EU-Gipfel – Einigung auf dem Rücken der Geflüchteten

Tobi Hansen, Neue Internationale 230, Juli/August 2018

Im Vormonat des jüngsten EU-Gipfels vom 28./29. Juni hatte sich der Konflikt zwischen CDU und CSU, insbesondere zwischen Innenminister Seehofer und Chefin Merkel, massiv verschärft. Er spitzte sich zu einem Ultimatum der CSU-Spitze gegenüber Merkel zu. Innerhalb von 14 Tagen sollte diese eine „europäische Lösung“ für die sog. „Sekundärmigration“ vorlegen.

Dabei geht es um Geflüchtete, die bereits in einem anderen EU-Staat registriert wurden oder dort einen Asylantrag gestellt haben. Diese Menschen wollte Seehofer direkt an der deutschen Grenze abweisen. Merkel wiederum wollte dafür Abkommen mit den EU-Staaten aushandeln. Ausweisen und den Zuzug von Geflüchteten und MigrantInnen beschränken wollte und will natürlich auch die CDU. Grenzkontrollen auch, aber durch Vereinbarungen mit jenen Staaten, in die dann die Flüchtenden zurückgeschickt werden sollen. Die CDU vertritt einen eher pragmatischen staatlichen Rassismus im Gegensatz zu den irrationalen nationalen Alleingängen, die sich Seehofer zu eigen gemacht hat.

Die Ergebnisse des EU-Gipfels

Im Vorfeld des Gipfels charakterisierte Merkel Flucht und Migration als eine „Schicksalsfrage“ für die EU, gewissermaßen auch für ihre eigene Rolle in dieser.

Der Gipfel selbst verabschiedete eine Menge rassistischer Beschlüsse und Verschärfungen der Festung Europa, so dass auch die österreichische und die neue italienische Regierung zufrieden waren. Kanzler Kurz, der im Bündnis mit der rassistischen FPÖ regiert, der italienische Ministerpräsident Conte sowie dessen Innenminister Salvini, Vorsitzender der rechts-extremen Lega, zeigten sich mit der „Wende“ in der „Flüchtlingspolitik“ zufrieden. Viele ihrer Forderungen wurden aufgenommen.

Schwerpunkt für Italien war und bleibt die Überwindung der sog. Dublin-III-Verordnung vom 26. Juni 2013, welche vorsieht, dass die Erstaufnahmestaaten für die Geflüchteten verantwortlich sind. Diese ist de facto außer Kraft gesetzt, genau wie das „Gemeinsame Europäische Asylsystem“ (GEAS). Stattdessen steht nun die gemeinsame europäische Bekämpfung der Geflüchteten fest. Diese Praxis ist zwar nicht wirklich neu, nur wird sie jetzt nicht mehr mit „humanitären“ Floskeln verkleidet.

Heute geben RassistInnen wie der österreichische Innenminister Kickl (FPÖ) auch ideologisch und begrifflich den Takt vor, wenn sie von „Konzentrationsräumen“ sprechen. Die EU will „kontrollierte Zentren“ innerhalb ihrer Grenzen schaffen und „Ausschiffungsplattformen“ außerhalb der Gemeinschaft. In Deutschland war dieses Konzept unter dem Arbeitstitel „AnKERzentren“ bekannt, dieses wird jetzt ausgeweitet.

Dabei geht es ganz einfach um geschlossene Lager für Geflüchtete, in denen über ihre Asylberechtigung entschieden wird. Abschiebebehörden, RichterInnen und Polizeikräfte sollen gleich vor Ort ansässig sein, damit die Flüchtlinge direkt außer Landes geschafft werden können. Diese Abschiebelager – und um nichts anderes handelt es sich – will Kanzlerin Merkel nach UN-Regularien mit Hilfe des UN-Flüchtlingswerks (UNHCR) aufbauen und kontrollieren. Doch selbst dieses – aktuell mitverantwortlich für die katastrophale Lage in den Flüchtlingslagern rund um Syrien (Türkei, Libanon, Jordanien) – verweigert die Mitarbeit bei diesen „Zentren“, da dort Schutz und Asylzugang nicht gewährleistet seien.

Abschottung und Militarisierung

Außerdem hat Merkel bilaterale Abkommen zur Rückführung von Geflüchteten mit Spanien und Griechenland ausgehandelt. Diese hätten bislang nach Dublin III in einem relativ komplizierten bürokratischen Verfahren beantragt werden müssen. Nun folgen die Sozialdemokraten Sánchez und Tsipras faktisch den Wünschen von Seehofer, um Merkel einen Erfolg zu bescheren. Mit Italien hingegen gibt es kein Abkommen. Dabei ist dieses Land für die „Rückführung“ entscheidend, da dort die meisten Refugees derzeit Richtung Österreich und Deutschland geschickt werden. Die Lösung dieser Frage wollte Merkel der Ministerebene überlassen. Dort können sich die Rassisten Seehofer und Salvini gegenseitig unter Druck setzen und „Kompromisse“ auf Kosten der Geflüchteten suchen.

