Britannien: Labour-Party als Zielscheibe falscher Antisemitismus-Vorwürfe

Red Flag, Infomail 997, 8. April 2018

Die erneuten Antisemitismus-Vorwürfe der Medien gegen den linken Vorsitzenden der Labour-Party, zielen offenkundig darauf, die Chancen der Partei auf große Erfolge bei den Kommunalwahlen am 3. Mai zu schmälern. Das erklärt die Angriffe aber nur vordergründig.

Es steckt noch viel mehr dahinter. Erstens geht es darum, Corbyns wachsender Kontrolle über den Parteiapparat entgegenzuwirken. Nach seinem Sieg im Jahr 2015 war dieser noch von den Rechten dominiert. Sie nutzten ihre Kontrolle, um Linke wegen einer Reihe erfundener Anschuldigungen zu suspendieren und aus der Partei auszuschließen, in der Hoffnung, die Corbyn-AnhängerInnen zu demoralisieren und zu vertreiben. In den letzten Monaten jedoch schienen die Tage der Rechten gezählt zu sein, nachdem mit Jennie Formby eine Anhängerin Corbyns Generalsekretärin wurde und eine linken Mehrheit ins Nationale Exekutivkomitee gewählt wurde.

Die politische Rechte will nicht nur diese Entwicklung umkehren, sondern strebt ein noch grundlegenderes Ziel an: sie will bei allgemeinen Wahlen den Sieg einer Partei verhindern, die von einem Mann geführt wird, der für die Rechte der PalästinenserInnen eintritt. Das bedeutet nämlich, dass man sich nicht darauf verlassen kann, dass er Israel, Großbritanniens und Amerikas größtes strategisches Gut im Nahen Osten unterstützt. Für den rechten Labour-Flügel, wo der Zionismus schon immer stark vertreten war, stellt dies allein einen „Beweis“ für Antisemitismus dar.

Dies steht auch in engem Zusammenhang mit der jüngsten Medienattacke auf Corbyn, der sich weigerte, den Angriff Theresa Mays auf Russland wegen des Giftanschlags von Salisbury bedingungslos zu unterstützen. Auch hier schloss sich die Labour-Rechte den Angriffen gegen Corbyn an. Ihre Botschaft und jene der britischen herrschenden Klasse, der gegenüber sie bedingungslos loyal ist, lautet: die Staatsmaschine des britischen Imperialismus ist in Corbyns Händen nicht sicher. Wir können erwarten, dass die Schärfe der Angriffe und Hetze weiter ansteigen werden, je näher eine Parlamentswahl rückt. Diese können nur durch eine klare ablehnende Haltung, die Aufdeckung ihres Zwecks und die Mobilisierung der gesamten ArbeiterInnenbewegung bekämpft werden, um damit sicherzustellen, das sie keinen Erfolg haben.

In den letzten Monaten siegten eine Reihe linker LabouristInnen in den Abstimmungen in der Partei und Labour errang auch Siege bei Nachwahlen auf lokaler Ebene. Umfragen deuten auf einen großen Sieg der Labour-Partei bei den kommenden Kommunalwahlen hin, vor allem in London, wo das stärkste Abschneiden einer Partei seit 1968 vorausgesagt wird.

Kampagne

Die ständig wiederholte Behauptungen der Parteirechten, Labour sie mit einem linken Manifest „nicht wählbar“, wurden widerlegt. Nun holte der rechte Flügel einem anderen altbekannten und ebenso oft widerlegten Vorwurf hervor: Antisemitismus sei unter Partei-Linker weit verbreitet. Dies basiert auf Corbyns Verurteilung von israelischen Angriffen wie der umfassenden Zerstörung des Gazastreifens im Jahr 2014. Sie behaupten, dass Gorbyn, selbst wenn er selbst kein Antisemit sein sollte, den Antisemitismus tolerierieren oder in der Frage eine weiche Flanke habe würde.

Man stelle sich ihre Freude vor, als die pro-israelische Abgeordnete Luciana Berger (heute verh. Luciana Clare Goldsmith) entdeckte, dass Corbyn 2012 auf Facebook die Zerstörung eines Wandbildes des amerikanischen Künstlers Mear One (Geburtsname: Kalen Ockerman), was dem Stil Diego Riveras ähnelte, an einer Mauer in Ost-London als Vandalismus verurteilt hatte.

Das Wandbild enthielt Gemälde von Bankiers mit antisemitischen, stereotypen „jüdischen Nasen“ mit dem Symbol des „Auges der Vorsehung“ dahinter, die sich um ein Monopoly-Spielbrett versammelten, das auf den gebogenen Rücken nackter Figuren der Dritten Welt ruhte. Sein Slogan lautete: „Die Neue Weltordnung ist der Feind der Menschheit.“ Der Künstler sagte, sein Wandbild handelte von Klasse und Privilegien und wäre nicht antisemitisch. Aber offensichtlich war dies ein Beispiel für geistlose und reaktionäre Verschwörungstheorien („geheime Weltregierung“ der Bilderbergerkonferenzen wie der Illuminaten) und es beinhaltete die üblichen antisemitischen bildlichen Ausdrücke.

Sicher beging Corbyn einen ernsthaften Irrtum, als er das nicht bemerkte. Es besteht kein Zweifel, dass ein solches Wandbild in Tower Hamlets, im Londoner East End, einem alten jüdischen Viertel, für jüdische und nichtjüdische AntirassistInnen gleichermaßen höchst beleidigend war. Es verdiente, entfernt zu werden, und der Labour-Bezirksbürgermeister, Lutfur Rahman veranlasste das zu Recht. Sechs (!) Jahre später, als die triumphierende Berger das Thema ansprach und von Corbyn eine Erklärung verlangte, entschuldigte er sich auf korrekterweise klar und unmissverständlich.

Aber die Falle war gestellt und eine noch heute andauernde Hetzkampagne kam in Gang. Sie dominierte die Schlagzeilen der Zeitungen und die Nachrichtensendungen im Fernsehen. Die konservativen jüdischen Organisationen Großbritanniens, darunter der nicht gewählte „Ausschuss britischer jüdischer Abgeordneter“, organisierten am Abend des 26. März eine Demonstration mit einigen hundert TeilnehmerInnen vor dem Parlament. Rechtsgerichtete blairistische Labour-Abgeordnete schlossen sich an.

Da der Ausschuss Israel immer nachdrücklich unterstützt und die Besorgnis des Staates über die Aussicht teilt, dass ein pro-palästinensischer Politiker britischer Premierminister wird, war all dies keine Überraschung. Der Ausschuss hat sich von den allgemeinen, liberalen Ansichten der Mehrheit der britischen JüdInnen derart entfernt, wie Empörung zeigt, die Glückwünsche des Ausschuss-Vorsitzenden Jonathan Arkush zur Wahl von Donald Trump hervorrief.

Die Tory-Presse, vor allem die Daily Mail mit einer täglichen Auflage von 1,3 Millionen, beteilgte sich dann heulend am Streit. Die Schlagzeile auf der Titelseite: „Antisemitic Labour: The Strench Grows“ („Antisemitische Labour-Partei: der Gestank breitet sich aus“) gibt den Geschmack, oder besser gesagt den Gestank, der Kampagne wieder. Das wird für diejenigen, die die Zeitung kennen, keine Überraschung sein. Seit ihrer Gründung im 19. Jahrhundert befindet sie sich im Besitz der Familie Rothermere, sie unterstützte in den 1930er Jahren den britischen Faschistenführer Oswald Mosley und produziert immer noch abscheuliche Anti-ImmigrantInnen-Karikaturen, die auf widerwärtigen rassistischen Stereotypen basieren.

Möglicherweise für einige überraschender wurde die Mail von liberalen Zeitungen wie „The Guardian“ und „neutralen“ Medien wie BBC und Channel 4 sekundiert. Sie alle fungierten als Plattform für Kommentare rechtsgerichteter Labour-Abgeordneter, die Corbyns Verlegenheit auszunutzen versuchten und eine ganze Galerie von „Schurken“ zur Schau stellten. Sie forderten ihn auf, zuzugeben, dass er „auf einem Auge blind sei, wenn es um Antisemitismus ginge“, und forderten, dass er eine Säuberung einleiten sollte, um die Partei davon zu befreien.

Nach einer Reihe ungerechtfertigter und diffamierender Vorwürfe des Antisemitismus einschließlich eilig zurückgezogener Forderungen gegen antizionistische jüdische Aktivisten wie Moshé Machover und Glyn Secker forderten die Rechten dann eine aggressivere Verfolgung von Disziplinarverfahren wegen angeblichen Antisemitismus’. Man argumentierte sogar, dass es ein Disziplinarvergehen sein sollte, von der Behauptung abzuweichen, dass Antisemitismus in der Labour Party weitverbreitet sei, obwohl dies statistisch erwiesenermaßen unwahr ist.

Während es für SozialistInnen absolut notwendig ist, sich den falschen Antisemitismusvorwürfen der Rechten zu widersetzen und Israels Verbrechen gegen die PalästinenserInnen aufzudecken, ist es nicht weniger wichtig, sich mit echten Beispielen von Antisemitismus zu befassen, wo sie existieren. Bei den Gruppen, die Corbyn im Internet verteidigen, gibt es zu viele Mitglieder der Labour Party, die den Fehler machen, alle Anschuldigungen als unbegründet zurückzuweisen. Dem muss man entgegengetreten. Konkrete Beispiele für Antisemitismus sollen benann werden und alle tatsächlichen AntisemitInnen müssen bekämpft und ausgeschlossen werden.

Es wird auch nicht reichen, Antisemitismus so zu behandeln, als ob er keine Geschichte auf Seite der Linken hätte. Er hat sie, weil er eine vulgäre Form des „Antikapitalismus“ widerspiegelt, die sich nicht dem Profitsystem und seinen herrschenden Klassen in ihrer Gesamtheit widersetzt, sondern einen Teil von ihnen isoliert, in Gestalt „des Juden“ personifiziert und besonderer Kritik aussetzt. Dieser reaktionäre ‚antikapitalistische‘ Antisemitismus, den der große Marxist August Bebel so treffend als ‚Sozialismus der des dummen Kerls‘ bezeichnete, ist heute unter der alternativen Rechten und den konspirativen Internet-ProvokateurInnen weitverbreitet und kann zurück in die Linke sickern, wenn er nicht systematisch identifiziert und in Frage gestellt wird.

Zu viele Zugeständnisse

Am 26. März, nach Tagen des medialen Bombardements, gab Corbyn seine dritte und letzte Erklärung ab. Sie machte zu viele Zugeständnisse an die Rechte und deutete an, dass Antisemitismus innerhalb der Partei tatsächlich weitverbreitet sei. Sie hat es versäumt, auf die Zahl der erwiesenermaßen falschen Anschuldigungen aufmerksam zu machen, den politischen Zweck der Angriffe zu identifizieren oder gar den Rassismus der Tories und der rechten Medien hervorzuheben, zu dem der oben genannte „Ausschuss jüdischer Abgeordneter“ und die konservativen jüdischen WürdenträgerInnen auffallend schweigen. Dies ermöglichte es der Presse, ihre ganze Aufmerksamkeit auf „Corbyn entschuldigt sich“ zu richten, mit der klaren Schlussfolgerung, dass die Vorwürfe des Antisemitismus völlig gerechtfertigt wären.

Es bedeutet keinesfalls, nachsichtig mit Antisemitismus umzugehen, wenn man beobachtet, dass er in Großbritannien nicht die weitverbreitetste oder schwerste Form des Rassismus ist, unter der die Menschen leiden. Systematische Diskriminierung von Schwarzen und AsiatInnen bei Arbeit, Wohnung und Bezahlung, Polizeigewalt gegen Schwarze und asiatische Jugendliche, sogar Straßengewalt sind gegen Schwarze, MuslimInnen und AsiatInnen stärker verbreitet als gegen JüdInnen, sowohl proportional als auch insgesamt.

Wir weisen hier nicht auf diesen Punkt hin, um die Bedeutung des Kampfes gegen den Antisemitismus zu negieren, sondern ein Schlaglicht auf die Doppelmoral der Rechten zu werfen, die falsche Behauptungen zur Waffe gegen Corbyn schmieden, aber völlig dabei versagen, auch nur einen Bruchteil dieses Eifers im Kampf gegen andere, weitverbreitetere Formen des Rassismus an den Tag zu legen, die unsere Gesellschaft prägen, wie etwa die Islamophobie. Wir leben in einer zutiefst rassistischen Gesellschaft, in der Äußerungen dieses Rassismus häufig ihren Weg in die ArbeiterInnenbewegung finden, wenn z. B. der frühere Labour-Justizminister Jack Straw behauptet, Frauen mit Hidschab, dem islamischen Kopftuch, hätten ihm Unbehagen bereitet, oder die Abgeordnete Sarah Champion Kritik an der pakistanischen Kultur übt.

Inmitten dieser sehr modernen Hexenjagd mit ihren gefälschten Nachrichten, Demagogie, Medienmanagement und Umkehrungen der Realität, in der Großbritanniens prominentester Antirassist für Rassismus an den Pranger gestellt werden kann, nahm die Organisation „Jewish Voice for Labour“ (Jüdische Stimme für Labour) eine klare, fortschrittliche Haltung. Labour-Mitglieder und AnhängerInnen dieses nicht-zionistischen Bündnis solidarisierten sich mit Corbyn sowohl bei einem Gegenprotest auf dem Platz vor dem Parlament als auch als SprecherInnen in Nachrichtensendungen in Radio und Fernsehen. Sie wiesen nicht nur die Vorwürfe zurück, sondern erinnerten auch daran, dass der „Ausschuss der jüdischen Abgeordneten“ und der Oberrabbiner nicht für alle britischen JüdInnen sprechen und es nie getan haben.

Weitere Auswirkungen

Ist diese jüngste Kampagne der Bürgerlichen und der Labour-Rechten der Beginn eines weiteren Putschversuchs gegen Corbyn? Oder ist es eine andere Taktik? Es gibt immer mehr Gerüchte, die in der Sunday Times prominent berichtet werden, dass Pläne bestehen, im Herbst eine neue Partei zu gründen, die auf der blairistischen Rechten, Konservativen für den Verbleib in der EU wie Anna Soubry und der Infrastruktur und Wahldatenbank der Liberaldemokraten im Kern basieren soll. Ob eine Wiederholung der Abspaltung der Sozialdemokratischen Partei 1983 von der Labour Party eine lebensfähige Kraft wäre, ist eine offene Frage, aber angesichts der unvermeidlichen politischen und wirtschaftlichen Instabilität im Zusammenhang mit dem Brexit und der offensichtlichen Unzulänglichkeit der Führung der traditionellen britischen Partei der herrschenden Klasse, der Tories, besteht innerhalb dieser Klasse weitgehende Übereinstimmung über die Notwendigkeit, eine von Corbyn geführte Labour-Regierung zu verhindern.

Diese Entschlossenheit wird nicht nur von innenpolitischen Fragen befeuert. Als noch bedeutender, wenn auch kleinerer Partner des US-Imperialismus hat der britische Staat ein elementares Interesse daran, den Staat Israel zu erhalten. Dieser kann nur existieren, wenn er die Rechte der PalästinenserInnen verweigert, und deshalb wird Corbyns lang währende und prinzipientreue Verteidigung dieser Rechte als eine Bedrohung der Interessen des britischen Staates verstanden. So verurteilte Corbyn sofort die jüngsten Morde an palästinensischen DemonstrantInnen an der Grenze zum Gazastreifen. Der Vorfall unterstreicht jedoch die zentrale Bedeutung der damit verbundenen Fragen. Sollte sein Engagement jemals schwanken, wäre das ein großer Sieg für die Rechte in Großbritannien und für die internationale Reaktion.

Deshalb muss die Linke nicht nur Corbyn verteidigen und die falschen Beschuldigungen des Antisemitismus zurückweisen, sondern auch den Kampf für die Solidarität mit dem palästinensischen Volk verstärken, das Ausblenden der Realität des Lebens unter der israelischen Besatzung in den Medien aufdecken und für den Sturz des zionistischen und die Schaffung eines ArbeiterInnenstaats in ganz Palästina kämpfen.