurrenten; die stabile imperialistische Achse in Europa bildete sich um Frankreich und Großbritannien. Die NAFTA ist zwar auch ein Wirtschaftsblock, den der US-amerikanische und kanadische Imperialismus dominieren. Aber die EU umfasst 28 Staaten, die Eurozone 19. Einen gemeinsamen Binnenmarkt, geschweige eine gemeinsame Währung, gibt es zudem nicht in der NAFTA.

Der EURO verkörpert einen historischen Kompromiss: Frankreich und Italien opferten Franc und Lira, weil sie attraktivere Standorte für Geldkapital wurden, das jetzt ohne Aufschlag für Währungsverlustrisiken ins Land gelockt oder dort gehalten werden konnte. Dafür sicherte sich im Gegenzug die BRD-Exportindustrie einen besseren Zugang zu deren Märkten aufgrund der wegfallenden Verteuerung der D-Mark im Vergleich zu Franc und Lira. Im Moment der EURO-Krise wird dieser Pakt brüchig. Frankreich und Italien sowie zahlreiche andere EURO-Länder geraten in strukturelle, chronische und v.a. unaufhaltsame Zahlungsbilanzdefizite. Die günstige Kapitalrefinanzierung, der Hauptvorteil für sie bei der Währungsunion (siehe oben), verliert ihren zündenden Effekt für diese Volkswirtschaften. Die BRD indes profitiert weiter vom im Vergleich zur „härteren“ D-Mark billigen EURO; ihre Industrie drückt ihre unmittelbaren Konkurrenten an die Wand. Dies ist der ökonomische Hintergrund der oben beschriebenen Zerreißprobe. Weil sich im gemeinsamen EURO-Währungsraum die Zahlungsungleichgewichte auf Seiten der unterlegenen Konkurrenten viel eher und direkter als bei der Dazwischenkunft sich ständig verändernder, gleitender Wechselkurse im steigenden Staatsdefizit niederschlagen, versteift sich die Bundesregierung auf die Bedienung derselben. Es ist diese sich öffnende Schere zwischen dem deutschen Hegemon und dem Rest, die dieser Periode des EURO-Gebiets ihren Stempel aufdrückt.

Während die allermeisten Linken darin nur eine zugespitzte staatliche Fiskalkrise sehen, für die die Troika zuständig ist (und das entspricht auch der Wahrheit, aber eben nur zum Teil), erkennen wir ihre Hauptkomponente darin, dass die Bedienung der Staatsschuld eine Fütterung des BRD-Exportgroßkapitals darstellt. Diese Quasi-Subvention erhält den EURO-Zone-Kapitalmahlstrom aufrecht. Die Drohung mit dem Grexit ist der zugespitzte Ausdruck dessen. Am wenigsten will Deutschland die Schwächung des Zusammenhalts innerhalb der Währungsunion. Aber das mag an einem gewissen Punkt das kleinere Übel sein als ein Schuldenschnitt, der andere Wackelkandidaten wie Spanien oder Italien mit in den Strudel reißen könnte.

Was wie Harakiri aussieht, ist also kalkulierte Politik des deutschen Imperialismus. Diese wird aber früher oder später an die Wand fahren, spätestens wenn Italien oder Frankreich in Griechenlands Fußstapfen treten. Als imperialistische, nationale Gesamtkapitale würden sie sich dem Druck einer gemeinsamen Währung mit ihm entziehen müssen – auf Gedeih und Verderb. Und der deutsche Imperialismus? Seine Widersprüche würden den gleichen Siedepunkt erreichen wie schon zweimal in der Geschichte. Er würde neue Allianzen v.a. außerhalb Europas schmieden und die globale „Ordnung“ durcheinanderwirbeln.

Das Beispiel Griechenland

Die Verhandlungen mit der Syriza/ANEL-Regierung haben gezeigt, was sich der deutsche Imperialismus unter einer Hackordnung in Europa vorstellt. Letztlich wurden gegenüber der griechischen Regierung alle Vorgaben der bestehenden Spardiktate durchgesetzt und weitere durch das jetzt vorgesehene 3. Kreditprogramm unter dem ESM (Europäischer Stabilitäts-Mechanismus) aufgedrückt.

Diese Verhandlungen und die Reaktionen aus Berlin und Brüssel auf die neue griechische Regierung zeigen, wie sich das deutsche Kapital Europa vorstellt. So hält es derzeit weiter den Finger am Abzug Richtung „Grexit“. Stellvertretend dürfen dies Schäuble und Teile der CDU/CSU-Fraktion tun, allein um zu beweisen, dass das deutsche Kapital sich in allem durchsetzen kann und dabei selbst den Rausschmiss eines Staates aus seinem EU-„Protektorat“ in Kauf nimmt.

Es ist eine eindeutige Kriegserklärung an das europäische Proletariat, an die europäischen Volksmassen, die hier vom deutschen Imperialismus und seinen Handlangern Merkel und Schäuble ausgesprochen und umgesetzt wurde. Egal, welche Regierung gewählt wird, egal welche anderen Konzepte diese umzusetzen beabsichtigt oder welche Volksabstimmungen diese abhält – am Ende diktiert Berlin via Brüssel die Bedingungen.

Im Fall Griechenlands ging die Bundesregierung sogar das Risiko eines Konflikts mit Frankreich ein, welches wie der IWF einen Schuldenschnitt wenn auch nicht gefordert, so doch zumindest angeboten hätte. In den Verhandlungen zeigte sich auch, dass die „deutschen Verbündeten“ in Skandinavien, Benelux und Osteuropa sitzen, welche vehement für Berlin instrumentalisiert wurden und den Grexit forderten.

Hinter der Wahl von Tsipras und erst recht mit dem OXI vom 5. Juli verbanden große Teile der griechischen ArbeiterInnenklasse die Hoffnung, die Spardiktate der EU abzulehnen und die schlimmsten Verwerfungen der letzten 5 Jahre vielleicht rückgängig zu machen. Manche sozialdemokratischen und reformistischen Träumer in der griechischen Regierung, allen voran Tsipras selbst, waren sogar der Ansicht, das Paradigma des Sparens in der EU-Politik zu ändern oder zumindest für Griechenland einen dementsprechenden Deal herausholen zu können. Ihnen allen wurde gezeigt, was das deutsche Kapital davon hält. Eine Änderung der aggressiven Spardiktate, der Ausplünderung der Sozialkassen und der Privatisierung der öffentlichen Unternehmen und Aufgaben ist nicht das Ziel des deutschen Kapitals wie auch der anderen europäischen Kapitalfraktionen – dies musste schon 2011 auch der französische Präsident Hollande  feststellen.

Für keynesianische Politik der Umverteilung gibt es in diesem Europa keinen Platz. Mehr Geld und Investitionen fließen nur in die Finanzmärkte oder dienen zur Sicherung der Absatzmärkte des Monopolkapitals – sie fließen aber nicht in Infrastruktur und öffentliche Arbeiten und schon gar nicht in Löhne und Kaufkraft.

Es ist das Ziel des deutschen Imperialismus, der europäischen ArbeiterInnenklasse eine strategische Niederlage zuzufügen. Dabei stehen natürlich die jeweiligen nationalen Kapitalfraktionen „Gewehr bei Fuß“, solange es darum geht, weitere Sozialangriffe gegen das Proletariat durchzusetzen.

Dieser deutsche Imperialismus wird nicht durch sozialdemokratische, reformistische, bürgerliche Regierungen und/oder (Arbeiter-) Parteien gestoppt. Diese dienen letztlich nur als Vollstrecker der aufgezwungenen Maßnahmen, wie jetzt auch die Syriza/ANEL-Regierung in Griechenland. Dieser Imperialismus kann nur durch den massenhaften Widerstand der europäischen ArbeiterInnenklasse gestoppt werden, und dazu brauchen wir speziell in Deutschland eine Belebung, eine Aktivierung klassenkämpferischer Politik gegen Kapital und Staat.

Es werden uns auch keine Beteuerungen der europäischen „Demokratie“ oder angeblicher „europäischer Werte“ helfen: diese Demokratie ist und bleibt eine Klassenherrschaft. Schon bei den technokratischen Regierungen von Papadimos und Monti in Griechenland und Italien hat der deutsche Imperialismus via EU-Bürokratie massiv eingewirkt und einen „regime change“ relativ geräuschlos veranstaltet.

Gegen den deutschen Imperialismus und dessen Rolle brauchen wir keine Beschwörungen der europäischen Demokratie und deren „Werte“ (also Kapital, Profit und Ausbeutung), sondern eine revolutionäre Klassenpolitik gegen Kapital, Staat und die reformistisch, bürgerliche Führung der Klasse. Wenn dies nicht geschieht, kann auch anderen Staaten und ArbeiterInnenklassen Europas das „griechische“ Schicksal drohen, nämlich als EU-Protektorat unter deutscher Knute. Das ist auch, was Schäuble mit „Kerneuropa“ und/oder „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ formuliert: Kerneuropa bestimmt und verwandelt die „Ränder“ zu Sonderwirtschaftszonen unter Kontrolle der deutsch/französischen Führung und deren Kapitale.

C Entwicklung des BRD-Imperialismus

Die Leninsche Definition

Die Krise 2007/08 und die nachfolgende Politik der imperialistischen Staaten zeigt, dass wir es mit dem Imperialismus gemäß der Definition durch Lenin und Trotzki zu tun haben, nicht mit einem postmodernen „Empire“ à la Hardt/Negri, das an frühere „Ultraimperialismus“-Theorien von Kautsky und Hilferding anknüpft. In diesem Zusammenhang war auch die Globalisierung „nur“ eine Etappe des Imperialismus, seiner Ausbreitung im globalen Maßstab. Das „Fit-Machen für die Globalisierung“ in der BRD war die Vorbereitung des deutschen Großkapitals auf globale Aufgaben, auf die globale Konkurrenz gegen andere Kapitalfraktionen. Diese Ausbreitung war möglich und nötig geworden durch die Beseitigung eines bis 1990 bestehenden Hindernisses für den Imperialismus, des „Ostblocks“, der Staaten des Warschauer Paktes. Hier war eine ganze Weltregion nicht dem kapitalistischen Wertgesetz unterworfen und konnte nicht unter den imperialistischen Fraktionen aufgeteilt werden. Dies geschah dann in den 90er Jahren mit der „Globalisierung“.

Wenn von einem Großteil der heutigen Linken der Imperialismus zumeist in die Zeit der Weltkriege verlegt oder/und mit der Kolonialzeit verbunden wird, so wird keine aktuelle Analyse betrieben über die Zusammenhänge zwischen Kapitalen und seinen Erscheinungsformen. Bekannt dürfte dagegen einigen noch die Definition Lenins sein, welche wir hier kurz zitieren:

„Doch sind allzu kurze Definitionen zwar bequem, denn sie fassen das Wichtigste zusammen, aber dennoch unzulänglich, sobald aus ihnen speziell die wesentlichen Züge der zu definierenden Erscheinung abgeleitet werden sollen. Deshalb muß man – ohne zu vergessen, daß alle Definitionen überhaupt nur bedingte und relative Bedeutung haben, da eine Definition niemals die allseitigen Zusammenhänge einer Erscheinung in ihrer vollen Entfaltung umfassen kann – eine solche Definition des Imperialismus geben, die folgende fünf seiner grundlegenden Merkmale enthalten würde: 1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, daß sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen; 2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses „Finanzkapitals“; 3. der Kapitalexport, zum Unterschied vom Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung; 4. es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen, und 5. die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet. Der Imperialismus ist der Kapitalismus auf jener Entwicklungsstufe, wo die Herrschaft der Monopole und des Finanzkapitals sich herausgebildet, der Kapitalexport hervorragende Bedeutung gewonnen, die Aufteilung der Welt durch die internationalen Trusts begonnen hat und die Aufteilung des gesamten Territoriums der Erde durch die größten kapitalistischen Länder abgeschlossen ist.“ (4)

Wie im Zitat ersichtlich haben Definitionen und Zustandsbeschreibungen immer einen relativen, von den allgemeinen Entwicklungstendenzen abhängigen Charakter. Ein zentrales Merkmal der  imperialistischen Epoche ist, dass die Welt unter den Großkapitalen und Großmächten aufgeteilt ist, dass eine Änderung ihres Kräfteverhältnisses und ihrer Entwicklungsdynamik früher oder später notwendig zu einem Kampf um die Neuaufteilung der Welt führen müssen. Die Überakkumulationskrise verschärft diese Tendenz nur.

Neue Konkurrenten fordern den imperialen Hegemon USA heraus, speziell China und die EU treten global in Konkurrenz zum US-Kapital. Viel Missverständliches wurde mit dem Begriff Monopolkapital betrieben, zumeist mit einer sehr engen sprachlichen Definition von Monopol. Wenn heute von Großkonzernen und deren Bedeutung und Stellung auf dem Weltmarkt gesprochen wird, so schließt dies direkt an die leninsche Definition an, wenn auch meist „unbewusst“. Es sind eben „monopolistische Kapitalistenverbände“, welche die zentralen Wirtschaftssektoren (Energie, Pharma, Rüstung, Automobil, Maschinenbau, Luftfahrt, Handel) unter sich aufgeteilt haben und den Markt bestimmen. Allein die 10 größten aufgeführten Konzerne der Welt (5) haben einen vergleichbaren Umsatz wie das BIP der BRD, ungefähr 3,5 Billionen EURO – dies ist konzentrierte Kapitalmacht.

Zum Monopolbegriff noch dies: die Studie über die internationale Kapitalverflechtung und Zugehörigkeit von der ETH Zürich (6) geht davon aus, dass letztlich 43.000 Unternehmen als internationale Großkonzerne identifiziert werden, darunter gibt es 1.318 Unternehmen, welche über Beteiligungen 80% dieser Großkonzerne kontrollieren. Innerhalb dieser 1.318 Megakonzerne existiert wiederum eine Konzentration des Kapitals, in der 147 Gigakonzerne – zumeist Banken, Versicherungen und Fonds – die Kontrolle über 40% aller weltweiten Großkonzerne ausüben: in dieser Größenordnung ist Monopolisierung zu verstehen. So ist auch der Begriff Finanzkapital zu verstehen, sicherlich einer der heute sehr verfälscht benutzten Begriffe aus der leninschen Definition.

Als Finanzkapital bezeichnete Lenin das „Verschmelzen“ von Industrie- und Bankkapital, die Entstehung einer „herrschenden Abteilung“ des Kapitals. Dort ballen sich die angehäuften Profite verschiedener Kapitalfraktionen inklusiv der aktuell angeworbenen Kredite – um als herrschende Abteilung die Geschicke des globalen Kapitalismus zu ordnen. Dabei kommt Banken und Versicherungen eine wichtige Rolle zu, schließlich bündeln hier oft die verschiedenen Kapitalfraktionen ihre Profite, Interessen und nächsten Unternehmungen, aber sie allein sind nicht das Finanzkapital. Dazu gehören z.B. auch die weltweit agierenden Fonds, welche teils „unabhängig“, teils in Kooperation mit den Großbanken agieren. Diese verwalten 2014 weltweit aktuell in den offiziellen Hegdefonds eine Summe von ca. 2,5 Bill. US-Dollar (7).

Der führende Fonds, die US-Gesellschaft Black Rock, wird als eine „Schattenbank“ bezeichnet (wikipedia), welche höchstwahrscheinlich allein Vermögenswerte von ca. 2 Billionen US-Dollar verwaltet, investiert und damit spekuliert – ein gutes Beispiel für einen Bestandteil der „herrschenden Abteilung“, für das real existierende Finanzkapital.

In Deutschland finden sich 2014 Vermögenswerte von 2,4 Billionen EURO in Hegdefonds, wovon 1,7 Bill. EURO von institutionellen Anlegern kommen (zumeist Banken und Konzerne), die restlichen 700 Mrd. EURO aber von privaten Anlegern investiert wurden. Jede nationale Kapitalfraktion und erst recht jedes imperialistisch agierende Kapital bildet diese Abteilungen seiner Wertschöpfung heraus, um im globalen Maßstab konkurrenzfähig zu sein.

Der von Lenin erwähnte „Couponschneiderkapitalismus“, welcher parasitäre Züge zeigt und auf den Niedergang dieser Phase des Kapitalismus hinweist, dieser „faulende Kapitalismus“ (Lenin) hat sich auf höherer Entwicklungsstufe etabliert. Nur reicht „faulend“ als Adjektiv für Kredite nicht mehr aus: diese sind seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/08 zu „toxischen“ Papieren und Krediten geworden, auch hier quasi eine quantitative und qualitative „Steigerung“ dieses letzten Stadiums des Kapitalismus.

Das deutsche Großkapital

In der traditionellen Zusammensetzung des deutschen Großkapitals gibt es bezüglich der Akteure eine große Kontinuität, es muss aber auch eine Formveränderung der „Deutschland AG“ verzeichnet werden. Als „Deutschland AG“ wurde die enge Vernetzung und gegenseitige Beteiligung der deutschen Großkonzerne bezeichnet: fast alle Sektoren und größeren Monopole standen untereinander in Verbindung, zumeist via Allianz-Versicherung und Deutsche Bank.

Grafik 1: Verflechtungen des deutschen Großkapitals 2006

Diese Verflechtung des deutschen Großkapitals hatte zum einen eine Schutzfunktion gegenüber Übernahmen durch andere Großkonzerne, zum anderen bereitete es die deutschen Konzerne auf die globale Konkurrenz vor. Fusionen wurden untereinander betrieben, wie der Aufbau von E.ON oder die Übernahme der Dresdner Bank durch die Allianz-Versicherung oder die Fusion von Porsche und VW. Dies war eine Epoche der Monopolisierung innerhalb des deutschen Großkapitals, dessen Elemente dann in der Globalisierung und heute während der Neuaufteilung der Märkte auf globalen Beutezug gegangen sind.

Im Vergleich zu 2006 fällt auf, dass sich die Sektoren des Großkapitals neu vernetzt haben, dass sowohl das Industrie- wie das Kredit-/Versicherungskapital sich untereinander neu aufgestellt haben. Weiterhin eine „Zentrale“ des deutschen Großkapitals bleibt die Allianz als größter Versicherungskonzern der Welt mit gestreuten Beteiligungen an verschiedenen Sektoren des Großkapitals.

Grafik 2: Deutschland AG 2010

Diese teilweise Aufsplittung des „Deutschland AG Netzwerks“ erleichterte den Monopolkonzernen, sich ungehindert auf dem Markt zu entfalten und zu expandieren. Gut gerüstet zogen Monopole wie VW, Telekom, Post und Siemens auf die internationalen Märkte und bauten ihre Stellung aus. Zu Zeiten der tieferen Vernetzung der Deutschland AG gab es dementsprechend auch mehr Entscheider auf Kapitalseite, was zwar vor feindlicher Übernahme besser schützen konnte, aber in expansiven Zeiten eben auch hinderlich sein kann. In Zeiten der tieferen Vernetzung erfüllte die Deutschland AG vor allem eine Schutzfunktion für die deutschen Monopole, die sich unter dem Netzwerk weiter zentralisiert haben, um dann „gestärkter“ in die internationale Konkurrenz eingreifen zu können.

Diese konzentrierte Marktmacht des Großkapitals lässt sich auch gegenüber dem deutschen Mittelstand darstellen. Dieser „Mittelstand“ ist eine besondere Entwicklungsstufe innerhalb des deutschen Industriekapitals, welche selbst Weltmarktführer und Unternehmen mit Milliardenumsätzen als Mittelstand bezeichnet, wobei speziell diese größeren mittelständischen Unternehmen immer eine starke Verbindung zu den jeweiligen Monopolkonzernen des Wirtschaftssektors haben. Die fünf größten deutschen Monopole (VW, Daimler, E.ON, Siemens, Metro) haben gemeinsam einen höheren Umsatz als alle 3,2 Millionen Kleinunternehmen zusammen.

Fügen wir den Kleinunternehmen noch die umsatzstärksten mittelständischen Unternehmen hinzu, so entspricht ihr Gesamtumsatz von über 2 Billionen Euro gerade den 100 größten Konzernen. (8) Die Deutsche Bank als größtes Finanzmonopol des deutschen Kapitals schaffte es 2014 mit einer Bilanzsumme von 2,078 Billionen US-Dollar auf Platz 12 der globalen Rangliste, innerhalb der EU reichte es für die Top 5.

Wir sehen aktuell auch eine Zunahme der Fusionen in Milliardenhöhe mit deutscher Beteiligung. 2014 war das Rekordjahr von Fusionen seit der Einführung des EURO. Insgesamt stehen 1.633 Fusionen und Übernahmen mit deutscher Beteiligung zu Buche, davon 934 (57%) mit Firmen aus dem Ausland. Der Wert der Fusionen stieg auf 237 Mrd. EURO, 20 Fusionen fanden in Milliardenhöhe statt. Innerhalb dieser „Mega-Fusionen“ war Bayer die Nr. 1, die vom US-Konzern Merck & Co. die Sparte rezeptfreier Medikamente erwarb und dafür 10,4 Mrd. EURO zahlte.

Auch weltweit war 2014 ein Jahr der Mega-Fusionen. Deren Gesamtsumme übertraf das bisherige Rekordjahr 2007 deutlich, mit 3,2 gegenüber 2,6 Bill. US-Dollar. Die Höchststände der Börsen, die Milliarden und Billionen billigen Geldes via „quantitive easing“ haben das Monopolkapital wieder „phantasievoll“ gemacht, wie es im Börsenjargon heißt. So günstig kam man selten an das fiktive Kapital und so gewinnbringend konnte selten verkauft werden in den letzten Jahren – ein neuer Run der Monopolisierung und Kapitalkonzentration ist im Gang. (9) All das ist auch ein eindrucksvoller Beleg für die Bedeutung des Kapitalexportes in der imperialistischen Epoche.

Marktmacht in Europa

In der EU verfügen die deutschen Monopole über eine dominante Stellung. Unter den Top-100-Gesellschaften Europas finden wir 18 deutsche Monopole, fast ein Fünftel des EU-Großkapitals ist unter „deutscher Flagge“ unterwegs. (10) Unter den Top 21 sieht es noch deutlicher aus: hier rangieren 7 deutsche Monopole, ein Drittel des europäischen Großkapitals steht also unter deutscher Kontrolle. Darunter finden sich viele „alte“ Bekannte, die seit der imperialistischen Epoche aktiv sind und daher auf diesem Sektor eine Konstante darstellen, unabhängig von der jeweiligen Staatsform.

Grafik 3 bietet eine Darstellung der Top 10 in Deutschland 2013. Europaweit müssen diese Konzerne noch um Bayer, Thyssen-Krupp, RWE, Continental, Lufthansa, Hochtief, Celesio und EnBw ergänzt werden. Hiermit haben wir den Kern des industriellen Exportkapitals benannt. Gemeinsam mit der Deutschen Bank, der Münchner Rück und dem Allianz-Konzern bilden sie das Herzstück des deutschen Finanzkapitals.

Diese konzentrierte Marktmacht sorgt auch für die stetigen Handelsbilanzüber-schüsse, welche seit der EURO-Einführung und des EU-Binnenmarktes massiv gestiegen sind und das Rückgrat des deutschen Imperialismus stellen.

Für 2013 und 2014 sind die Überschüsse mit 195 Mrd. EURO und 217 Mrd. EURO zu ergänzen (11), womit sich diese Kennziffer des deutschen Kapitals in den letzten 15 Jahren fast vervierfacht hat, während die Gesamtheit der Exporte (2013: 1.093 Mrd. EURO, 2014: 1.134 Mrd. EURO) sich „nur“ verdoppelt hat.

Grafik 3: Top Ten des deutschen Großkapitals

Grafik 4: Entwicklung des Außenhandels

Hier liegen die Basis für die ökonomische Beherrschung der EU wie das Risiko des Zerfalls nah beieinander. Zum einen kann die dominante deutsche Kapitalfraktion weiter in der EU die gegnerischen Kapitalfraktionen schwächen, einbinden oder aufkaufen – zum anderen liegt hierin aber auch der Schlüssel für einen möglichen Zerfall der EU, wenn nämlich die konkurrierenden Kapitalfraktionen das nicht mit sich machen lassen.

Diese Struktur ist auch der Grundstock dafür, was Lenin als „Extraprofit“ bezeichnet, „Extra“ in der Hinsicht, dass dieser über die Beherrschung und Infiltration internationaler Märkte angesammelt wird, das „heimische“ Großkapital stärkt und die Existenz der Arbeiteraristokratie begründet, für welche dann aus diesen Extraprofiten auch höhere Löhne und eine höhere soziale Stellung innerhalb der Klasse abfallen.

Aber dieser Extraprofit ist natürlich nicht allein für die deutschen Beschäftigten der Exportindustrie vorhanden, sondern in erster Linie für die besitzende Klasse. Und so wurde 2014 eine Rekorddividende der DAX-Konzerne in Höhe von 30,3 Mrd. EURO ausgeschüttet, welche 2015 die 40 Mrd.-Grenze sprengen wird, wie auch die Top-30 der börsennotierten Unternehmen einen Rekordgewinn von 109 Mrd. EURO einstrichen. Begleitet wurde dies auch von einem Börsenrun in den letzten Jahren: allein zwischen dem Krisenjahr 2009 und dem Endstand des DAX 2014 liegt ein Plus von 173% (12). Der DAX konnte sich bis 2015 zum Ausbruch der Griechenlandkrise halten und sogar auf neue Rekordstände klettern, ohne dass es einen signifikanten Aufschwung der Produktion gegeben hätte. Diese liegt erst seit 2012 wieder auf Vorkrisenniveau und wuchs seitdem nur langsam.

Allerdings konnte das deutsche Industriekapital seine Stellung auf Kosten der europäischen Konkurrenten ausbauen. Während in Frankreich, Italien und Großbritannien der Anteil der Industrie an der gesamten Wertschöpfung von 2003 bis 2013 gesunken ist, konnte das deutsche Industriekapital seinen Anteil von 24,5 auf 25,5% ausbauen. (13)

Über die Beherrschung der industriellen Wertschöpfungsketten im EU-Binnenmarkt kann das deutsche Finanzkapital vom Binnenmarkt aus globale Ambitionen umsetzen. Darüber gelingt es, ADI (Auslandsdirektinvestitionen) und damit einhergehend neue Wertschöpfungsketten global zu platzieren, speziell in den Märkten der zwei Hauptkonkurrenten USA und China.

D Prekarisierung und Umstrukturierung in der Klasse

Während in den südeuropäischen Staaten die Massenverarmung sehr zügig mit den Spardiktaten aus Brüssel und Berlin anstieg, können wir in der BRD eine Verarmung seit der Agenda 2010 und deren Einfluss auf den Arbeitsmarkt sowie seit den Auswirkungen der Krise 2007/08 feststellen. Während offiziell die Höchstbeschäftigung seit dem Anschluss der DDR mit 40 Millionen registrierter Beschäftigter bekanntgegeben wird, hat sich doch die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden nur unwesentlich verändert. Im Vergleich zum Jahr 2000 sind 2,75 Millionen neue Erwerbstätige registriert, aber mit 0,9% nur unwesentlich mehr Arbeitsstunden geleistet worden. Dies ist Folge einer „Prekarisierung“ neuer Schichten der Klasse, wie wir sie bereits im Revolutionären Marxismus 44 (14) dargestellt haben.

Zeit- und Leiharbeit, die „geringfügig Beschäftigten“, Mini-Selbstständige in siebenstelliger Anzahl und verschiedene befristete und begrenzte Jobs prägen heute den Arbeitsalltag vieler Beschäftigter in Deutschland. Die Agenda 2010 schuf die Grundlage für staatliche Zwangsarbeit via 1-EURO-Job, mit gleichzeitigem Aufbau der Zeit- und Leiharbeitsfirmen und deren formaler Berechtigung, Beschäftigte anzuheuern und auszuleihen, die moderne Form von Handel mit Arbeitskraft. Nach dem Einbruch während der Krise 2007/08 wurden fast 2 Mill. Beschäftigte in die Kurzarbeit transferiert. Die wenigsten von ihnen bekamen ihre alte Stelle und ihren vorherigen Lohn wieder. Die meisten wurden in die Frühverrentung mit gleichzeitigen Abschlägen und/oder in die Zeit- und Leiharbeit transferiert.

Grafik 5: Entwicklung der Teilzeitbeschäftigung

Diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass der Standort Deutschland in zwei Kategorien Spitzenreiter auf Kosten der Beschäftigten geworden ist. Kaum ein anderer Industriestandort konnte so erfolgreich die Lohn„neben“kosten senken, die Reallöhne auf dem Niveau von 2000 fast einfrieren (ein Plus der Kaufkraft von 1,2%) und gleichzeitig die durchschnittliche Produktivität seit dem Jahr 2000 um 14% steigern.

Wie die Spaltung in Voll- und Teilzeitstellen oder die 27,5 Stunden-Stellen speziell im Handel aufzeigen, ist es dem deutschen Kapital gelungen, die gleiche Arbeit auf mehr Hände und Köpfe zu weniger Lohn zu verteilen und damit auch die Konkurrenz innerhalb der Klasse weiter zu erhöhen.

So werden heute 42,6 Mill. Menschen als Beschäftigte aufgeführt, wovon allerdings nur noch 30,5 Millionen als „sozialversicherungspflichtig Beschäftigte“ geführt werden, also ein gutes Viertel der Beschäftigten keinen, wenig oder einen eingeschränkten Zugang zum Sozialversicherungssystem überhaupt hat. Selbst in den geschönten Statistiken der Bundesagentur werden über 7 Millionen als „atypisch Beschäftigte“ registriert, worunter dann auch „Mini-Jobber“, Aufstocker und v.a. junge und weibliche Teilzeitbeschäftigte aufgeführt sind. Dieser hohe Anteil des Niedriglohnsektors wird dann ergänzt um mehrere Ausgliederungen in die „Scheinselbstständigkeit“, welche von der AltenpflegerIn bis zum KurierfahrerIn für DHL oder zur ProgrammiererIn, den „FreelancerInnen“, reicht.

Diese Entwicklung hat im letzten Jahrzehnt zu einer Verarmung breiter Teile der Beschäftigten, aber auch zur weiteren Verarmung der Arbeitslosen geführt. 7,4 Millionen Menschen beziehen heute „soziale Leistungen“ – von Hartz IV und den Bedarfsgemeinschaften bis zur Sozialrente und ca. 1,4 Millionen „Aufstockern“. Diese Gruppe, welche unter direkter Armut leidet, wird ergänzt durch ca. 3,1 Millionen Beschäftigte, welche nicht von ihrer Arbeit leben können und als „working poor“ bezeichnet werden. Nach den Berechnungen der EU gelten Menschen in Deutschland als arm, wenn sie mit weniger als 60% des Median-Einkommens (eine Art Durchschnittseinkommen) auskommen müssen. Dieser Wert liegt bei 1-Personen-Haushalten bei 979 Euro brutto monatlich. Danach werden heute 16,4 Millionen Menschen (20,3% der Bevölkerung) als von Armut und/oder sozialer Ausgrenzung Betroffene in dieser Statistik geführt.

Während weitere Schichten der ArbeiterInnenklasse in Prekarität und Armut gedrängt werden, mästet sich auf der anderen Seite die deutsche Bourgeoisie. Über 1 Million Einkommensmillionäre, 126 aufgeführte Milliardäre und 12 milliardenschwere Familienclans verfügen zusammen mit den restlichen oberen 10% über 66,6% des gesamten Vermögens in Deutschland. Das reichste Prozent darunter verfügt über 36% des Gesamtvermögens (inkl. Aktien und Immobilien) und 45% des Geldvermögens.

Hier werden Kapitalismus und Bourgeoisie ganz real greifbar: auch wenn „antideutsche“ Strömungen dies als verkürzte Kapitalismuskritik hinstellen, ist es soziale Realität. Der Burda-Clan hinter Bertelsmann, Familie Springer mit dem gleichnamigen Verlag, die Quandts, die Mohns, Albrechts, Schwarz‘ etc. bestimmen hierzulande Industrie, Medien und Politik – das ist die Wahrheit hinter der demokratischen Fassade. Und so sollten auch „Linksradikale“ und Co. wissen, was die Bourgeoisie ist, wer dazu gehört und was somit auch Kapitalmacht bedeutet. Das ist nicht verkürzt, das ist Klassenanalyse.

Bis 2016 (Bund) und 2019 (Länder und Kommunen) gilt überall die so genannte Schuldenbremse, welche von CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen 2009 verabschiedet wurde. Danach ist es allen staatlichen Gliederungen verboten, neue Schulden aufzunehmen, was speziell für die Kommunen eine Katastrophe bedeutet. Schon heute sind hunderte Kommunen unter Zwangsverwaltung, dort bekommt die Kommune quasi vom Land ihre eigene kleine „Troika“. Das Hauptaugenmerk liegt dann auf dem Ausverkauf der öffentlichen Güter, Unternehmen und Dienstleistungen, welche dem deutschen Kapital geliefert werden sollen. So hat die Bertelsmann-Gruppe mit der Tochterfirma Arvato schon eine Firma für die öffentliche Verwaltung gegründet. Diese steht bereit, die kommunalen Rathäuser zu übernehmen. Dort wird ein Markt von 20 Mrd. EURO erwartet. Bertelsmann hat, wie auch die Beraterfirma Ernst & Young, umfassende Studien zum Ausverkauf des öffentlichen Dienstes und öffentlicher Leistungen veröffentlicht. Hier wird nach neoliberalem Duktus der Ausverkauf organisiert.

Agenda 2010: ein wichtiger Sieg des deutschen Kapitals

Mit der 2. Legislaturperiode der Schröder/Fischer-Regierung stellten Staat und Kapital sich der Herausforderung, Deutschland „fit für die Globalisierung“ zu machen. Für die Initiatoren der „Agenda 2010“, dem Arbeit„geber“verband Gesamtmetall und der ISM (Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft) lag der Fokus auf der Zerschlagung der bisherigen Sozialsysteme, wie sie die so genannte „Soziale Marktwirtschaft“ hervorgebracht hatte. In der ISM fanden sich Vertreter aller Kapitalfraktionen, welche gemeinsam die erneute rot-grüne Bundesregierung auf Kurs brachten. Zwar hatte sich Kanzler Schröder vom Parteivorsitzenden und Finanzminister Lafontaine in der ersten Legislatur getrennt; jetzt sollten aber Taten im Sinne des deutschen Großkapitals folgen.

Vor dem Hintergrund einer relativ sichtbaren Massenarbeitslosigkeit, offiziell über 4 Millionen, wurde der schwerste Angriff auf die Rechte und Ansprüche der deutschen ArbeiterInnenklasse in der Geschichte der BRD gestartet.

Im „Revolutionärer Marxismus“ 44 haben wir fast die gesamte Ausgabe dem 10jährigen „Jubiläum“ von Agenda 2010 und Hartz IV gewidmet, diesen RM legen wir auch allen LeserInnen ans Herz für dieses spezifische Thema.

Hier müssen wir zusammenfassen, inwieweit die Agenda 2010 für den deutschen Imperialismus ein wichtiges Instrument war, welche Auswirkungen bis heute das deutsche Kapital stärken und welche Schlussfolgerungen daraus für die ArbeiterInnenbewegung, ihre Organisationen und ihre Kampfmittel und Fähigkeiten zu ziehen sind.

Für das deutsche Kapital ist die Agenda 2010 der strategische Erfolg der letzten Periode. Neben massiven Kürzungen des Arbeitslosengeldes, der faktischen Abschaffung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe bzw. deren Zusammenlegung als Arbeitslosengeld II wurde ein massiver sozialer Kahlschlag von der Schröder/Fischer-Regierung exekutiert. Die Zumutbarkeitsregelungen für Arbeitslose wurden abgeschafft, seitdem werden Arbeitslose unabhängig von ihrer Qualifikation zum Verkauf ihrer Arbeitskraft gezwungen.

„Fördern und Fordern“ hieß damals die Zauberformel, unter der SPD-Fraktionschef Müntefering diese Agenda der Partei und den WählerInnen vermittelte. Auch Formeln à la „sozial ist, was Arbeit schafft“ oder „wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ begleiteten diesen Sozialangriff. Hier wurde der schwerste soziale Angriff in der Geschichte der BRD durchgeführt, den das deutsche Kapital der Vorgängerregierung unter Kohl nicht mehr zugetraut hatte.

Gleichzeitig wurde eine massive ideologische Offensive von Kapital und Staat gestartet, welche seitdem in vielen Bereichen anhält. Die Arbeitslosen und Hartz IV-EmpfängerInnen wurden einer neoliberalen Propaganda ausgesetzt, welche das Primat der Verwertbarkeit in Boulevard- oder „seriösen“ Medien auf die Titelseiten brachte. Speziell die Arbeitslosen werden seitdem einem generellen Missbrauchsverdacht ausgesetzt. Sind sie dann noch MigrantInnen oder Flüchtlinge, fallen soziale und rassistische Hetze in eins.

Dies hat die soziale und ideologische Spaltung der deutschen ArbeiterInnenklasse vertieft. Speziell zwischen den unteren Schichten der Klasse und den Arbeitslosen wie auch den MigrantInnen und Flüchtlingen ist ein Nährboden für ein rassistisches Bewusstsein entstanden.

Niedriglohnbereich wird installiert

Dieser Sozialangriff hatte zur Folge, dass ein Niedriglohnbereich in der BRD entstand, welcher heute fast ein Viertel (ca. 10 Millionen) aller Beschäftigten umfasst. Über den 1-EURO-Job per Hartz IV und die Zeit- und Leiharbeitssektoren, welche vom Staat zugelassen und gefördert wurden stieg dieser Niedriglohnbereich kontinuierlich an. Als Folge dessen gab es fast 10 Jahre lang keinen Reallohnzuwachs für die deutschen Beschäftigten, wie auch die Lohnnebenkosten fürs Kapital geringer ausfielen und ihre Beiträge zur Sozialversicherung (z.B. Krankenversicherung) festgeschrieben wurden. Das Gleiche gilt auch für die begonnene Privatisierung der staatlichen und betrieblichen Rente, welche vom ehemaligen Arbeitsminister Riester (SPD) speziell für die industriellen Kernbelegschaften vorgelegt wurde.

Die Losung „fit für die Globalisierung“ wurde vom deutschen Großkapital umgesetzt. Nach diesem Sozialangriff waren die Lohnstückkosten der deutschen Industrie wieder mit Abstand die niedrigsten im Vergleich zu den europäischen Konkurrenten (siehe Grafik „Lohnstückkosten“) und im Mittelfeld der OECD-Staaten angesiedelt. Hier wurde die Basis für die Beherrschung des EURO-Marktes, für einen stetig steigenden Handelsbilanzüberschuss (speziell gegenüber dem EURO-Raum) gelegt.

Grafik 6: Erwerbstätige Hartz-IV-BezieherInnen

Grafik 7: Lohnstückkosten im Vergleich

Der Einstieg in den (Massen-)Niedriglohnbereich wirkte auf das gesamte Lohnniveau des deutschen Arbeitsmarkts. Der 1-EURO-Job wurde im EURO-Raum zur niedrigsten Messlatte zur Wiederbeschäftigung von Arbeitslosen, und die Möglichkeit zur kompletten Kürzung der Sozialleistungen war einmalig in der Geschichte der BRD nach dem 2. Weltkrieg.

So sehr dieser Sozialangriff den Interessen des deutschen Kapitals entsprach, seine globalen Ambitionen verstärkter wahrnehmen zu können, so sehr schwächte es auch die sozialdemokratischen Organisationen der ArbeiterInnenbewegung in Deutschland. Die SPD als bürgerliche Arbeiterpartei, die v.a. über die DGB-Gewerkschaften in der Klasse verankert ist, setzte bürgerliche Politik nicht nur um, sondern „verübte“ den schwersten Angriff auf die sozialen Errungenschaften eben dieser Klasse. Ein Resultat davon war der Austritt von Teilen der DGB-Gewerkschaftsmitglieder und einfacher bis mittlerer FunktionärInnen aus der SPD, was zur Gründung der WASG und später infolge der Fusion mit der PDS zur Linkspartei führte.

In den 7 Jahren der Regierung Schröder/Fischer verlor die SPD fast die Hälfte ihrer Mitglieder (ca. 500.000) und ist seitdem nur noch als „Juniorpartner“ der CDU/CSU in „Großen Koalitionen“ vorstellbar.

Ihre Verankerung in der ArbeiterInnenklasse hat schwerere Schäden erlitten, der eigene Anspruch einer „linken Volkspartei“ ist kaum noch vermittelbar. Verankert ist die SPD heute über die DGB-Gewerkschaften, über jene Teile der Stammbelegschaften des deutschen Großkapitals, welche nicht direkt mittels Agenda 2010 und Hartz IV angegriffen wurden.

Die SPD als bürgerliche Arbeiterpartei, welche die Ideologie und Programmatik des Kapitals in der ArbeiterInnenklasse vertritt, hatte mit der Agenda 2010 ihren Dienst am „Standort Deutschland“ geleistet. Das Credo „fit machen für die Globalisierung“ zeigte genau ihre Funktion als bürgerliche ArbeiterInnenpartei auf. Die Ideologie des Sozialabbaus, die weitergehende Spaltung der Klasse wurde durch die SPD und die DGB-Gewerkschaften in die Klasse getragen. Damit wurden die wenigen Proteste und Solidaritätsaktionen innerhalb der Klasse untergraben, der Widerstand letztlich eingestellt, kam die bürgerliche Arbeiterpartei ihrer Hauptaufgabe im Sinne des deutschen Kapitals nach.

Standortvorteil DGB-Gewerkschaften

Ihre Rolle als „Co-Management“ haben die DGB-Gewerkschaften historisch bewiesen: als „verlängerter“ Arm der Interessen des Großkapitals hat die SPD-dominierte Gewerkschaftsbürokratie Ideologie und Praxis der Standortpartnerschaft und des Sozialchauvinismus ins Bewusstsein der Klasse eingehämmert. So geschehen auch bei der Verabschiedung der Agenda 2010 und bei den Folgen der Weltwirtschaftskrise 2007/08.

Die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze wurden unter Mitwirkung der DGB-Spitzen verabschiedet. Der damalige IGM-Chef Zwickel genehmigte als Aufsichtsratsmitglied bei VW das 5000 x 5000-Modell, welches mit dem damaligen VW-Personalchef Hartz ausgearbeitet wurde und einen Einbruch ins Tarifgefüge darstellte. Als Kanzler Schröder seine „Ruck“-Rede im Bundestag hielt und der schwerste Angriff auf die Sozialsysteme der BRD bevorstand, waren es v.a. die Gewerkschaftsspitzen, die die „Genossen“ Schröder, Clement und Müntefering – und damit diese Bundesregierung – gegen den Wählerwillen schützten.

Es waren „Montagsdemos“, welche zunächst im Osten Deutschlands bis zu Hunderttausende auf die Straßen brachten, es waren Gliederungen der Vertrauensleute der Betriebe und die mittleren Ebenen in den Gewerkschaften und viele politische Akteure, die im November 2003 100.000 Demonstrierende in Berlin gegen diesen Angriff mobilisierten. Als dann aber auch in zahlreichen westdeutschen Städten die Mobilisierung anwuchs, distanzierten sich die DGB-Gewerkschaften per Vorstandsbeschluss von diesem Widerstand gegen die Agenda 2010. Als Begründung durfte eine mögliche Beteiligung von Nazis an den Montagsdemos herhalten. Dies zeigt zwar auch, wie sich DGB-Gewerkschaften den antifaschistischen Kampf vorstellen, genügte aber als „Argument“ für den Rückzug. Danach durften gewerkschaftlich Aktive nur noch als Privatpersonen an den Montagsdemos teilnehmen und nicht in ihrer Organisationsfunktion.

Offiziell hatte der DGB dann im April 2004 eine Großdemo in Berlin mit etwa 250.000 TeilnehmerInnen zum Ausklingen der Proteste benutzt. Danach gab es nur noch Unterschriftensammlungen.

Der DGB-Vorstand unterstützte die SPD-Spitzen beim schwersten Sozialangriff der BRD-Geschichte und bewies erneut das unzertrennliche Band zwischen diesen beiden reformistischen Schwergewichten der deutschen ArbeiterInnenbewegung. Die Gewerkschaften betrieben dabei eine ganz konkrete Spaltung, indem sie die Beschäftigten gegen die Arbeitslosen in Stellung brachten und sich nicht mehr für die Arbeitslosen zuständig sahen. So konnte der damalige „Superminister“ Clement jede Hetze gegen die „Sozialschmarotzer“ ungestraft durchs Land tragen, wie auch später Kurt Beck Hartz IV-EmpfängerInnen Empfehlungen zur Körperhygiene geben konnte oder der „ewige Sozialleistungsempfänger“ Sarrazin mit einem eigentlich faschistoiden Verständnis von Sozialpolitik weiter munter in der SPD wirken durfte. Von den Gewerkschaften hatte die SPD nichts zu befürchten, auch sie hatten ebenso den Arbeitslosen jegliche Solidarität aufgekündigt.

Aber auch mit Streikbewegungen zu dieser Zeit wurde keine Solidarität gezeigt. So wurde auch der Streik in Ostdeutschland für die 35-Std.-Woche von den westdeutschen Gewerkschaftsapparaten und Betriebsratsfürsten verraten. Nachdem der Streik auch den westdeutschen Standorten gefährlich wurde, also der eigentliche Sinn und Zweck des Streiks die gesamte Industrie, speziell die Automobilbranche, traf, kündigte die IGM-Spitze in Gewerkschaft und Betrieb die Solidarität auf.

Alte Binsenwahrheiten – neu aufgetischt in der Krise

Solange es „meiner“ Firma gut geht, geht’s mir auch gut und Arbeitsplatzsicherheit ist das Wichtigste bei den Tarifverhandlungen – so und ähnlich haben die DGB-Gewerkschaften das Bewusstsein ihrer Mitglieder geformt und in den letzten 10 Jahren diese reformistischen Leitsätze immer wieder erneuert. Beim Standort Deutschland trieb die angebliche Angst vor Firmenverlagerung die Betriebsräte und Gewerkschaftsspitzen in die Umsetzung der Agenda 2010 und dies wurde auch den Beschäftigten so vermittelt – teilweise auch über Tarifverträge, die die Produktivitätssteigerung schon im Abschluss stehen hatten (VW), damit auf alle Fälle die Konkurrenzfähigkeit erhalten blieb.

Dem Diktat der Sozialpartnerschaft folgten dann die DGB-Spitzen auch bei Ausbruch der Wirtschaftskrise 2007/08. Hier gingen die IGM und ver.di voran, indem sie in den Tarifverhandlungen erst gar keine Lohnforderungen aufstellten, sondern allein die mögliche Arbeitsplatzsicherheit in den Fokus rückten. Hiermit wurde den deutschen gewerkschaftlich organisierten Kernbelegschaften jedes Kampfmittel gegen die kapitalistische Krise aus den Händen genommen. Statt gegen Krise und Entlassungen zu kämpfen, haben die DGB-Gewerkschaften sich freiwillig den Diktaten des Kapitals unterworfen.

Speziell der damalige IGM-Vorsitzende Huber fungierte als Co-Manager der ersten Reihe. Die so genannte „Abwrackprämie/Umweltprämie“, welche vom IGM-Vorstand mit erdacht wurde, sicherte zunächst der deutschen Autoindustrie einen höheren Absatz im Heimatmarkt. Im größeren Maßstab wurde dann die KurzarbeiterInnenregelung zwischen Staat, Kapital und Gewerkschaft verabschiedet, welche zeitweise bis zu 1,5 Mill. Beschäftigte einschloss und die vormaligen 12 Mrd. EURO an Reserven der Arbeitslosenversicherung dafür plünderte.

Die staatlichen Sozialsysteme wurden für das Versagen der „Märkte“ angezapft, ein in der Krise oftmals erlebtes Verfahren, in Deutschland aber mit direkter Unterstützung und Billigung der DGB-Gewerkschaften. Die in die Kurzarbeit entlassenen Beschäftigten waren oftmals Ältere, welche nach 2009 nicht in das alte Arbeitsverhältnis übernommen und stattdessen in Leiharbeit und/oder Frührente abgeschoben wurden.

Dies war, wie auch die Agenda 2010, eine einschneidende Veränderung am deutschen Arbeitsmarkt zu Lasten der Beschäftigten. In beiden Fällen haben die DGB-Spitzen keinen Widerstand dagegen organisiert, sondern im Gegenteil den Verrat als „Sozialpartner“ noch mitgestaltet. Diese Umstrukturierungen der Arbeitsbeziehungen – die Implementierung des Niedriglohnbereichs, das Opfern der Arbeitslosenkassen für die Kurzarbeit – sind wichtige Stützpfeiler der Konkurrenzfähigkeit des deutschen Imperialismus des letzten Jahrzehntes gewesen.

Es soll hier nicht der Eindruck entstehen, als wäre dies ein entschiedener Schritt der DGB-Gewerkschaften nach „rechts“ gewesen, der sie endgültig und unwiderruflich in „gelbe“ Streikbrecherorganisationen, gehorsame Hofhunde der Unternehmerverbände verwandelt hätte. Er war, wie schon zuvor in der wechselvollen Geschichte der deutschen ArbeiterInnenbewegung, ein weiterer Ausdruck des Gehorsams, ein weiterer „Burgfrieden“ mit den Interessen des deutschen Imperialismus auf Grundlage reformistisch geführter Klassenorganisation der ArbeiterInnenschaft selbst.

Das Comeback der „NovemberverbrecherInnen“ ist immer möglich

Zweimal strebte der deutsche Imperialismus mit globalen Ambitionen in die Katastrophe. Die deutsche ArbeiterInnenklasse wurde in zwei Weltkriegen verheizt, von der reformistischen SPD für Imperialismus und Krieg mobilisiert, von der stalino-zentristischen KPD gegenüber Hitler politisch entwaffnet, in die kampflose Kapitulation geführt und schon gar nicht für den revolutionären Kampf gewappnet. Trotz alledem gelang es der deutschen ArbeiterInnenklasse im 1. Weltkrieg, mit Kapital und Kaiser zu brechen, deren Krieg zu beenden und das verrottete Regime zu stürzen. Es waren die Matrosen von Wilhelmshaven und Kiel und die deutschen MetallarbeiterInnen in Berlin, Sachsen und Bremen, welche den Befehl verweigerten, den Streik gegen Krieg, Rüstung und Hunger organisierten und somit den Weltkrieg beendeten.

Es war die relative Schwäche der revolutionären kommunistischen Bewegung, des Spartakusbundes, welche zur Niederlage gegenüber der Mehrheits-SPD führte. Diese stützte sich auf ein Bündnis mit der Bourgeoisie und in letzter Instanz den reaktionären Freikorps, die blutig die revolutionäre Bewegung zerschlugen. Die KPD verkörperte die organisatorische Fortsetzung der im Spartakusbund, in den Bremer und Braunschweiger Linksradikalen, der Berliner Lichtstrahlen-Gruppe u.ä. versammelten revolutionären Kräfte.

Die zweite Niederlage des deutschen Imperialismus im 2. Weltkrieg führte zur Bildung eines bürokratischen Arbeiterstaates auf dem Gebiet der DDR, welcher erstmals das Privateigentum an Produktionsmitteln und das kapitalistische Wertgesetz in Deutschland aufhob und somit einen qualitativen Bruch mit dem deutschen Imperialismus darstellte.

Dieser kurze Blick in die Geschichte zeigt, dass der Bruch mit dem Imperialismus und dessen Partei in der ArbeiterInnenklasse, der SPD, möglich war – auch in Deutschland – und dort die revolutionären Elemente der Klasse eine qualitative Entwicklung durchmachten und eine revolutionäre Partei und Programmatik entwickelten. Diese historischen Abschnitte sollen aber nicht nahelegen, dass wir etwa auf den nächsten Zusammenbruch zu warten hätten, um  revolutionäre Politik machen zu können.

Stattdessen müssen heute KommunistInnen, AntikapitalistInnen und alle, die subjektiv mit dem Kapitalismus brechen wollen, sich mit den Haupthindernissen innerhalb der Klasse und deren Bewegung auseinandersetzen, den programmatischen Kampf führen und den politischen Bruch herbeiführen. Dann können auch in „Friedenszeiten“ die NovemberverbrecherInnen dem deutschen Imperialismus den Kampf ansagen.

Kampf dem Reformismus!

Für jede revolutionäre Politik ist der politische Kampf gegen den Reformismus in Deutschland und dessen Organisationen die Grundvoraussetzung. Seit Januar 2005 gab es, nach Verabschiedung der Agenda 2010 durch die SPD/Grüne-Bundesregierung, die zweite Abspaltung in der langen Geschichte der SPD, die WASG – aus der nach deren Fusion mit der PDS 2007 schließlich die Linkspartei hervorging. Letztere hat gegen Agenda 2010 inklusiv Hartz IV, Auslandseinsätze der Bundeswehr und für die Besteuerung großer Vermögen Opposition von links in den Gewerkschaften organisiert, damit Teile ihrer Basis und der der SPD erreichen können und stellt heute einen weiteren reformistischen Faktor in der deutschen ArbeiterInnenbewegung dar.

Der politische Kampf gegen den Reformismus funktioniert nicht durch ablehnende Phrasen und/oder Verteufelung der DGB-Gewerkschaftspolitik. Dieses Kapitel der kommunistischen Bewegung hatte die KPD bis 1933 bis zum eigenen Ende und bis zum Ende einer organisierten Gegenwehr der deutschen ArbeiterInnenbe-wegung gegen den Faschismus exerziert.

Auch die Wende zur Arbeit innerhalb der DGB-Gewerkschaften bei einigen mao-stalinistischen „Parteien“ (Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD, MLPD) führte nicht zur Schwächung der SPD-geführten Gewerkschaftsbürokratie, sondern vielmehr zum „geduldeten“ Unterordnen dieser „Parteien“ unter dem Dach der „Einheitsgewerkschaft“. So sind heute die DKP und MLPD sicherlich nach SPD und Linkspartei die am stärksten verankerten Organisationen der Klasse innerhalb der DGB-Gewerkschaften. Im Fall der MLPD kommt noch der „Unvereinbarkeits-beschluss“ der IGM dazu, was die GenossInnen an der Ausübung höherer Funktionen im Gewerkschaftsapparat hindert.

Während die MLPD, wie bei Opel Bochum, eher isolierte Aktionen und Kämpfe bestreitet, ist die DKP mit ihrer Gewerkschaftspolitik ebenfalls weit davon entfernt, die Gewerkschaftsführung herauszufordern. Beide beteiligen sich kaum an den kleinen oppositionellen Strömungen wie der IVG (Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken), betreiben keine oppositionelle Politik in den Gewerkschaften und akzeptieren dadurch de facto die politische Gemengelage in den DGB-Gewerkschaften.

Hier liegt aber einer der zentralen Punkte im deutschen Klassenkampf: wenn der Reformismus, die Standortpolitik, die Führung der bürgerlichen Arbeiterpartei SPD in den DGB-Gewerkschaften nicht bekämpft werden, dann gelingt auch kein qualitativer Bruch mit dieser vorherrschenden Ideologie in der deutschen ArbeiterInnenklasse.

Wie ein solcher Kampf vonstatten gehen könnte, zeigen die Tarifrunden der Jahre 2014/15. Eine klassenkämpferische Basisopposition hätte in den DGB-Gewerkschaften für die Solidarität mit dem GdL-Streik eintreten und dabei den Widerstand gegen das „Tarifeinheitsgesetz“ in den eigenen Reihen stärken können. So wäre auch der Charakter der SPD-Regierungsbeteiligung aufzeigbar gewesen. „Gegen die Einschränkung des Streikrechts!“ wäre eine wichtige Kampagne gegen die SPD-geführte Gewerkschaftsführung gewesen.

So blieben die Proteste und öffentlichen Aktionen meist auf die Kreise beschränkt, die schon 2011 gegen die Tarifeinheit aktiv waren. Ihr Höhepunkt war eine politisch und gewerkschaftlich vielfältige Demo Mitte Mai mit ca. 500 TeilnehmerInnen.

Dies wäre ein gewerkschaftspolitisch sehr wichtiges Thema für eine Basisopposition in den DGB-Gewerkschaften, genau wie diese sich auch z.B. für gemeinsame Tarifrunden der öffentlich Bediensteten einsetzen könnte (um die Trennung zwischen Bund, Ländern und Kommunen zu überwinden) und in aktuellen Tarifrunden der führenden Bürokratie eine Alternative entgegenstellen würde. Dann wäre es möglich, die Ergebnisse der Tarifkommissionen und Vorstände nicht nur abzunicken, sondern entschlossenen Widerstand zu organisieren.

Diese Möglichkeiten können aber nur in die Tat umgesetzt werden, wenn gegenüber den DGB-Gewerkschaften eine Einheitsfronttaktik angewendet wird, welche nach außen die Kämpfe gegen Kapital und Staat voll unterstützt, sich dort auch gewerkschaftlich an vorderster Front einbringt, aber ebenso deutlich nach innen andere, weitergehende Kampfmaßnahmen trägt, die Basis eigenständig in Streikkomitees und Versammlungen organisiert und v.a. der SPD, aber auch der Linkspartei die Stirn bietet bei politischen Auseinandersetzungen.

Dann wäre es möglich, in den DGB-Gewerkschaften Diskussionen und Mobilisierungen anzuschieben, welche nicht automatisch von der Führung gedeckelt werden. Dann könnte zu den Refugees, der rassistischen EU-Grenzpolitik, zur EU-Krise und zu Griechenland mehr geschehen als wohlklingende Statements abzugeben, die dann meist zu keiner Aktion führen. Dies wären z.B. aktuelle Themen, an denen die bürgerliche Ideologie der Gewerkschaftsführungen bekämpft werden müsste und wo es real die Möglichkeit gäbe, mit der vorherrschenden Ideologie in den DGB-Gewerkschaften zu brechen.

Für eine revolutionäre Partei!

Eine revolutionäre kommunistische Partei wird nicht per Akklamation verabschiedet, sondern gründet sich auf programmatisch-methodische Klarheit in den aktuellen Klassenkämpfen, in denen dann neue Schichten des Proletariats für eine kommunistische Politik gewonnen werden können. Das Prinzip „Klarheit vor Einheit“ ist daher unerlässlich für eine revolutionär-kommunistische Politik und letztlich den Aufbau einer kommunistischen Partei in Deutschland. So einfach und banal es klingen mag, so schwer stellt es sich beim Zustand der radikalen, selbsternannten revolutionären Linken in der BRD dar.

Die größtmögliche Klarheit gibt es in der deutschen Linken, wenn Faschisten und Rassisten Demos organisieren. Da ist zumindest klar, dass es eine Demonstration gegen die „Nazis“ geben muss. Bei dem, was diese Demo aussagen soll, scheiden sich aber bereits die Geister der deutschen Linken und der ArbeiterInnenbewegung. Während die Reformisten, unterstützt von kleinbürgerlichen Akteuren wie den Grünen, Kirchen oder NGOs die Proteste gern im Gewand der Toleranz einlullen („bunt statt braun“ als Hauptparole), wollen die „radikalen AntifaschistInnen“ am liebsten gleich den Straßenkampf organisieren. Die Frage, wie die ArbeiterInnenbewegung sich gegen Faschismus und Rassismus bei zunehmender ökonomischer und sozialer Krise wappnen kann, bleibt dann oft auf der Strecke bzw. wird nur von wenigen AkteurInnen überhaupt erwähnt.

So stellt die heutige antifaschistische Praxis im Vergleich zum historischen Scheitern der deutschen ArbeiterInnenbewegung keinen qualitativen Fortschritt dar – sie bleibt weiterhin zwischen einer Hörigkeit gegenüber der bürgerlichen Demokratie auf der einen Seite und einer identitären, klandestinen „Radikalität“ auf der anderen Seite hängen. Zusammen können dann zwar größere Demos wie in Dresden in den Jahren 2009 – 2011 organisiert werden, aber keine in die ArbeiterInnenbewegung wirksam ausstrahlenden politischen Interventionen, die gegen Pegida und ähnliche rassistische Mobilisierungen vorgehen. Stattdessen überfallen die Faschisten 1. Mai-Kundgebungen wie dieses Jahr in Weimar, schaffen „national befreite Zonen“ und mobilisieren gegen Flüchtlingsunterkünfte. Während manche „antifaschistische“ Kreise dann wie in Tröglitz mit dem Leittransparent „Scheiß Drecksnest“ sicherlich nichts außer der eigenen Beweihräucherung zum antifaschistischen Kampf beitragen, sammeln sich die anderen Verdächtigen unter dem Schutzmantel von Staat und Demokratie.

Diese hier angerissenen Verhältnisse der „radikalen“ Linken wie der ArbeiterInnenbewegung lassen sich auf weitere Themenfelder beziehen. Methodisch kann weiterhin der Reformismus in verschiedenen Facetten die Aktivität und Ausrichtung bestimmen, während ein „integrierter“ Teil des radikaleren Spektrums nicht daran denkt, die reformistische Führung herauszufordern, sondern stattdessen einfach szenemäßig „revolutionär rüberkommen“ will. Dies ist dann aber nur eine Frage der Oberfläche, nicht des strategisch-taktischen Inhalts. Ein „Musterexemplar“ dieser postmodernen Rechtsentwicklung verkörpert die Interventionistische Linke (IL), ein „Netzwerk“ verschiedener, aus dem Autonomen-Milieu stammender linker Organisationen.

Am meisten wird dies sichtbar in der grassierenden Programmfeindlichkeit vieler Organisationen und Strömungen der Linken. Hier schlagen postmoderne, kleinbürgerlich-akademische Orientierungen voll durch, welchen allen gemein ist, sich von den „Traditionen“ und/oder Erkenntnissen der ArbeiterInnenbewegung fernzuhalten und dies als Fortschritt ihrer Klientel zu verkaufen.

Die Krankheiten sind Ergebnis einer kaum vorhandenen revolutionären kommunistischen Tradition in der BRD, einer kompletten Desorientierung nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1990 und einer „Globalisierungsideologie“ vom vermeintlichen „Ende der Geschichte“ innerhalb des linken kleinbürgerlichen Lagers. Begriffe wie „Imperialismus“, „Proletariat“ und „Partei“ gehören für diese Strömungen in die Mottenkiste der Geschichte, um im Gegenzug „Dekonstruktion“, „zivilgesellschaftliche Gegenhegemonie“ und „herrschaftsfreien Diskurs“ als „neue“ Symbole hervorzukramen.

Was dabei rauskommt, ist die Aufgabe jeglicher revolutionären Grundvoraussetzung für eine antikapitalistische kommunistische Politik und Organisation. Hier werden der Klassenstandpunkt, die Klassenanalyse und die Schlussfolgerungen für Programmatik und Organisationsaufbau fallen gelassen.

Aufgabe heutiger RevolutionärInnen muss es sein, die Klassenlinie und -politik dort zu vertreten, wo die Klasse durch reformistische und kleinbürgerliche Politik in die Irre geführt und an die Interessen des deutschen Kapitals gekettet wird. Eine Unterordnung unter diese Politik, ebenso wie ein passives Fernbleiben von der Auseinandersetzung mit dem Reformismus, wird kein revolutionäres Bewusstsein erzeugen, geschweige denn in der Praxis eine Alternative aufzeigen können.

Um Praxis und Programmatik geht es aber, wenn Kommunismus in Deutschland nicht ein historischer Begriff werden soll oder sich darauf beschränkt, die stalinistischen Staaten zu verteidigen, sondern aktiv in der Klasse wirkt, revolutionäres Bewusstsein erzeugt und einen Bruch mit den vorherrschenden Ideologien innerhalb der ArbeiterInnenbewegung herbeiführt.

Die Gruppe Arbeitermacht, gemeinsam mit unseren GenossInnen in der Liga für die 5. Internationale (LFI) tritt heute für die Verteidigung und Weiterentwicklung des revolutionären Marxismus und Kommunismus ein, wie dieser für uns mit Marx, Engels, Lenin, Trotzki, Luxemburg und Liebknecht repräsentiert wurde und der ArbeiterInnenbewegung weltweit ein reiches theoretisches und praktisches Erbe hinterlassen hat. Wir rufen alle sozialistischen, kommunistischen und antikapitalistischen Organisationen in Deutschland und weltweit auf, mit uns in Kontakt zu treten, gemeinsam Programmatik und Praxis zu entwickeln und eine neue revolutionäre kommunistische Partei und Internationale aufzubauen!

Dann wird es auch möglich sein, dem deutschen Imperialismus in den Rücken zu fallen, seinen dritten versuchten Aufstieg zu stoppen und Europa zu einem Europa der ArbeiterInnenklasse zu machen, den Vereinigten sozialistischen Staaten von Europa!

Endnoten

(1) Martin Suchanek, Deutscher Imperialismus heute, in: Revolutionärer Marxismus 33, Berlin 2003, S. 57 – 88 und Martin Suchanek, Der aufhaltsame Aufstieg des deutschen Imperialismus, in: Revolutionärer Marxismus 37, Berlin 2007, S. 55 – 71

(2) Revolutionärer Marxismus 39, Finanzmarktkrise und fallende Profitraten. Beiträge zur marxistischen Krisen- und Imperialismustheorie, Berlin 2008

(3) Neues Deutschland, 27.7. und 9.8.15

(4) Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, LW 22, Berlin-Ost, 1960, Kapitel 7, S. 270 – 271

(5) Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Fortune_Global_500#2014

(6) http://arxiv.org/PS_cache/arxiv/pdf/1107/1107.5728v1.pdf

(7) de.statista; mögliche Geschäfte dieser „Schattenbanken“ können dort nicht nachvollzogen werden

(8) Wem gehört Deutschland? Die wahren Machthaber und das Märchen vom Volksvermögen, Frankfurt/Main, 2014, Seite 79 ff.

(9) Zahlen und Fakten aus: Wirtschaftsbilanz 2014/15. Zahlen – Kommentare – Cartoons, isw-Wirtschaftsinfo 49, München, 9.3.15, S. 30

(10) http://tool.handelsblatt.com/tabelle/index.php?id=99&so=1a&pc=50&po=0

(11) www.destatis.de

(12) ISW Heft 49, Seite 17

(13) Hans-Böckler-Stiftung, Magazin Mitbestimmung, Ausgabe 06/2015, Düsseldorf, Juni 2015

(14) Tobi Hansen, Das „Prekariat“ – Klassenlage und Klassenkampf, in: Revolutionärer Marxismus 44, Berlin, November 2012