Ebenfalls Einigkeit herrschte bezüglich der weiteren Aufrüstung und Aufstockung des EU-Grenzschutzes Frontex, einer „Polizei“, die sich seit Jahren darum bemüht, möglichst viele Flüchtende nicht nach Europa kommen zu lassen, und die für den Tod Zehntausender verantwortlich ist. Diese wird jetzt die „Küstenwache“ von Libyen übernehmen, einem kaum noch existenten Staat, in dem sich islamistische Milizen wie der Islamische Staat mit von der EU unterstützten Vasallen wie der Misrata-Regierung einen blutigen Bürgerkrieg liefern. Dort sollen die außereuropäischen Zentren und Plattformen aufgebaut werden wie dereinst unter Gaddafi. Damals sicherte der brutale Diktator mit seinem Staatsapparat die EU-Außengrenzen, nun wird zumindest die Küste Libyens zum Protektorat der Frontex-Truppen. Der EU-Arbeitstitel dafür lautet „Aurora“. Darunter fällt nicht nur der „Küstenschutz“, sondern auch die Leitstelle für „Seenotrettung“. Was die EU-Staaten und speziell Italien darunter verstehen, konnten wir beobachten, als Rettungsschiffen wie der „Lifeline“, die hunderte Geflüchtete vor dem Ertrinken retteten, das Anlegen an den europäischen Küsten (nicht nur von Italien) verweigert wurde.

Der Kapitän der „Lifeline“, Claus-Peter Reisch, warf zurecht die Frage auf, in welcher Welt wir eigentlichen leben, „in der stärker gegen das Retten als gegen das Sterben vorgegangen wird.“ Der kaum noch verhüllte barbarische Charakter der EU-Beschlüsse, die Offenheit, mit der die „Abschreckung“ der Flüchtlinge geradezu gefeiert wird, verdeutlichen den Rechtsruck und das Anwachsen des Rassismus in den vergangenen Jahren. Auch vor der sog. „Flüchtlingskrise“ nahm die EU das Sterben Tausender im Mittelmeer in Kauf – aber die politische Elite gab sich entsetzt, als das grauenhafte Schicksal von Geflüchteten z. B. auf Lampedusa öffentlich wurde. Heute werden solche Nachrichten stolz ausposaunt.

Während die Abschottung zum EU-Hauptziel erhoben wird, beruhen die Aufnahme und Verteilung von Refugees weiter auf „Freiwilligkeit“. Die „Visegrad“-Staaten Ungarn, Polen, Tschechien, Slowakei und ihre erz-reaktionären Regierungen konnten sich durchsetzen. Insgesamt war der Gipfel zweifellos ein Erfolg für die europäischen Rechten. Unter dem Vorsitz Österreichs kann sicherlich mit einem zügigen Voranschreiten der Militarisierung der Außengrenzen, des Ausbaus von Aufnahmelagern und mit rascherer Abschiebung gerechnet werden.

Das Problem dieser nationalistischen Kräfte besteht freilich darin, dass sie ihrerseits auch gegensätzliche Interessen verfolgen. Selbst der deutsche „Kompromiss“ wird von den Rechten in Österreich (einschließlich rechter SozialdemokratInnen) als Angriff auf österreichische Interessen gewertet. Vor allem aber kollidieren die Interessen der Regierungen in Wien und Rom.

Die europäische Rechte ist sich zwar gegen Merkel und alle, die ihren Kurs unterstützen, einigermaßen einig – auf dem Boden der Überhöhung nationaler Sonderinteressen kann jedoch keine gemeinsame Europapolitik erwachsen.

Daher wie auch aus ökonomischen Gründen scheuen dieser Kräfte vor einem totalen Bruch mit Merkel oder Macron zurück. Das „Zentrum“ der EU hat somit etwas Zeit gewonnen – aber auch nicht viel mehr.

Weitere Beschlüsse

Gegenüber den rassistischen Maßnahmen sind die anderen Themen des Gipfels wenig diskutiert worden. Einzig die Drohung des Italienischen Ministerpräsidenten Conte, alles zu blockieren, wenn Italiens Forderungen in der Flüchtlingspolitik nicht berücksichtigt würden, verursachte Aufregung.

Beschlossen wurde jedenfalls ein Investitionsfonds im Rahmen des EU-Haushaltes. Dieser geht auf die Initiative Macrons zurück und stellt ein kleines Entgegenkommen der Bundesregierung dar. Ab dem nächsten EU-Haushaltsjahr sollen 10-15 Mrd. Euro für Investitionen in „Innovation“ (z. B. Internet, Integration) ausgegeben werden. Diese Summe könnte auch erhöht werden, aber das ist noch umstritten. Dieser neue Haushaltsposten galt auch als „Köder“ in Richtung Integration. Zumindest vermutete der bayrische Ministerpräsident Söder, dass damit die osteuropäischen Staaten eingekauft werden sollten, um Geflüchtete zu übernehmen. Gleichzeitig sprachen sich auch einige national-konservative VertreterInnen gegen mögliche Erhöhungen des EU-Haushaltes aus. Das steht gegen die Vorschläge von Macron, welcher über mehr Investitionen die französische Wirtschaft und die Führungsrolle des Landes stärken will.

