Der „Fall Özil“ ist ein Fall von Rassismus

Martin Suchanek, Infomail 1013, 24. Juli 2018

Verlogenheit und Chauvinismus liegen offenkundig eng beisammen. Selten hat eine politische Geste von Fußballspielern für solche Aufregung und Entrüstung gesorgt wie der Fototermin von Özil und Gündogan mit dem türkischen Präsidenten Erdogan. Natürlich war das ein reaktionäres politisches Statement.

Inmitten der illustren Welt des Fußballs wie überhaupt im Profisport ist das jedoch die Regel und nicht die Ausnahme. Wer weiß überhaupt, wie vielen Potentaten der deutsche „Fußballkaiser“ Beckenbauer die Hand gereicht hat? Anstoß daran hat niemand genommen – schließlich war „der Franz“ immer in deutscher Mission unterwegs, um für sein Land (und natürlich auch für sich selbst) das Beste rauszuholen.

Die Gesprächs- und Fototermine von einstigen Sportgrößen wie dem „Ehrenspielführer“ der Nationalmannschaft, Lothar Matthäus, mit lupenreinen Demokraten wie Putin hat die Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen.

Ganz anders beim Foto von Özil und Gündogan. Hier zeigte die deutsche Demokratie ihre Entrüstung. Das Abendland ging zwar nicht unter. Özil wurde jedoch nicht nur zu einem Sündenbock für das verdiente Ausscheiden der Nationalmannschaft. Nicht am schlechten Spiel, am mangelnden Patriotismus und „Durchgreifen“ der Mannschaftsführung wegen des Interviews hätte es gelegen.

Die AfD sieht darin ganz im Sinne ihrer zunehmend völkisch-nationalistischen Ausrichtung den Beweis dafür, dass Integration selbst im Fußball nicht funktionieren könne. Wenn schon Millionäre, so die Logik der Rechten, keine „echten Deutschen“ werden könnten, müsse die Überwindung nationaler Gegensätze unter der Masse der Bevölkerung erst recht unmöglich sein.

Der Mainstream der bürgerlichen Politik will von diesen ultra-reaktionären Schlussfolgerungen zwar nichts wissen – Ausdruck des gesellschaftlichen und politischen Rechtsrucks wie des wachsenden staatlichen Rassismus soll die Anmache von Özil freilich auch nicht sein.

Vielmehr habe es am „schlechten Krisenmanagement“ von DFB-Präsident und CDU-Rechtsaußen Reinhard Grindel gelegen, der unsere „Integrationsbemühungen“ um Jahre zurückgeworfen hätte. Natürlich haben Grindel und auch der DFB-Sportdirektor Bierhoff Özil nach den verlogenen rassistischen Vorwürfen wegen seines Termins mit Erdogan im Stich gelassen.

Die „Integrationsbemühungen“ des deutschen Kapitalismus haben sie jedoch schlecht zunichtemachen können. Vielmehr geht die Ausbeutung migrantischer Arbeitskraft im deutschen (und generell im marktwirtschaftlichen) Modell mit der systematischen nationalistischen und rassistischen Spaltung einher. Wirkliche, gesellschaftliche Gleichheit ist nicht vorgesehen und auch nicht Ziel der bürgerlichen Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Gesellschaftspolitik. Eine gemäß den Erfordernissen der Kapitalverwertung kontrollierte „Einwanderungspolitik“, wie sie sich Bundesregierung, Kapital und auch der größte Teil der parlamentarischen Opposition auf die Fahnen schreiben, sieht nicht den freien Zuzug, Gleichbehandlung und Integration vor, sondern fortgesetzte nationale oder rassistische Einteilung der Arbeitskräfte. Werden diese nicht mehr gebraucht, sollen sie auch wieder „abgebaut“, also zwangsweise in ihre „Heimat“ zurückgeschickt werden können. Diejenigen, die trotz Diskriminierung bleiben, werden weiter als „AusländerInnen“ behandelt. Gerade die rassistische Aufteilung des Arbeitsmarktes und dessen Reproduktion ist für die Ausbeutung und Spaltung der Lohnabhängigen funktional.

Abbild des Rechtsrucks

In den letzten Jahren haben wir zudem einen massiven Rechtsruck erlebt, der die Spaltung zwischen MigrantInnen und „Einheimischen“ verschärft. Die Flüchtlingspolitik der EU beschließt von Gipfel zu Gipfel neue barbarische Maßnahmen zur Sicherung der Festung Europa. Nicht Erdogan oder Putin, sondern die „demokratische“ EU und ihre nationalistischen ScharfmacherInnen machen das Mittelmeer zum Massengrab.

Geraden wenn Menschen Özil zu Recht seine politische Unterstützung Erdogans vorwerfen, so müssen sie sich auch die Frage stellen, warum sich niemand über Fototermine mit Söder oder Seehofer entrüstet? Warum ist der politische Schulterschluss mit dem Autokraten einer Regionalmacht wie der Türkei so viel verwerflicher als eine Einladung an Rassisten wie Kurz oder Salvini? Warum gilt ein Fototermin mit Merkel und Steinmeier, immerhin Kanzlerin und Präsident der wichtigsten imperialistischen Macht in der EU, nicht als kritikwürdig? Ganz einfach. Weil es vom deutschen nationalistischen Standpunkt aus als ganz normal, ja als Zeichen „gelungener Integration“ erscheint, auf Du und Du mit der Kanzlerin zu stehen.

In einem rassistisch geprägten, imperialistischen Land stehen Menschen mit „Migrationshintergrund“ permanent unter dem Verdacht, keine „echten“ Deutschen zu sein – auch wenn sie sich „Verdienste um das Land“ erworben, es also scheinbar „geschafft“ haben. Die spezifisch deutsche Ausprägung des Nationsbegriffs, diesen aus einer mehr oder minder mythologisierten gemeinsamen „Abstimmung“ herzuleiten, verschärft diese allen imperialistischen Staaten innewohnende Tendenz noch weiter.

Auch wenn Rassismus vor allem die ArbeiterInnen und Armen trifft, so zeigt das Beispiel Özil auch, dass auch Millionäre davon nicht ausgenommen sind. Hinzu kommt die veränderte gesellschaftliche Situation.

Özil traf sich bekanntlich schon Anfang des Jahrzehnts einige Male mit Erdogan. Das kümmerte damals aber nur wenige. Bei der Fußball-WM 2014 wurde er als Musterbeispiel gelungener Integration präsentiert, was sicherlich durch sein politisches Nahverhältnis zu Angela Merkel und zum Konservativismus erleichtert wurde.

Nun trifft ihn, was viele schwarze oder migrantische SportlerInnen immer wieder erleben mussten und bis heute erleben müssen. Mögen sie bei Siegen umjubelt und gefeiert werden, so sind sie bei Niederlagen rasch Zielscheibe rassistischer Schmähungen und Hetze. Üblicherweise wird das von SportfunktionärInnen als Problem „rabiater“, meist aus den „Unterschichten“ kommender Fans dargestellt. Die aktuelle Diskussion enthüllt jedoch, dass Rassismus im Fußball oder generell im Sport keineswegs nur ein Problem der Masse der zahlenden Fans, sondern vor allem auch der kassierenden FunktionärInnen und der bürgerlichen Öffentlichkeit ist.

2014, als Deutschland Fußballweltmeister wurde, präsentierte sich nicht nur die Nationalmannschaft, sondern auch der deutsche Imperialismus als „weltoffen“, als Exportnation, die mit allen und jedem ins Geschäft kommen will. Daher versuchten die Sportfunktionäre auch, allzu offene Häme gegenüber der geschlagenen Gegnern Brasilien und Argentinien zu unterbinden. Deutschland versuchte, sich als „fairer Sieger“ zu präsentierten.

Nun fällt Fairness SiegerInnen immer leichter als VerliererInnen. Die rassistischen Ressentiments und die Verlogenheit, die in den letzten Wochen an die Oberfläche drangen, haben jedoch letztlich mit dem Sport als solchem nichts zu tun. Sie verdeutlichen vielmehr eine veränderte gesellschaftliche Situation. Die AfD feuert eine rassistische Hassbotschaft nach der anderen ab. Sie nimmt Özil ins Visier und meint ganz unverhohlen alle TürkInnen, ja alle MigrantInnen und Geflüchteten. Sportfunktionäre wie der unvermeidliche Uli Höneß freuen sich darüber, dass der „Spuk“ Özil jetzt vorbei sei, und stützen die Rechten.

Die bürgerliche Mitte setzt dem eine Mischung aus Entrüstung, Allerweltsweisheiten und Doppelmoral entgegen. Sie beschwört die „Integration“ und Weltoffenheit – und beschönigt zugleich jene Verhältnisse, die sie tagtäglich mit Füßen tritt.

Kein Wunder, dass sie unfähig ist, auch nur eine einfache Wahrheit auszusprechen: Der „Fall Özil“ ist kein „Fall Özil“. Es ist Rassismus.