Zum 2019 nahenden Brexit gab es eher Verlautbarungen als Beschlüsse. In dieser Frage ist derzeit weder von Großbritannien noch von der EU Substanzielles zu erwarten. Klar scheint nur, dass der Brexit vor allem auf dem Rücken der ArbeiterInnenklasse in Britannien ausgetragen wird.

Zur weiteren Militarisierung und Aufrüstung wurde beschlossen, dass die gemeinsamen Anstrengungen Richtung EU-Armee, EU-Rüstungsprojekte und von der NATO unabhängige Kommandostrukturen vorangetrieben werden sollen. Vor allem der Europäische Verteidigungsfonds wird aufgestockt. Die Verwendung dieser Mittel steht auch im Gegensatz zu den NATO-„Zielen“, 2 Prozent des jeweiligen BIP für gemeinsame Verteidigungsausgaben aufzuwenden, was zu weiteren Spannungen speziell mit den USA führen wird.

EU-Block perspektivlos zwischen USA und China

Inmitten des heftiger werdenden Handelskrieges der USA gegen China und die EU droht letztere in der imperialistischen Konkurrenz immer weiter zurückzufallen. Die deutsch-französische Führung ist sich in zentralen Fragen uneinig, z. B. in der Finanz und Schuldenpolitik. Die Vorschläge von Macron zur gemeinsamen Schuldenpolitik bspw. hätten eine strategische Komponente für das EU-Projekt. Diese schränken aber direkt die bisherigen Vorteile des deutschen Imperialismus ein, vor allem die kurzfristigen Profitinteressen des deutschen Großkapitals.

Die aggressive Orientierung des US-Imperialismus sorgt zudem für Risse in der EU wie in den nationalen herrschenden Klassen selbst. Während Teile des deutschen Kapital aufgrund ihrer Profitinteressen auf dem US-Markt am Ausgleich interessiert sind, wenden sich nicht nur die rechtspopulistischen Kräfte vom transatlantischen Bündnis ab. Auch hier gibt es keine gemeinsame Orientierung, vielmehr treten die unterschiedlichen nationalen Interessen wie auch jene verschiedener Kapitalgruppen zutage. Kein Plan scheint derzeit durchsetzungsfähig. Innerhalb des bürgerlichen Lagers in der EU tun sich Risse zwischen den „multilateralen“ und den „unilateralen“ Interessen auf. Diese reichen bis in die CDU/CSU hinein, die dominierende bürgerliche Partei in Deutschland. Während das Großkapital eine politisch vereinigtere EU braucht, welche auch in der Lage ist, die eigenen wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen gegen die USA zu verteidigen, gibt es gegen die EU von Seiten der „mittelständischen“ UnternehmerInnen immer mehr Widerstand. Diese lehnen eine „Transferunion“ ab und fürchten, dass ihre Profitinteressen dabei zurückbleiben. Darunter fallen auch bürgerliche Interessengruppen, welche die AfD unterstützen.

Die EU steht vor der Zerreißprobe. Ihre inneren Widersprüche treten mehr und mehr zutage. Die EU verfügt zwar über den Euro, die Währung der meisten Staaten der Gemeinschaft und einen riesigen Binnenmarkt. Aber sie ist kein Staat, sondern nach wie vor ein Staatenbündnis aus dominierenden imperialistischen und einer Reihe halb-kolonialer Staaten. So wenig die EU zu einem Staat geworden ist, so wenig hat sich in den letzten Jahrzehnten eine europäische Bourgeoisie herausgebildet. Das deutsche Kapital, das französische oder italienische sind nach vie vor zuerst nationale Kapitale – und dieser Gegensatz droht die EU zu zerreißen. Die Alternative zum europäischen Block unter Führung des deutschen und französischen Imperialismus wäre dann dessen Zerfall – und die Ersetzung gemeinsamer imperialistischer Projekte durch nicht minder reaktionäre nationale.

Die europäischen Bourgeoisien sind unfähig, die Krise des Kontinents zu lösen. Nur die ArbeiterInnenklasse ist in der Lage, Europa durch den gemeinsamen Kampf auf einer fortschrittlichen Basis zu einen. Die Sozialdemokratie oder europäische Linksparteien wie Syriza haben sich als politischer Wurmfortsatz des „pro-europäischen“ Flügels des Kapitals erwiesen, andere wie Wagenknecht oder Mélenchon in Frankreich liebäugeln mit nationaler – und das heißt immer auch nationalistischer – „Reformpolitik“.

Diese politische Krise und der Rechtsruck können nur überwunden werden, wenn die ArbeiterInnenklasse europaweit gemeinsam für ihre Interessen und gegen die rassistische Abschottung den Kampf aufnimmt – und damit den Grundstein legt für Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa.