Arbeiter:innenmacht

Kautsky versus Luxemburg – Die Massenstreikdebatte in der deutschen Sozialdemokratie 1910

Max Laszer, Revolutionärer Marxismus 41, Februar 2010

Einleitung

Die Generalstreikdebatte in der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung gilt nicht von ungefähr als zentraler Streitpunkt, an dem sich zunehmend die Differenzen zwischen dem revisionistisch/reformistischen Flügel und der revolutionären Linken manifestierten. Bekannt ist v.a. die erste Zuspitzung der Debatte anlässlich der ersten russischen Revolution und der daraus zu ziehenden Lehren.

Wie der Revisionismus-Streit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, endet die Generalstreikdebatte in der deutschen Sozialdemokratie am Parteitag von Jena 1905 wie auch am internationalen Sozialistenkongress in Stuttgart 1907 mit einer Niederlage der Rechten. Die massiven Vorstöße v.a. der deutschen Gewerkschaftsführungen, für die der Generalstreik als „Generalunsinn“ und „undiskutabel“ galt, wurden zurückgewiesen.

Aber sie wurden, wie wir sehen werden, auf inkonsequente Art und Weise – meist über die Vermittlung des Parteivorstandes um Bebel – zurückgewiesen. So wurden die revisionistischen Vorstöße Bernsteins abgewehrt und die Zustimmung der süddeutschen Gliederungen der SPD zu den Staatshaushalten Bayerns oder Württembergs zwar regelmäßig verurteilt, aber die auf Wahlkämpfe und Propaganda und Agitation für den Sozialismus ausgerichtete Parteipraxis blieb davon ebenso unberührt wie die nur auf Verbesserungen der sozialen Lage angelegte Tätigkeit der Gewerkschaften.

Letztere erlebten aufgrund ihres Wachstums, ihrer Erfolge in Lohnkämpfen und gut kalkulierten Teilstreiks einen massiven Aufschwung und überflügelten die Partei an Größe und Finanzkraft und entwickelten noch vor der SPD einen bürokratischen Apparat. Ihre reformistische Tagespraxis, die von einer politischen Zuspitzung des Klassenkampfes nichts wissen wollte, ging auch einher mit einer materiellen Stütze dieser Praxis in der Facharbeiteraristokratie, auf die sich die Gewerkschaften stützten.

Die Generalstreikdebatte war daher ein erstes Kraftmessen mit der Gewerkschaftsbürokratie. Während der Parteitag von Jena 1905 diese Kampfmethode anerkannte, so markierte bereits der Kongress von Mannheim 1906 eine Niederlage der Linken und ein zugunsten der Gewerkschaften verschobenes Kräfteverhältnis. Der Mannheim Kongress revidierte zwar nicht den Beschluss von Jena, aber er sanktionierte praktisch die Unabhängigkeit der Gewerkschaften von den Beschlüssen der Partei. Er verdeutlichte, dass die Partei zunehmend abhängig wurde von der inzwischen gewachsenen und gefestigten Gewerkschaftsbürokratie, deren Erfüllungsgehilfe der SPD-Parteivorstand zunehmend wurde.

Bevor wir uns näher dem Schwerpunkt des Artikels – der Generalstreikdebatte um 1910, die anlässlich des Kampfes um das Wahlrecht erneut ausbrach – widmen, wollen wir einen kurzen Abriss der vorausgegangenen Debatten bringen.

Historischer Abriss vor 1905

Die Losung des Massenstreiks war zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht neu. Ihr gingen jahrzehntelange Diskussionen um seine Anwendung und dessen politischen Inhalt voraus.

In den 1840er Jahren wurde der Massenstreik von der Chartistenbewegung Englands erstmals eingesetzt. Die Chartisten wollten das allgemeine und gleiche Wahlrecht erstreiken, blieben aber unmittelbar erfolglos.

1868 wurde der Generalstreik vom Brüsseler Kongress der I. Internationale als Mittel, künftige Kriege zu verhindern, beschlossen. Eine breitere Diskussion um das Kampfmittel des Generalstreiks erfolgte dadurch jedoch nicht.

Erstmals mit größerem Gewicht behandelt wurde die Generalstreiklosung nach dem Beschluss des Gründungskongresses der II. Internationale, den 1. Mai 1890 zu einem internationalen Demonstrationstag für den 8-Stunden-Tag zu machen. In Spanien, Österreich und Frankreich wurde gestreikt. Die SPD lehnte den Streik mit der Begründung ab, Bourgeoisie, Militär und Staatsapparat könnten den Generalstreik als Vorwand für einen Staatsstreich und eine Neuauflage der Sozialistengesetze nehmen. Außerdem fürchtete die SPD, man könne die Zustimmung zu diesem Generalstreik als Zustimmung zum syndikalistischen Streikkonzept interpretieren.

Die Sozialdemokraten lehnten die Forderung nach Generalstreiks über Jahre strikt ab. Unter dem Druck praktischer Erfahrungen mit Massenstreiks änderte sie aber ihre Position: Zumindest theoretisch wurden organisierte Massenstreiks erwogen. Im Unterschied zu den Syndikalisten betrachteten sie, v.a. die SPD, Massenstreiks jedoch wesentlich als Abwehrmittel, um bestehende Rechte zu verteidigen oder die eigene Zerschlagung zu verhindern, während die Syndikalisten damit noch nicht erreichte Rechte durchsetzen oder die bürgerliche Republik verteidigen wollten.

Die Schwächen der syndikalistischen Konzeption spielten freilich auch der Ablehnung, die Generalstreikfrage überhaupt zu diskutieren, in die Hände. So wurde 1893 der syndikalistische Antrag auf einen “Weltstreik“ zu Recht abgelehnt. Aber die Veränderung der Klassenkämpfe und die Entwicklung größerer Streikbewegungen bis zum Massenstreik erforderten ein Umdenken. 1896 wurde eine differenziertere Stellungnahme verabschiedet: “Der Kongress hält Streiks und Boykotts für notwendige Mittel zur Erreichung der Aufgaben der Arbeiterklasse, sieht aber die Möglichkeit für einen internationalen Generalstreik nicht gegeben. Das nächste Erfordernis ist die gewerkschaftliche Organisation der Arbeitermassen, weil von dem Umfange der Organisation die Frage der Ausdehnung der Streiks auf ganze Industrien oder Länder abhängt.” (1)

Während die Frage der Generalstreiks für die Internationale auf Resolutionen beschränkt blieb, fanden in Europa Streiks bis hin zu Massen- bzw. Generalstreiks statt.

In Spanien gab es eine Streikwelle für höhere Löhne, darunter 1901 branchenübergreifende Streiks in Barcelona, die sich auf andere Landesteile ausweiteten, und Streiks der Metallarbeiter Barcelonas 1902. Aus diesen – wirtschaftlich erfolglosen – Kämpfen entstand eine allgemeine Gewerkschaft, die “Solidaridad Obrera”, was ein politischer Erfolg war.

In Belgien streikten 1902 zehntausende ArbeiterInnen für das allgemeine und gleiche Wahlrecht. Der Streik wurde schließlich abgebrochen, führte jedoch nicht – wie von der Internationale befürchtet – zur Zerschlagung der belgischen Arbeiterbewegung. Auch in Schweden wurde für das Wahlrecht gestreikt. Das Wahlrecht wurde damit zwar nicht gewonnen, die Demonstration des Kampfeswillens und der Solidarität der ArbeiterInnen war jedoch ein politischer Erfolg – was deutsche Gewerkschafts- und Parteiführer nicht daran hinderte, den schwedischen Kampf als erfolglos zu bezeichnen.

Auch in Holland wurde gestreikt. Grund war die parlamentarische Debatte eines Streikverbotsgesetzes. Die dortige Sozialdemokratie wurde in Folge der Zerschlagung des Streiks durch Polizei und Armee zu einem scharfen Gegner von Generalstreiks.

Der Amsterdamer Kongress 1904 konnte von all dem nicht unberührt bleiben. Der “Massenstreik“ wurde als mögliches Mittel zur Abwehr, ja als das äußerste Mittel, um bedeutende gesellschaftliche Veränderungen durchzuführen oder sich reaktionären Anschlägen auf die Rechte der Arbeiter zu widersetzen, anerkannt (Protokoll des Internationalen Sozialistenkongresses zu Amsterdam 1904, Berlin 1904, S. 24). Hierin ist bereits enthalten, was sich in der späteren Diskussion noch deutlicher zeigen wird: Die Aktion der Massen, der Massenstreik, ist vor allem für die SPD nur das äußerste Mittel, das man einsetzt, wenn es um Sein oder Nichtsein der Arbeiterbewegung geht.

Kurz nach Ende des Kongresses brach in Italien ein heftiger Massenstreik aus – ohne Zutun von Parteien oder Gewerkschaften. Auslöser waren zwei Blutbäder der Polizei unter streikenden Bauern und Bergarbeitern in Sizilien. Solidaritätsstreiks breiteten sich über ganz Italien aus. Dieser Generalstreik blieb jedoch, allen Befürchtungen oder Lobpreisungen zum Trotz, beschränkt und führte weder zur sozialen Revolution noch zur Zerschlagung der italienischen Arbeiterbewegung. Er wurde nach Versprechungen der Regierung, die Polizei bei Streiks nicht mehr einzusetzen, abgebrochen.

Die russische Revolution 1905

Die wichtigsten Erfahrungen mit Streiks brachte 1905 die Revolution in Russland. Seit der Jahrhundertwende nahm in Russland die Zahl der Streiks stark zu. Ein Massenstreik brachte auch das Zarenregime ins Wanken. Am 22. 1. 1905 zogen 200.000 ArbeiterInnen vor das St. Petersburger Schloss. Das von Soldaten unter den friedlichen DemonstrantInnen angerichtete Gemetzel ging als „Blutsonntag“ in die Geschichte ein. Binnen weniger Tage wälzte sich eine Serie von Massenstreiks durch ganz Russland.

Bedeutender Faktor für die Diskussion der westeuropäischen Sozialdemokratie waren diese Ereignisse deswegen, weil diese Streiks nicht das Machwerk von Anarchisten oder Anarchosyndikalisten war, sondern völlig spontan entstanden waren und von der russischen Sozialdemokratie unterstützt wurden. Rosa Luxemburg führte trefflich ins Feld, dass die russischen Erfahrung eine “gründliche Revision des alten Standpunkts des Marxismus” erforderlich macht, nach der “es wieder nur der Marxismus (sein werde), dessen allgemeine Methoden und Gesichtspunkte dabei in neuer Gestalt den Sieg davontragen.” (2)

Die russische Revolution vereinte wirtschaftliche wie politische Forderungen – zwei Aspekte, die in der Diskussion der Sozialdemokratie bislang getrennt waren. Russland bewies, welche Kraft und welchen organisatorischen Nutzen Massenstreiks haben konnten. Sie offenbart den Massenstreik als Kampfform. Die Sozialdemokratie Westeuropas hatte sich im Gegensatz dazu auf Machtvergrößerung im parlamentarischen Spielraum und stetige gewerkschaftliche Aktivität beschränkt.

Sie nahm die russische Revolution von 1905 aber nicht als Anlass, ihre Fehler zu korrigieren. Die Generalstreikdebatte kam vielmehr mit der Niederlage der russischen Revolution zum Ende. Jedoch bekam die Frage nach Massenstreiks im Rahmen einer anderen Debatte erneut Relevanz: Diese Frage war, wie am besten gegen den Militarismus gekämpft werden könne. Im Rahmen dieser Antimilitarismus-Diskussion war es erneut die deutsche Sozialdemokratie, die im Gegensatz zur französischen Massenaktionen ablehnte. Nur aus Furcht vor einer erneuten Illegalisierung, wollte man zu Massenstreiks greifen. Auf dem Internationalen Sozialistenkongress 1907 wurde schließlich beschlossen:

“Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertretungen in den beteiligten Ländern verpflichtet, unterstützt durch die zusammenfassende Tätigkeit des Internationalen Büros, alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern. Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Mitteln dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunützen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.” (3)

Dieser Beschluss tauchte in der Folgezeit jedoch weder propagandistisch noch praktisch auf. Die Bedeutung dieses Beschlusses lag jedoch darin, dass die Linken im Ersten Weltkrieg und die entstehenden kommunistischen Partei daran anknüpfen konnten.

Die Debatte 1910

1905/06 hatten in der deutschen Sozialdemokratie Rosa Luxemburg und Karl Kautsky, trotz mitunter unterschiedlicher Schärfe in der Argumentation, an einem Strang gezogen. Sie waren Teil des linken, marxistischen Flügels in der Partei und Internationale, der viel zur Heranbildung einer klassenbewussten, revolutionären Arbeiterschaft beitrug. Wir wollen damit keineswegs die Fehler Kautsky’s vor 1910 abstreiten (wie auch jene Luxemburgs keineswegs „irrelevant“ sind). Wir bestehen aber darauf, dass sie ein Beitrag zur Formierung eines revolutionären Flügels der Sozialdemokratie vor dem Hintergrund eines Epochenwechsels – vom Übergang der Epoche des klassischen Kapitalismus hin zur Epoche des niedergehenden, imperialistischen Monopolkapitalismus Ende des 19. Jahrhunderts – waren. So nahm Kautsky bis 1907 zweifellos an der Formierung des Linken aktiv teil und seine Broschüre „Der Weg zur Macht“ ist wohl auch der Text, wo Kautsky am weitesten nach links ging und einen der ersten Texte überhaupt vorlegte, die versuchten, die Frage der Machtergreifung im Kontext einer neuen Periode zu beantworten.

Der Beginn der Niedergangsepoche des Kapitalismus, der imperialistischen Ära, machte jedoch die „alte“ Programmatik und Methodik des Erfurter Programms – die Trennung von Minimal- und Maximalprogramm – zunehmend obsolet. Ein Festhalten an dieser Methode führte mehr und mehr dazu, dass das Maximalprogramm zu einer vorgeblich „marxistischen“, aber leeren Rechtfertigung der reformistischen Praxis und Anpassung an den imperialistischen Staat verkam.

Natürlich besaß die gesamte Linke in der internationalen Sozialdemokratie keineswegs eine fertige Alternative zum Minimal-Maximal-Programm. Aber ihr revolutionärer Flügel versuchte – insbesondere im Angesicht der russischen Revolution, die die Frage der politischen Machtergreifung als Tagesfrage aufwarf – das Korsett des Minimal-Maximal-Programm zu sprengen, wenn auch z.T. ohne sich selbst der politischen Konsequenzen völlig klar zu sein.

Die Diskussion um den Generalstreik 1910 markiert hier einen Wendepunkt. Angestoßen wurde die Debatte durch eine massenhafte Wahlrechtsbewegung in Deutschland, von Massendemonstrationen in zahlreichen Großstädten bis hin zur illegalen Demonstration im Berliner Tiergarten mit 150.000 TeilnehmerInnen am 6. März 1910. Rosa Luxemburg und der gesamt radikale Flügel der Partei hatte großen Anteil daran, dass diese Bewegung zustande kam und sich weiter entwickelte.

Zugleich konnte sich auch der Parteivorstand, dem die Sache über den Kopf zu wachsen drohte, der Bewegung und der Massenagitation nicht direkt entgegenstellen. Die Parteiführung – und noch mehr die Gewerkschaften – wollten auf keinen Fall, dass sich die Bewegung radikalisierte und zum Mittel des politischen Massenstreiks griff, wie Luxemburg, aber auch sehr viele Grundorganisationen und die linken Ortsverbände in Preußen forderten.

Der Parteivorstand versuchte offen, die beginnende Debatte zu unterdrücken. Artikel und Stellungnahmen, die sich für den Massenstreik aussprachen, durften im Zentralorgan nicht veröffentlicht werden.

Das hinderte Luxemburg nicht, sich an die politische und theoretische Spitze der Unterstützer des Massenstreiks zu stellen und dafür zu agitieren. Sie versuchte, durch Agitation und Aufklärung bei den Massen die Versäumnisse der Parteiführung wettzumachen. Dies war der Zündfunke für eine öffentliche Debatte zwischen Luxemburg und Kautsky in der „Neuen Zeit“. Karl Kautsky, ein „Linker“, wurde zum wichtigsten Kontrahenten Luxemburgs in der Debatte.

Die Generalstreikdebatte 1910 markiert also auch einen offenen Bruch innerhalb der Linken zwischen einem opportunistischen, rechts-zentristischen Flügel um Kautsky, Hilferding u.a., dem „Zentrum“ sowie der revolutionären, radikalen Linken um Luxemburg, Zetkin und Mehring. Es ist daher kein Zufall, dass die Debatte rasch über das Thema Generalstreik hinausging und auch Grundfragen der Strategie und Taktik der Partei umfasste.

Soll man das Thema Massenstreik öffentlich diskutieren?

Nach mehreren – bürokratisch unterbundenen -Versuchen Luxemburgs, in der „Neuen Zeit“ für den Massenstreik zu werben, veröffentlichte Kautsky darin den Artikel “Was nun?“ (28. Jahrgang, 2. Band 1910), mit dem er einem “Angriff” Luxemburgs auf Mehring beantworten wollte, mit dem er “in dieser Frage vollkommen übereinstimme”. Ob eine Diskussion des Massenstreiks zweckmäßig sei, hänge davon ab, in welchem Sinne diese geführt werde. Der Massenstreik käme natürlich allgemein in Frage, dies sei ja bereits am Jenaer Parteitag beschlossen worden. Die Diskussion, ob er in der gegenwärtigen Situation angebracht ist oder nicht, solle man jedoch nicht in der Öffentlichkeit führen, da man dadurch dem Feind seine Schwachstellen offenbare. “Die ganze Diskussion wäre ebenso zweckmäßig, als wollte man einen Kriegsrat darüber, ob man dem Gegner eine Schlacht liefern soll, in Hörweite des Feindes abhalten” (4), schreibt er.

Diskutiere man die Frage des Massenstreiks “unter sich” sei es etwas anderes. Kautsky hoffte, Luxemburgs Artikel habe nicht den Erfolg, in der Parteipresse eine Diskussion zu der Frage zu entfachen, in welcher “die eine Seite ihre Gründe für die augenblickliche Aussichtslosigkeit des Massenstreiks auseinandersetzte”. Ob sie Recht hätten oder nicht – eine derartige Diskussion wirke keinesfalls anfeuernd für die Aktion der Massen. Anstelle dieser Frage will Kautsky sich vielmehr damit auseinandersetzen, ob es für die Sozialdemokratie nun notwendig ist, den Massenstreik “mit allen Mitteln schon für die nächste Zeit anzustreben”. (5)

Luxemburg antwortet Kautsky darauf (Ermattung oder Kampf? Neue Zeit, 28. Jahrgang, 2. Band 1910), das Thema Massenstreik sei nicht von ihr erfunden, es wurde davor bereits diskutiert und dazu publiziert. So wurde in Halle in formellen Anträgen dem Parteivorstand die Befassung mit der Frage des Generalstreiks nahegelegt. In Königsberg, Essen, Breslau und Bremen wurde beschlossen, Vorträge mit Diskussionen über den Massenstreik abzuhalten. In einer öffentlichen Versammlung hatte Genosse Pokorny vom Bergarbeiterverband in Essen den Massenstreik in Aussicht gestellt und die Hoffnung ausgesprochen, dass in den kommenden Aktionen den Bergarbeitern eine führende Rolle zufalle. Auch bei den Versammlungen, wo Luxemburg selbst gesprochen hatte, fand die Losung des Massenstreiks stürmischste Zustimmung unter den ArbeiterInnen. Kampfesstimmung und der Wille zum Kampf sind also unter den ArbeiterInnen gegeben, nur ignoriert dies das Parteizentralorgan.

Es wurden für die „Neue Zeit“ sogar Sätze aus Berichten gestrichen, die mit dem Massenstreik zu tun hatten. Es besteht, so Luxemburg, “ein so gespanntes Interesse für die Idee des Massenstreiks, wie noch nie bis jetzt in Deutschland”. (6) Eine Diskussion über den Massenstreik zu unterbinden – was nicht zum ersten Mal versucht werde – sei unmöglich. Aus dem einfachen Umstand, dass die Sozialdemokratie keine Sekte ist, sind alle vergangenen Versuche gescheitert, die Diskussion des Massenstreiks zu verbieten (Kölner Gewerkschaftskongress 1905, Salzburger Parteitag 1904). Betrüblicher als der Versuch, die Diskussion zu unterbinden, sei – so Luxemburg – die allgemeine Auffassung, die vom Massenstreik herrscht.

Die Erfahrungen der Russischen Revolution werden ignoriert und v.a. das ganze Konzept, das sich der Parteivorstand offenbar unter einem Massenstreik vorstellt, ist ernüchternd. Dieser sei kein Werkzeug, das man zur Hand nehmen und wieder zusammenklappen könne, er entstehe nicht durch einen geheimen Vorstandsentschluss. Kraft und Schwäche hingen von den politischen und sozialen Verhältnissen ab. Kautskys Formulierung eines “Kriegsrats in Hörweite des Feindes” zeige dieses Verständnis auf, nach dem der Massenstreik “demnach ein schlau ersonnener Coup” (7) wäre.

Im Gegensatz dazu muss die Sozialdemokratie aber ihre Taktik mit den Massen, also öffentlich diskutieren. Dann wendet sie sich Kautsky’s nächstem Argument zu: Eine Debatte über den Massenstreik wirke nicht anfeuernd zur Aktion. Luxemburg erwidert, dass eine öffentliche Diskussion auf jeden Fall sinnvoll ist, da es gut und billig ist, wenn entweder vor den Augen der Massen die Richtigkeit oder die Unrichtigkeit des Anstrebens eines Massenstreiks aufgezeigt wird. Sofern Kautsky verhindern wollte, dass die Gewerkschaftsführer ihre „Kanonen“ gegen den Massenstreik richten, unterliegt diesem Punkt wieder eine falsche Grundlage: ein technisches Verständnis der Macht der Gewerkschaften, wo abermals die Führer geheime Pläne aushecken. Treten in einer solchen Situation der bereitwilligen Kampfesstimmung die Gewerkschaftsführer gegen die Massen auf, so sind es nicht die Massenstreikpläne, sondern die Autorität der Gewerkschaftsführer, um die gefürchtet werden muss. Es könnte – vor dem Hintergrund der großen Kampfesstimmung – gar nichts wünschenswerter sein, als ein öffentliches Auftreten der Gewerkschaftsführer gegen den Massenstreik. Luxemburg betont den Aspekt, dass ein Massenstreik nicht von oben gemacht wird und dass die Arbeiterklasse sich nur selbst befreien kann, was konkret auch bedeutet, dass ein Massenstreik aus der massenhaften Stimmung dafür entsteht. Deswegen befürwortet sie es, dass der Massenstreik möglichst breit diskutiert wird. „Ob ein Massenstreik möglich, notwendig oder angebracht ist, würde sich dann aus der weiteren Situation und aus der Haltung der Masse ergeben“. (8)

Luxemburg beleuchtet, wie merkwürdig es ist, dass Kautsky für mehrere mögliche Szenarien vermerkt, es sei dann notwendig, den Massenstreik anzuwenden. Wenn dem so ist, so Luxemburg, dann „ergibt es sich von selbst, dass es unsere Pflicht ist, auch den Massen alle diese Eventualitäten vor Augen zu stellen, jetzt schon in möglichst breiten Kreisen des Proletariats Sympathie für diese Aktion zu wecken“ (9), damit die Arbeiterklasse nicht überrumpelt wird, nicht blindlings, nicht unter Affekt, sondern vollends bewusst mit sicherem Gefühl der eigenen Kraft und möglichst massenhaft den Kampf beginnt. Die marxistische Auffassung besteht gerade in der Beachtung des Klassenbewusstseins. In diesem Sinne sei ein Massenstreik – wie der Kampf um das Wahlrecht – nur Mittel zur Klassenaufklärung und Organisation dieser. Deswegen sei es unerklärbar, wie man der Masse die Befassung mit dieser Frage vorenthalten kann.

Streikarten

Nach den Überlegungen zur Frage, ob und in welcher Form es überhaupt Sinn mache, das Thema zu diskutieren, stellt Kautsky folgende Bedingung auf: Er hält es für unerlässlich, hinsichtlich des Massenstreiks zwischen Demonstrations- und Zwangsstreik zu unterscheiden und möchte gern von Genossin Luxemburg Klarheit darüber, welche Form der von ihr skizzierte Massenstreik haben solle. Die beiden müssten “streng auseinandergehalten” werden, da sie andere Bedingungen voraussetzten und eine andere Taktik erforderten. Ein Zwangsstreik versuche, Regierung oder Parlament zu etwas zu zwingen – gelingt dies nicht, sei er gescheitert. Ein Demonstrationsstreik hingegen sei von begrenzter Dauer und nicht an Resultate gebunden. Letzterer kann lokal beschränkt bleiben, ein Zwangsstreik müsse dagegen allgemeiner Natur sein. Propagiere man den Massenstreik ungeachtet dieser, laut Kautsky notwendigen, Trennung, laufe man Gefahr, “bei lebhafteren Naturen wider unseren Willen den Gedanken des Zwangsstreiks großzuziehen und Aktionen hervorzurufen, die wir nicht beabsichtigen, die weder der Situation noch den Kräfteverhältnissen entsprechen und zu Niederlagen führen. Vergessen wir nicht, dass der Massenstreik als Zwangsstreik unsere letzte (Hervorhebung Kautskys) Waffe ist, die wir einzusetzen haben.” (10)

Sollte Genossin Luxemburg ihn auf Russland 1905 verweisen wollen, falle die dortige Situation unter die Kategorie “Revolution”, was in Preußen nicht der Fall sei. Aus westeuropäischen Ländern ist Kautsky keine Vereinigung von Wahlrechtskampf mit ökonomischen Forderungen bekannt. Dass es dazu nicht kam, ergibt sich für Kautsky daraus, dass die “Verquickung des allen Arbeitern gemeinsamen politischen Kampfesziels mit besonderen, für verschiedene Arbeitszweige verschiedenen gewerkschaftlichen Zielen” ein Mittel böte, “die einzelnen Arbeiterschichten voneinander zu isolieren. Wie dadurch der Massenstreik als Mittel des Wahlrechtskampfes gestärkt werden soll, ist mir nicht ganz klar.” (11)

Illustriert bedeutet diese These: Kombiniert man z.B. die Kämpfe von Grubenarbeitern um ökonomische Forderungen mit der Wahlrechtslosung, würden die Grubenbesitzer den ökonomischen Forderungen nur nachgeben, um die Bestreikung des Betriebes aufzuheben. Dies würden sie jedoch nicht tun, wenn die Werktätigen aufgrund der Wahlrechtsforderungen dann weiterstreiken würden. Somit wären dann die Grubenarbeiter von der Wahlrechtsbewegung isoliert. Der Blick ins Ausland nütze nichts, geht Kautsky erneut auf Russland ein, da die Bedingungen dort andere sind. Auch wenn Luxemburg sich auf die Kämpfe, die in Belgien stattgefunden haben, bezieht, merkt er an, dass diese das gleiche Wahlrecht nicht erfolgreich erstritten haben. “Mit diesem Beispiel kommen wir also auch nicht weit.” (12)

Luxemburg antwortet Kautsky, sein Trennen der Streikarten hätte vielleicht auf dem Papier Bestand, aber auf der Straße, wo das Leben alles durcheinander werfe, nicht. Luxemburg lehnt Kautskys Position ab, dass die russischen Lehren keine Gültigkeit für Deutschland hätten, bloß weil er sie als „Revolution“ etikettiere. Als Beispiel für den fließenden Wechsel zwischen ökonomischen und politischen Forderungen bringt sie die belgische Wahlrechtsbewegung.

Dort kam es 1886 zu einem “Sturm wirtschaftlicher Kämpfe”. (13) Erst fand ein Streik der Bergarbeiter statt, dem in fast allen Städten und Branchen des Landes Streiks folgten, in denen Lohnforderungen im Vordergrund standen. Aus diesen ökonomischen Kämpfen entwickelte sich die Wahlrechtsbewegung Belgiens. Zu den Lohnforderungen gesellte sich die Forderung des allgemeinen Wahlrechts. Am 15. August 1886 veranstaltete die belgische Sozialdemokratie, die durch den wirtschaftlichen Kampf erregte Stimmung nutzend, eine Massendemonstration für das allgemeine Wahlrecht in Brüssel.

Ähnlich war es 1891. Ein großer politischer Massenstreik erzwang die Durchsetzung einer Wahlrechtsvorlage. Dieser fand zusammenhängend mit dem Kampf um den Achtstundentag statt, als Produkt einer Reihe gewerkschaftlicher Aktionen und direkt angestoßen durch die vorhergegangene Maifeier. Dieser erste Wahlrechtsmassenstreik vereinte die vorhergehenden Branchenstreiks von Bergarbeitern, Eisen- und Stahlwerken, Tischlern, Zimmerern, Hafenarbeitern u.a., die im Kampf um den Achtstundentag entstanden waren.

Auch nach Beendigung des Massenstreiks – angesichts von Zugeständnissen der Regierung – setzten die Bergarbeiter in Charleroi ihren Streik fort, um eine Verkürzung der Arbeitszeit und Lohnerhöhungen zu erringen. Auch im Folgejahr 1892 fanden vor dem Hintergrund einer latenten Wirtschaftskrise mehrere Streiks zur Abwehr von Lohnkürzungen statt, schließlich am 8. November 1892 ein Demonstrationsmassenstreik und im Dezember 1892 einige Arbeitslosendemonstrationen. Die Bewegung entwickelte sich also, wie Luxemburg betont, “in beständiger Wechselwirkung der Demonstrations- und der ‚Zwangsstreiks’” (14), welche den großen Wahlrechtsmassenstreik im Jahre 1893 vorbereitete.

Auch Beispiele aus Deutschland kann sie anbieten, so Baugewerbekämpfe und die Sympathie zwischen diesen und der Wahlrechtsbewegung. Desgleichen die Mai-Feier, wo der Kampf um den Acht-Stunden-Tag mit Wahlrechtsforderungen verbunden wurde, was nach Kautskys Konzept ein Fehler sei. Was Kautsky vorschlägt, also das Trennen der Kampfformen, macht, so Luxemburg, nur Sinn, wenn man den Kampf rein “im Sinne des bürgerlichen Liberalismus (…) nur als politischen Verfassungskampf“ (15) führen wolle, während dies im Sinne einer proletarischen Taktik, als “Teilerscheinung unseres allgemeinen sozialistischen Klassenkampfes“ (16) als zweckwidrig und unmöglich erscheint. Es hieße, “die Kraft und den Schwung der Wahlrechtsbewegung künstlich lähmen, ihren Inhalt ärmer machen, wollten wir nicht alles in ihr aufnehmen, sie nicht von allem tragen lassen, was die Lebensinteressen der Arbeitermassen berührt, was in den Herzen dieser Massen lebt.” (17)

Dieses „pedantisch-engherzige“ Agieren schadete der deutschen Sozialdemokratie bereits 1908 und 1909, als der “erste Demonstrationssturm der preußischen Wahlrechtsbewegung losbrach und gleichzeitig die Arbeiterklasse eben die Schrecken der wirtschaftlichen Krise zu spüren bekam.“ (18) Die zahlreichen, durch die Krise auf die Straße geworfenen, Arbeitslosen veranstalteten Versammlungen und Demonstrationen. Doch die Führung der SPD trennte diese Kämpfe, anstatt die eine Bewegung durch die andere zu stärken. Nach Kautskys Schema “ein weises Stück Ermattungsstrategie”, wie Luxemburg satirisch anmerkt. Kautsky macht also nichts anderes, als die praktischen Fehler der Partei theoretisch zu untermauern. Jene, die – so Luxemburg – nichts lieber täten, als öffentliche Veranstaltungen nur im kleinen Kreis bereits Organisierter abzuhalten und “die ganze Wahlrechtsbewegung als ein unter strengem Kommando der oberen Instanzen nach genauem Plane und Vorschrift ausgeführtes Manöver” auffassen, “statt in ihr eine große historische Massenbewegung, ein Stück des großen Klassenkampfes zu sehen, der aus allem seine Nahrung schöpft, was den heutigen Gegensatz zwischen dem Proletariat und dem herrschenden Klassenstaat ausmacht.” (19)

Kautsky antwortet Luxemburg, indem er die eigene Position abschwächt: „Aber wann habe ich je geleugnet, dass ökonomische und politische Aktion einander stützen, wann habe ich gesagt, zur Zeit eines Wahlrechtskampfes seien wirtschaftliche Kämpfe als schädlich zu meiden? Gerade in meiner Erwiderung an die Genossin Luxemburg habe ich betont, daß der Wahlrechtskampf aus ökonomischen Gegensätzen und Kämpfen seine stärkste Kraft ziehe“. (20) Genossin Luxemburg renne also offene Türen bei ihm ein. Es handle sich nicht darum, „ob während der Jahre eines Wahlrechtskampfes nicht ökonomische Kämpfe vorkommen und auf jenen zurückwirken können, sondern darum, welcher Art der bestimmte nächste Massenstreik sein soll, den die Genossin Luxemburg erwartet. (…) Will sie behaupten, dass in Westeuropa irgendwo ein bestimmter Streik vorkam, der gleichzeitig mit politischen Forderungen der Gesamtheit des Proletariats an Regierung und Parlament auch ökonomische Sonderforderungen einzelner Arbeiterschichten an einzelne Kapitalistengruppen durchzusetzen suchte?“ (21)

Die Erkenntnis, dass Demonstrations- und Zwangsstreiks einander mitunter folgen, sei unleugbar richtig, biete aber wenig Aufschluss darüber, welcher Art die Parole des Massenstreiks sein solle. Luxemburgs Bild des Massenstreiks sei nicht klar. Wie Faust mit dem Hexentrank im Leibe in jeder Frau Helena sieht, so sehe sie in jedem Streik ein Muster des kommenden Massenstreiks. Seine mechanische Denkweise zeigt sich sehr klar in folgendem Absatz:

“Den Anstoß zur Massenaktion können nicht die Leitungen der proletarischen Organisationen geben, sondern nur die Massen selbst: (…) Diese selbe Massenaktion soll aber nach der Genossin Luxemburg ganz davon abhängen, dass dazu der Masse von der Partei die Parole ausgegeben wird, die einzig den durch sie begonnen Kampf weiter vorwärts treiben kann.

Wird im ‚gegebenen Moment‘ diese Parole nicht gegeben, dann bemächtigt sich der Masse eine Enttäuschung, die Aktion bricht in sich zusammen. Auf der einen Seite kann also der Massenstreik nicht gemacht werden; er entsteht von selbst. Auf der anderen Seite wird er durch eine Parole der Partei gemacht. Zuerst ist die Masse der Ursprung und Träger der ganzen Aktion. Dann wieder vermag die Masse gar nichts, wenn ihr nicht die Parole zugerufen wird.” (22)

Hier offenbart sich sehr deutlich das Unverständnis Kautskys für die Beziehung zwischen Partei und Masse. Wo er nur Widersprüche sieht, existiert ein organisches Verhältnis. Einerseits kann die Partei einen Kampf nicht erfinden oder künstlich beschwören, andererseits kann ein Kampf der Masse in sich zusammenfallen, wird er nicht durch die Partei vorangetrieben, koordiniert und geführt. Lassen wir Luxemburg antworten:

Sie stellt hierzu in “Die Theorie und die Praxis“ (Neue Zeit, 28. Jahrgang, 2. Band, 1910), mit unmissverständlicher Klarheit fest, dass weder das “geheimnisvolle Aushecken von großen Plänen” noch das “Warten auf Elementarereignisse” die Aufgabe der Sozialdemokratie sei, sondern Massenstreiks nicht auf Kommando gemacht werden, “sie müssen aus der Masse und ihrer fortschreitenden Aktion” sich ergeben. Aufgabe der Sozialdemokratie sei es dann eben, diese Aktion “politisch (Hervorhebung Luxemburgs) im Sinne einer energischen Taktik, einer kräftigen Offensive so vorwärts zu führen, dass die Masse sich ihrer Aufgaben immer mehr bewusst wird”. Zwar vermag es die Sozialdemokratie nicht, künstlich eine revolutionäre Massenbewegung zu schaffen, “sie kann aber wohl unter Umständen durch ihre schwankende, schwächliche Taktik die schönste Massenaktion lähmen.“ (23) Als Beispiel nennt sie die 1902 “abkommandierte” Wahlrechtsbewegung in Belgien.

Dieser Gedanke wird auch von Leo Trotzki im Vorwort zu “Geschichte der russischen Revolution” beschrieben:

“Nur auf Grund des Studiums der politischen Prozesse in den Massen selbst kann man die Rolle der Parteien und Führer begreifen, die zu ignorieren wir am allerwenigsten geneigt sind. Sie bilden, wenn auch kein selbständiges, so doch ein sehr wichtiges Element des Prozesses. Ohne eine leitende Organisation würde die Energie der Massen verfliegen wie Dampf, der nicht in einem Kolbenzylinder eingeschlossen ist. Die Bewegung erzeugt indes weder der Zylinder noch der Kolben, sondern der Dampf.” (24)

Niederwerfungs- vs. Ermattungsstrategie

Den Kernpunkt in Kautsky’s erster Argumentation – wir werden noch sehen, dass er diesen Kernpunkt später zu anderen Argumenten verlagert – bildet die “Ermattungsstrategie”. Kautsky definiert diese mit Anleihen militärischen Vokabulars folgendermaßen: “Bei der Ermattungsstrategie dagegen weicht der Feldherr zunächst jeder entscheidenden Schlacht aus; er sucht die gegnerische Armee durch Manöver alle Art stets in Atem zu erhalten, ohne ihr Gelegenheit zu geben, ihre Truppen durch Siege anzufeuern; er strebt danach, sie durch ewige Ermüdung und Bedrohung allmählich aufzureiben und ihre Widerstandskraft immer mehr herabzudrücken und zu lähmen”. Und: “Zur Ermattungsstrategie wird sich ein Feldherr nur dann verstehen, wenn er keine Aussicht hat, durch die Niederwerfungsstrategie zu seinem Ziele zu kommen.” (25)

Die Zeiten der Niederwerfungsstrategie seien vorbei, so Kautsky. Sie passten bei einem politischem Zustand, wo eine Großstadt dominiert, bei schlechteren Transportmöglichkeiten, “die es unmöglich machten, rasch große Truppenmassen aus dem Lande zusammenzuziehen” sowie bei Straßenbau und Militärtechnik, die Chancen für den Straßenkampf boten. Durch allgemeines Wahlrecht, Koalitionsrecht, Pressefreiheit und Vereinsfreiheit sei nun aber die Grundlage gelegt, für “die neue Strategie der revolutionären Klasse”, wobei sich Kautsky vor allem auf Engels´ Vorwort zu den “Klassenkämpfen in Frankreich” von Karl Marx beruft. Natürlich räumt Kautsky ein, dass eine unbestimmte letzte Schlacht notwendig sein werde. “Die Ermattungsstrategie unterscheidet sich von der Niederwerfungsstrategie nur dadurch, dass sie nicht, wie diese, direkt auf den Entscheidungskampf losgeht, sondern ihn lange vorbereitet und sich ihm erst dann stellt, wenn sie den Gegner genügend geschwächt weiß.” (26) Kampfaktionen wie den Massenstreik hält Kautsky für angebracht, wenn “unsere Gegner, durch das unaufhaltsame Wirken unserer Ermattungsstrategie zur Verzweiflung gebracht, eines schönen Tages einen Gewaltstreich versuchen.” (27) Dadurch könne der Massenstreik ein Mittel werden, um von der Ermattungs- zur Niederwerfungsstrategie überzugehen.

Die Frage, ob man auf den Ausbruch eines Massenstreiks hinarbeiten solle, sei daher die Frage, ob es angebracht ist, von der Ermattungs- zur Niederwerfungsstra-tegie überzugehen. In Kautskys Worten: “ob die Fortführung der bisherigen Ermattungsstragie unserer Partei jetzt schon unmöglich geworden ist oder unsere Partei schwer bedroht ist.” (28)

Um diese Frage zu beantworten, stellt Kautsky Bedingungen für den sinnvollen Übergang von der Ermattungs- zur Niederwerfungsstrategie auf. Wenn der Feind “uns von unserer Basis abzuschneiden oder diese selbst wegzunehmen” droht, “wenn sie die eigenen Truppen demoralisiert und entmutigt, wenn wir in eine Sackgasse geraten sind, in der wir nur die Wahl haben zwischen Niederwerfung des Feindes und schimpflicher Kapitulation.” (29)

Den Beschluss des Parteitages von Jena legt er so aus, dass der Massenstreik dann ins Auge gefasst werden solle, wenn die erste dieser Bedingungen erfüllt ist. Auch werde der Massenstreik nicht notwendig, weil nur durch stete und rasche Steigerung der Aktionsmittel “die Massen an unsere Fahne geheftet werden könnten.“ (30)

Als Beispiel einer „glänzenden Massenbewegung“ ohne Zuspitzung nennt Kautsky Österreich, wo von 1894 bis 1905 eine solche in Gang gehalten worden wäre, „und doch verschwand nicht ihr Elan, brach ihre Aktion nicht zusammen.“ (31)

“Wenn die Sozialdemokratie von ihren Anfängen an die Ermattungsstrategie akzeptierte und zur Vollkommenheit entwickelte, so geschah es nicht bloß deshalb, weil die damals gegebenen politischen Rechte ihr eine Basis dazu boten, sondern auch deshalb, weil die Marxsche Theorie des Klassenkampfes ihr die Gewähr gab, dass sie auf das klassenbewusste Proletariat stets rechnen kann, solange sie seine Klasseninteressen energisch verficht, mag sie die Massen durch Erfolge oder neue Sensationen begeistern oder nicht.” (31) Die Gefahr, dass die Massen enttäuscht werden, dass „Erschlaffung und Mutlosigkeit” eintritt, sei dann gegeben, wenn die Sozialdemokratie “mehr verspricht, als sie zu leisten vermag”. Würde die Partei, wie Kautsky es Luxemburg unterstellt, Propaganda für den Massenstreik entfalten und erklären, Straßendemonstrationen genügen nicht, eine rasche stete Steigerung der Mittel der Massenaktion sei erforderlich, dann werde man in kürzester Zeit vor dem Dilemma stehen, “entweder die Massen aufs tiefste zu enttäuschen oder mit einem gewaltigen Satze dem Junkerregime an die Gurgel zu fahren, um es niederzuwerfen oder von ihm niedergeworfen zu werden.” (32) Diese Situation sei aber nicht gegeben, man sei noch frei in der Wahl seiner Mittel.

Ein Dilemma, dass die Massen sich von der Partei abwenden, greift sie nicht zu schärferen Mittel, besteht also laut Kautsky so lange nicht, wenn die Partei nicht selbst Erwartungen schaffe, die über ihr Vermögen hinausgingen. Nur eine Situation sieht Kautsky, in der er es für sinnvoll hält, zur Niederwerfungsstrategie überzugehen: Wenn die Regierung in einer “Klemme sich befände, die es gelte, aufs rascheste auszunutzen”. Von dieser, für ihn “entscheidenden Frage” (33), hänge ab, ob eine Durchführung des Massenstreiks im gegebenen Moment zweckmäßig sei.

Erst nachdem die Partei eine Massenpartei geworden war und diese Massen in größte Erregung geraten waren, so Kautsky, sei es möglich, dass die Straßendemonstration “ihren gewaltigen Umfang und ihre tiefe Wirkung erreicht”, “Begeisterung und Ermutigung in den Massen, Verwirrung und Kopflosigkeit bei der Regierung und den Regierungsparteien hervorgerufen” (34) haben. Ursachen für diese Erregung sind z.B. die Teuerung der Lebensmittel, das Wettrüsten und Wachstum des Steuerdrucks. Aus all dem bleibe der Bourgeoisie nur der Krieg als Weg. Diese Verhältnisse führen international zu wachsender Erregung der Massen und zu “wachsenden Gegensätzen der herrschenden Klassen untereinander”, wobei er konkret “Kleinbürger, Intellektuelle, Händler und kleinere Kapitalisten” nennt, die in Widerspruch zu “Grundbesitz, hohe Finanz und große industrielle Monopolisten” (35) geraten würden. Das preußische Junkertum verdanke mehr der brutalen Gewalt als jede andere Klasse Europas und kehre diese gegenüber dem Proletariat und seiner Klassenpartei besonders heraus. Aber auch “die bürgerlichen Massen und Parteien” bekommen diese in “immer höherem Grade” zu spüren, wobei er sich auf ökonomische Momente bezieht. Das Junkerregime treibe v.a. die arbeitenden Schichten in den Schoß des Wahlmandats der Sozialdemokratie. “Das sind die Gründe, (…) die die allgemeinen Reichtagswahlen im nächsten Jahre zu einem furchtbaren Tage des Gerichts für die Regierung der preußischen Junker und deren ganze oder auch nur halbe Bundesgenossen zu machen droht. Gegnerische Wahlstatistiker rechnen bereits mit der Möglichkeit, dass wir bei den kommenden Wahlen 125 Mandate erobern.” (36)

Es sei auch kein Grund zur Annahme vorhanden, die wirkenden Ursachen für die Empörung der Massen und ihrer Begeisterung für die Sozialdemokratie würden bis zu den nächsten Jahren verrauchen. Es sei genauso falsch zu behaupten, mit dem Schwinden der Arbeitslosigkeit werde auch der Kampfeswillen der Arbeiter schwinden, da diese auch bei wirtschaftlichem Aufschwung nur Teuerung zu spüren bekämen, wie zu behaupten, in Zeiten der Krise seien die Arbeiter zaghaft und kampfunfähig, da sie dann froh sein müssten, eine Arbeit zu haben. Richtig sei, dass “jede Aktion des Proletariats Hindernisse findet, sowohl zur Zeit der Krise wie zur Zeit der Prosperität, die sie beeinträchtigen.” (37) Darauf müsse ein proletarischer Politiker Rücksicht nehmen bei der Wahl seiner Kampfmittel. Kautskys Rezept lautet: “In der Zeit der Krise werden große Straßendemonstrationen leichter durchzuführen sein als Massenstreiks. In der Zeit der Prosperität dürfte der Arbeiter sich für einen Massenstreik leichter begeistern als während der Krise.” (38)

Natürliche gäbe es nicht nur das eine oder das andere, es gibt auch einen Wechsel dazwischen. Und gerade in dieser Periode des Überganges scheinen die Arbeiter am kampfeslustigsten zu sein. Kautsky ist sich sicher, dass die Partei bei den nächsten Wahlen einen großen Sprung vorwärts machen werde, “der die Erreichung der absoluten Mehrheit der abgegebenen Stimmen zu einer Frage weniger Jahre macht.” Ein solcher Sieg bedeutet “nichts geringeres als eine Katastrophe des ganzen herrschenden Regierungssystems. Es unterliegt für mich gar keinem Zweifel, dass die nächsten Wahlen dieses System in seinen Grundfesten erschüttern werden.” (39) Dies lasse dem Junkerregime drei Möglichkeiten: Entweder “westliche Methoden zur Abwehr der steigenden Flut des Sozialismus”, womit er “erhebliche Konzessionen” meint, namentlich das Reichstagswahlrecht für Preußen. Oder, was er für wahrscheinlicher hält, brutale Gewaltstreiche. Oder drittens ein kopfloses Schwanken zwischen A und B, wodurch die “Flamme nur angeblasen” werde, die sie ersticken wollten. Wie auch immer, die nächsten Wahlen “müssen eine Situation schaffen, die für unsere Kämpfe eine neue und breitere Basis erzeugt; eine Situation, die, wenn eine der beiden letzterwähnten Alternativen eintritt, allerdings durch ihre innere Logik rasch sich immer mehr zuspitzt zu großen Entscheidungskämpfen, die wir aber auf der neuen, breiten Basis ganz anders auszukämpfen imstande sein werden als heute.” (40)

Und weiter: “Den Schlüssel zu dieser gewaltigen historischen Situation, den überwältigenden Sieg bei den nächsten Reichtagswahlen, haben wir bei der ganzen Konstellation der Dinge heute bereits in der Tasche. Nur eines könnte bewirken, dass wir ihn verlieren und die glänzende Situation für uns verpfuschen: eine Unklugheit von unserer Seite. Eine solche wäre es, wenn wir uns durch Ungeduld verleiten ließen, die Früchte pflücken zu wollen, ehe sie reif geworden sind; wenn wir eine Kraftprobe vorher provozieren wollten auf einem Terrain, auf dem uns der Sieg keineswegs sicher ist.” (41) Gewiss könne ein Feldherr kaum große Triumphe feiern, wage er nichts. Jedoch: “wenn man durch die Gunst der Verhältnisse und ihre geschickte Ausnutzung dahin gelangt ist, einen unzweifelhaften großen Sieg vor sich zu sehen, wenn dieser Sieg durch nichts gefährdet werden kann als durch den Übergang zu einer neuen Strategie, die eine Schlacht auf einem unübersichtlichen und zweifelhaften Kampfterrain provoziert, dann ist es eine gewaltige Torheit, eine der artige Schlacht vor dem sicheren Siege heraufzubeschwören und dadurch diesen selbst zu gefährden.” (42)

Ein Kampf, so Kautsky, kann ein moralischer Sieg sein, trotz einer materiellen Niederlage. “Wenn der Kampf von unserer Seite so glänzend geführt wurde, dass wir selbst dem Gegner Achtung abnötigen, und wenn er unvermeidlich war, uns von den Gegnern aufgenötigt wurde.” (43) Von den Gewerkschaftskämpfen dieses Jahres erwartet er sich eine Steigerung der Verbitterung und eine Verstärkung des Wahlrechtskampfes, auch wenn diese nicht materiell so erfolgreich werden sollten wie gewünscht. Jedoch würde diese Verstärkung in ihr Gegenteil verkehrt, brächte man sich selbstverschuldete Niederlagen bei. “Niederlagen, dadurch hervorgerufen, dass wir aus freien Stücken das Proletariat in schwere Kämpfe mit höchst zweifelhaftem Ausgang verwickelt hätten, ohne es zu müssen, ohne uns darum zu kümmern, ob es ihnen gewachsen sei oder nicht (…).

Die schlimmste Niederlage aber wäre es – und auch diese Möglichkeit ist in Betracht zu ziehen -, wenn wir das Proletariat zum politischen Massenstreik aufriefen und es nicht in überwältigender Überzahl dem Appell folgte.” (44)

Luxemburg erwidert diesem Konstrukt, dass, wenn man Kautskys Argumentation folge, Straßendemonstrationen sogar vehementer als Massenstreiks abgelehnt werden müssten und zeigt, wie bereits seit Jahren auf Parteitagen Anträge zum Streik vorliegen und auch angenommen wurden.

Luxemburg zeigt auf, dass Kautsky im Prinzip will, dass Demonstrationen nicht vorwärts und nicht rückwärts gehen. Er will Massenaktionen, die sich weder zuspitzen, noch abschwächen. Dabei sind Demonstrationen selbst nicht die Lösung eines politischen Problems, sie sind der Anfang, nicht das Ende einer Massenbewegung. Sie werfen automatisch die Frage auf: „Wie weiter?“, sie schaffen eine Zuspitzung. Luxemburg widerlegt – gespickt mit Zitaten aus Österreich – das Beispiel Kautskys, nach dem in Österreich über 12 Jahre eine Massenbewegung ohne Zuspitzung stattgefunden haben soll. In Wirklichkeit gab es in dieser Bewegung 7 Jahre Stillstand, zu Beginn und Ende (inspiriert durch die Kämpfe erst in Belgien und dann in Russland) wahrhafte Massenaktionen, die den Massenstreik ernsthaft und vollends vorbereiteten – und Siege brachten.

Zudem sei man nicht – wie in Österreich über die erwähnten Zwischen-Jahre – in der Situation, eine Kampfeslust in den Massen schaffen oder erfinden zu müssen, diese ist vorhanden. Man müsse sie nur ausnutzen, in politische Losungen fassen und umprägen. Die Massenstreiklosung sei damit ein Mittel, um aufzurütteln, um neue Horizonte zu zeigen und proletarische Anhänger bürgerlicher Schichten herüberzuziehen, die Massen für alle Eventualitäten bereit zu machen und endlich in wirksamster Weise auch für die Reichtagswahlen vorzuarbeiten.

Kautsky will also die bereits auf neuen Bahnen vorgeschrittene Parteibewegung in die alten ausgetreten Geleise des reinen Parlamentarismus zurückpferchen. Luxemburg skizziert, dass die Partei ohnehin großes Gewicht auf Wahlen legt. Kautsky hat nur einen ideologischen Schirm für Zögerer und Nur-Parlamentarier geschaffen. Weitere Aussichten der Wahlrechtsbewegung fordern gerade eine Fortsetzung und machtvollere Entfaltung der Massenaktion. Die Aktion der Gegner ist mit ihrem Latein am Ende, die Aktion des Proletariats muss umso nachdrücklicher erfolgen. Nicht tröstliche Erwartungen und Revanche in 1,5 Jahren sondern jetzt, Schlag um Schlag, müsse man handeln.

Kautsky antwortet Luxemburg darauf, in dem er ihre Argumentation dort rezitiert, wo sie anführt, dass sich die Kämpfe zuspitzen müssen, um Erfolge zu bringen, und neben anderen Staaten auch Österreich nennt. Gerade Österreich sei aber, meint Kautsky, kein Beispiel hierfür, da es einerseits nicht zum Massenstreik gekommen sei und andererseits die Bewegung sich auch nicht zugespitzt habe. Nun verwundert es Kautsky, wie es sein könne, dass Luxemburg Österreich erst als eines der Beispiele nennt, wo der Massenstreik bzw. das Zuspitzen zum Erfolg geführt habe, um dann Österreich als ein Beispiel zu nennen, wo die Massenaktion zusammengebrochen ist, weil sich die Kämpfe nicht zuspitzten. Beides sei aber ohnehin gleich falsch. Wahr ist laut Kautsky, dass die Wahlrechtsbewegung Österreichs aufgrund eines Sieges eine Zeit lang ruhte. Nach Konzessionen im Wahlsystem war es „ganz natürlich“, dass die Massen sich erstmal auf die Wahlen konzentrieren und nicht direkt in Folge für den Kampf um das allgemeine, gleiche Wahlrecht zu gewinnen waren.

Zur Frage von Ermattungs- versus Niederwerfungsstrategie will sich Kautsky nur noch kurz auslassen. Als Ermattungsstrategie bezeichne er jene Taktik, die seit den 1860er Jahren verfolgt werde, die zu einer beständigen Stärkung der Kräfte der Sozialdemokratie und einer beständigen Schwächung jener der Reaktion führte, „ohne sich dabei zu einer Entscheidungsschlacht provozieren zu lassen, solange wir die Schwächeren sind.“ (45) Dazu gehörre nicht nur Parlamentarismus, sondern auch „glücklich ausgefochtene Lohnbewegungen und Straßendemonstrationen.“ Davon, „Nurpalamentarismus“ zu predigen, sei er weit entfernt. Es gäbe jedoch kaum ein Mittel „außer einem siegreichen Massenstreik, das so große moralische Wirkung böte wie ein großer Wahlsieg.“ Nichts sei so erfolgreich wie Erfolg. Je größer die Partei, desto größer ihr Zustrom. „Es gibt aber wenige Erfolge, die so sinnenfällig der Masse unsere steigende Kraft dokumentieren, wie Wahlsiege, wie die Eroberung neuer Mandate.“ Die gegenwärtige Situation sei eine solche, die es nun ermögliche, „einen Wahlsieg von einer Wucht zu erkämpfen, die ihn zu einer Katastrophe für das herrschende Regierungssystem gestaltet.“ (46)

Kautsky resümiert: Das Maß der Erregung habe „noch nicht jene Höhe erreicht, die allein unter deutschen Verhältnissen einen siegreichen Massenstreik erwarten lasse”. Sei ein solcher aber unter den gegebenen Umständen nicht zu erwarten, dann gebe es nur ein Mittel, die Aktion über das erreichte Stadium hinauszutreiben: „die nächsten Reichstagswahlen.“ Vor dem Hintergrund eines großen Wahlsieges könne eher eine Massenaktion entspringen, die in einem Massenstreik ende, „für dessen siegreichen Ausgang dann die Vorbedingungen weit günstiger lägen als heute.“ Den Massenstreik habe er nicht für jetzt abbestellt, um ihn für die Zeit nach den Wahlen anzukündigen, er sei ein Elementar-ereignis, „dessen Eintreten nicht nach Belieben herbeizuführen ist, das man erwarten, nicht aber festsetzen kann.“ Luxemburg spreche auch selbst nicht mehr von der Notwendigkeit des Massenstreiks, sondern nur von dessen Erörterung. Für ihn bleibt nur „ein Bündel Fragezeichen“, da er sich nicht erklären kann, ob Luxemburg nun der Meinung ist, der Zeitpunkt zur Anwendung des Jenaer Beschlusses sei gekommen, oder nicht, oder ob sie behaupten möchte, er wäre Anfang März gekommen gewesen, „und nur der Redakteur der ‚Neuen Zeit‘ habe die Revolution im Keim erstickt, indem er sich weigerte, seine ‚Schuldigkeit zu tun‘ und den Artikel der Genossin Luxemburg abzudrucken?“ (47)

Unterschiedliche Bedingungen

Kautsky argumentiert die Ablehnung der praktischen Anwendung nun v.a. mit angeblich ganz unterschiedlichen Bedingungen in Russland und Westeuropa bzw. Deutschland. Lernen hieße nicht einfach nachahmen. Nichts sei verkehrter, als die Auffassung, dass die bloße Betrachtung der geschichtlichen Erfolge und Misserfolge die Wege zeige, die zum Erfolg führen. Da sich aber die Bedingungen der ökonomischen und politischen Kämpfe „nie völlig“ wiederholen, haben „zu den verschiedenen Zeiten und in den verschiedenen Ländern daher sehr verschiedene Methoden Erfolge gehabt“. Es sei kaum eine Methode des politischen Kampfes denkbar, „für die sich nicht Belege ihrer Vorzüglichkeit in der Geschichte finden ließen, für jakobinischen Terrorismus und christliche Ergebung“ so wie natürlich für „die aufs ganze gehende Revolution und die schrittweise vordringende Reformation, für Republik und Monarchie, Föderalismus und Zentralismus usw.“

Gerade bei großen Ereignissen wie Revolutionen sei Vorsicht geboten. „So erscheint gerade eine Revolution immer höchst fruchtbar an ‚Lehren‘, die zeigen sollen, wie weitere Revolutionen zum Siege zu führen sind und vor welchen Fehlern man sich dabei zu hüten hat.“ (48) Aber eine große Revolution ändere auch die Bedingungen, die sie vorfand, von Grund auf. Auch wenn sie nicht erreicht, was man sich erhofft, gestalte sie die politischen und sozialen Verhältnisse um und schaffe neue, die neue Methoden des Kampfes und der Propaganda notwendig machen, „so dass wir ganz irregeführt werden, wenn wir nach der Revolution die Lehren ihrer Erfolge und Misserfolge ohne weiteres auf unsere Praxis anwenden wollen.“ (49) Natürlich könne man dennoch daraus lernen, aber man müsse kausale Zusammenhänge erkennen. Nicht durch das Nachahmen von Methoden, „sondern dadurch, dass es (das Land) seine Erfahrungen mit denen anderer Länder vergleicht, deren Erfolge und Misserfolge auf ihre Ursachen zurückführt und untersucht, inwieweit die gleichen Ursachen bei uns bestehen, bestanden oder im Kommen begriffen sind“. (50)

So untersuchte er die Umstände der russischen Revolution von 1905:

• Die russische Regierung sei die schwächste der Welt gewesen. Keine Klasse stand hinter ihr, Korruption, Verschwendung, Desorganisation … all das sei klar hervorgetreten.

• Die Armee erlitt eine furchtbare Niederlage nach der anderen, gegen einen Gegner, den man verlacht und verspottet hatte, was diese von einem Stützpfeiler der Regierung zu einem Mittel der Rebellion gestaltete.

• Eine andere wichtige Stütze, die Bauernschaft, war seit 1905 in Aufständen begriffen.

• Dem zahlreichem gedrückten und erbitterten Proletariat fehlten jegliche Möglichkeiten legaler Betätigung. Ihnen blieb, so Kautsky, nur ein Mittel, um ihre Forderungen kundzugeben und gegen ihr Elend zu protestieren: Der Streik.

Dieser Streik brachte den russischen Arbeiter erst in Fühlung zu anderen, sie gewannen durch ihn das Kraftgefühl der Masse, schöpften daraus Begeisterung, „so wurde der Streik für den russischen Arbeiter eine Lebensnotwendigkeit; es war schon die bloße Tatsache des Streiks, die ihn belebte, ohne Rücksicht darauf, ob er ein Demonstrationsstreik war oder ein Kampfstreik“. (51) Allein die Tatsache des Streiks war dort ein Sieg und wurde zu einer revolutionären Aktion, ungeachtet seines „sonstigen Charakters“. Dies bereits vor 1905, Krieg, Zusammenbruch der Regierung und ökonomische Krise verstärkten dies noch. Der Streik gewann immer mehr einen Charakter des politischen Protests gegen die Regierung und gewann auch immer mehr Sympathien in den Kreisen der bürgerlichen Opposition. Kautsky sieht auch in den Eigenheiten Russlands verstärkende Faktoren hierfür. Diese benennt er wie folgt:

• ungeheure Ausdehnung des Reichs;

• Mangel an Kommunikationsweisen, Eisenbahnen, Postverbindungen, Zeitungen;

• keine ökonomische Einheit; in zahlreiche ökonomisch eigenständige Gebiete zerfallend, deren Proletariermassen ohne Fühlung miteinander seien.

Auch war die Streikbewegung uneinheitlich. Sie brach nicht überall zur gleichen Zeit los, was aber nicht schädigend wirkte, sondern dafür sorgte, dass sie nicht zur Ruhe kam. Die Regierung wiederum konnte sich dadurch nirgends sicher fühlen und ihre Kräfte nicht konzentrieren. Trotz alledem könne er nicht einfach den deutschen Arbeitern zurufen „Gehet hin und tuet desgleichen. Schon Cervantes wusste, dass, was Heldentum unter bestimmten Verhältnissen ist, unter geänderten Verhältnissen zur Donquichotterie wird.“ (52)

Dem stellt Kautsky dann die – wie er meint – Bedingungen in Preußen gegenüber:

• hier habe man es mit „der stärksten Regierung der Gegenwart“ zu tun;

• nirgends seien „Armee und Bürokratie so straff diszipliniert, vielleicht nirgends ist die Zahl der Staatsarbeiter größer“;

• nirgends stehen sie „in solcher ‚gottgewollten Abhängigkeit“, nirgends sei der „Kadavergehorsam“ schlimmer;

• Ausbeuter mit einer „Kraft und Brutalität, die ihresgleichen suchen“ – und alle geschlossen hinter der Regierung;

• Unterstützung für diese von großen Massen Bauern und Kleinbürgern. (53)

In Russland sei die Regierung isoliert gewesen – in Preußen sei das Proletariat bei jeder Aktion isoliert, die „energisch den bestehenden Zuständen an den Leib rücken will“. Während Russland in einem „leichtfertigen Kriege gegen eine kleinen Macht schmählich zusammengebrochen“ sei, werde Preußen „seit bald einem Jahrhundert von dem Glanze beständiger Siege getragen, Siege über die stärksten Großmächte der Welt.“ (54)

Auch seien die Lebensbedingungen des preußischen Proletariats keine so „verzweifelten“. Der Streik böte nicht die einzige Möglichkeit der Betätigung als Klasse, sich „zu seinen Kameraden zu gesellen, mit ihnen vereint zu protestieren, Forderungen zu erheben, Kraft zu entfalten. Vereine, Versammlungen, Presse, Wahlen aller Art beschäftigen ihn vollauf.“ Der Streik erhalte also eine ganz andere Bedeutung. Es sei keinesfalls wie in Russland der Fall, dass der Streik Mittel und Zweck sei, unabhängig seines Ausgangs. „Wir haben andere Mittel, das zu erreichen. Zum Streik greift der Arbeiter in Deutschland – und in Westeuropa überhaupt – nur als Kampfesmittel, wenn er die Aussicht hat, dadurch bestimmte Erfolge zu erzielen. Bleiben diese Erfolge aus, dann hat der Streik seinen Zweck verfehlt.

Von der Gestaltung der Forderungen durch die Streikleitung hänge daher eine Menge ab, da sich der Streik sonst durch einen Misserfolg in sein Gegenteil verkehren und niederdrückend auf die Arbeiter wirken könne. „Was vom Standpunkt des amorphen, primitiven Streiks des revolutionären Russland eine überflüssige, pedantisch-engherzige Unterscheidung sein mochte, ist in Westeuropa eine wesentliche Bedingung jeder rationellen Streikführung.“ Auch wenn die Streikarten in einander übergehen können oder wenn ein politischer Massenstreik ökonomische Ausläufer nach sich ziehen kann: „Unter unseren Verhältnissen (müssen) jedes mal bei Beginn eines Streiks dessen Wesen und Art, sowie die Ziele und Zwecke, die man ihm setzen will, genau erwogen sein“. Da ja die Bedingungen in Russland sehr unterschiedlich zu denen in Westeuropa und speziell Deutschland seien, brauche deshalb „eine Streiktaktik, die sich dort bewährt hat, noch lange nicht hier am Platze zu sein.“ (55)

Beim „bloßen Demonstrationsstreik“ sieht Kautsky folgende Unterschiede: „Nicht trotz, sondern wegen des halben Jahrhunderts sozialistische Bewegung, sozialdemokratischer Organisation und politischer Freiheit“ (56) werden Demonstrationsstreiks wie in Russland nicht so leicht kommen. Infolge des halben Jahrhunderts proletarischen Klassenkampfes seien nicht nur die proletarischen Organisationen, sondern auch die kapitalistischen zur Unterdrückung des Proletariats weit stärker entwickelt und „treten auch bei einem bloßen Demonstrationsstreik viel eher und kraftvoller in Aktion.“ Andererseits „haben dank der politischen Freiheit die Arbeiter so reichliche Gelegenheit, ohne Risiko ihre Anschauungen kundzutun, daß selbst bei außerordentlichen Anlässen nur die kraftvollsten und vorgeschrittensten unter ihnen das Risiko eines Streiks auf sich nehmen werden, wenn dieser eine bloße Demonstration bleiben soll. (…) Ist doch der Streik für sie nicht die einzige mögliche Form politischer Betätigung und politischen Protestes, ja ein bloßer Demonstrationsstreik nicht einmal die eindrucksvollste. Eine siegreiche Reichstagswahl macht weit größeren Eindruck.“ (57) Einen Massen-Demonstrationsstreik für das ganze Reich kann sich Kautsky schwer vorstellen, eher für denkbar halt er kleine, lokale Demonstrationsstreiks, die spontanen Ursprungs seien aber sich deswegen auch nicht vorher diskutieren ließen. „Eine weitertragende politische Wirkung“ spricht er diesen nicht zu, doch müssten sie „belebend wirken“. Auch ein wie von Luxemburg gewünschter Massenstreik, der ganz Deutschland umfasse, „stieße auf große Schwierigkeiten, könnte nur bei einem Zusammentreffen höchst günstiger Momente gelingen und würde doch kaum mehr bewirken als etwa eine Reichstagswahl.“ (58)

Kautsky ist auch anderer Ansicht als der holländische Marxist Pannekoek, wenn dieser meint, der Unterschied zwischen Deutschland und Russland bestehe v.a. in der „gewaltigen Organisationsmacht des Proletariats“ und könne nur dazu führen, die Wucht des Kampfes zu vermehren. Die gewaltige Organisation des Proletariats sei – so Kautsky – eine Folge der „gewaltigen Konzentration des Kapitals und der nicht minder gewaltigen Entwicklung des Verkehrs, die alle Gebiete des Reiches immer mehr in die engste ökonomische und geistige Verbindung miteinander bringt, aber auch nicht bloß die Organisationen der Proletarier, sondern ebenso die der Unternehmer und der staatlichen Gewalt immer mehr zentralisiert und einheitlicher gestaltet.“ (59)

Damit, und das ist ein wesentlicher Punkt der Kautskyschen Argumentation, „werden die Kämpfe zwischen diesen Organisationen ebenfalls immer mehr zentralisiert und konzentriert.“ Sicherlich gewännen sie an Wucht aber „sie werden damit auch – immer seltener.“ Lange überlege man es sich da, ob man sich auf einen Kampf einlässt. Sei er dann einmal entbrannt, gewinne er „sofort die weiteste Ausdehnung“ und müsse mit allen Machtmitteln „durchgefochten werden“, „entweder bis zum Siege oder völliger Erschöpfung der Kräfte auf ganzer Linie.“ (60) Die Vorstellung von einer Periode der Massenstreiks, zunächst ohne praktischen Erfolg, aber sich immer wieder erneuernd, bis der Gegner zur Strecke gebracht, fände Halt „in der russischen ökonomischen Rückständigkeit“, widerspreche aber völlig den Kampfbedingungen eines hoch entwickelten Industrielandes, da sich ein solcher Kampf in selbigen auch nicht so ohne weiteres wiederholen ließe. Auch dass man eine Periode von Streiks aller Art als Periode des Massenstreiks ansehen konnte, entsprach der „politischen Rückständigkeit Russlands“, da nur durch diese „jeder Streik, auch ein rein ökonomischer, zu einem Akte revolutionärer Politik wurde.“ (61)

Klar sei, dass diese russischen Streiks nicht die Streiks der Zukunft Deutschlands seien. Streiks in Deutschland seien legal, könnten frei besprochen werden und haben für sich noch keine Spitze gegen die Regierung. Vor ihrem Ausbruch werden sie genau erwogen, fallen nicht von selbst zusammen und es würde auch niemand einfallen, Zeiten, in denen sich Streiks häufen, als Massenstreikperiode zu bezeichnen. Solle eine Aktion als politischer Massenstreik wirken, dürfe sie nicht „lokal, ohne Absicht und Ziel sein, dann muss sie von vornherein nach Plan und Absicht als ein politischer Streik auflodern, und dieser muss es bis zu seinem Ende bleiben.“ (62) Staatsweit müsse er sein, nicht partiell oder lokal und er würde zu einer „empfindlichen Niederlage“ führen, wenn er sich „ohne politisches Resultat in einen ökonomischen Kampf verwandelt, in Straßenkampf, oder von selbst zusammenfällt'“. Nur unter der völligen Unfreiheit Russlands konnte eine jahrelange Periode aufeinander folgender Streiks meist lokaler und ökonomischer Natur einen derart revolutionären Charakter annehmen, dass man sie als „den Massenstreik bezeichnen durfte“. Selbst unter den russischen Verhältnisse habe es nur eine Zeit lang gegolten, dass der Streik organisiert, aufklärt, stärkt ohne Rücksicht darauf, ob er in sich zusammenfällt oder niedergeworfen wird. „Je mehr die russische Streikperiode den Charakter eines wirklichen politischen Massenstreiks annahm, desto mehr näherte sie sich dem Moment, in dem es hieß: Siegen oder untergehen.“ (63)

Natürlich sieht Kautsky die Aufgabe der Sozialdemokratie, sich an die Spitze jeder Massenaktion des Proletariats zu stellen, was auch das Resultat sein möge. Und sie war in Russland auch nicht umsonst, sie habe ein anderes Russland geschaffen. Doch, so mutmaßt Kautsky, vielleicht hat sie damit sogar für Russland selbst die Verhältnisse beseitigt, „die es ermöglichten, daß man eine jahrelange Streikperiode als ‚den Massenstreik‘ bezeichnen konnte. Sobald in Russland wieder eine Arbeiterbewegung kraftvoll einsetzt, und das wird hoffentlich der Fall sein, kann sie Bedingungen vorfinden, die den ‚Streik ohne Plan und Absicht‘, den Streik, der ein Gewinn ist, ob er ‚im Straßenkampf endet‘ oder ‚in sich zusammenfällt‘, als einen Rückfall in veraltete Methoden erscheinen lassen. Dann wird wohl auch in Russland die ‚pedantische‘ Scheidung der Streiks nach Plan und Absicht notwendig sein und wird ein politischer Massenstreik ebenso wie in Westeuropa ein einmaliger Akt werden, dessen Bedingungen von denen des ökonomischen Streiks streng geschieden sind.“ (64) Wie dem auch sei, für deutsche Verhältnisse passe das russische Schema nicht.

Kautsky fasst zusammen: „Hier, in dieser Auffassung, liegt der tiefste Grund der Differenzen über den Massenstreik, die zwischen meinen Freunden und mir bestehen. Sie erwarten eine Periode der Massenstreiks, ich vermag mir unter Verhältnissen, wie sie in Deutschland bestehen, einen politischen Massenstreik nur als ein einmaliges Ereignis vorzustellen, in den das ganze Proletariat des Reiches mit seiner ganzen Macht eintritt, als einen Kampf auf Leben und Tod (…) Natürlich stelle ich mir dies einmalige Ereignis nicht als einen ‚aus der Pistole geschossenen‘ isolierten Akt vor. Auch ich erwarte eine Ära erbitterter Massenkämpfe und Massenaktionen, aber den Massenstreik als die letzte Waffe, die dabei ins Gefecht geführt (…) Ich halte es für unmöglich, unter deutschen Verhältnissen den Kampf von Anfang an mit dieser Waffe zu führen und diese immer und immer wieder in Anwendung zu bringen, deren Wucht unsere eigenen Arme zu rasch erlahmen ließe. Man führt nicht Vorpostengefechte mit schwerer Artillerie.“ (65)

Luxemburg antwortet darauf, Kautsky hatte, um seine Stellungnahme gegen Massenstreiks in der Wahlrechtskampagne zu rechtfertigen, eine ganze Theorie von Niederwerfungs- und Ermattungsstrategie geschaffen. Jetzt geht er noch weiter und baut ad hoc eine neue Theorie, eine über die Bedingungen des politischen Massenstreiks in Russland und Deutschland. Sie fasst Kautskys Wiedergabe der angeblichen Unterschiede Russland / Deutschland wie folgt zusammen: Er meine, die lange revolutionäre Periode von Massenstreiks, in denen „die ökonomische und politische Aktion, die Demonstrations- und die Kampfstreiks beständig einander ablösten und in einander spielten“, stelle „ein spezifisches Produkt der russischen Rückständigkeit“ (66) dar. Selbst ein Demonstrationsmassenstreik nach russischer Art sei nach Kautsky in Westeuropa schwierig bis unmöglich, nicht trotz, sondern wegen des halben Jahrhunderts sozialistischer Betätigung, wie dieser schreibt. Der politische Massenstreik könne nur noch als ein einmaliger letzter Kampf auf Leben und Tod eingesetzt werden. Kautskys Schilderung ist jedoch in den wichtigsten Punkten verkehrt.

Die russischen Bauernaufstände begannen nicht plötzlich 1905, sondern ziehen sich mit Unterbrechung von 1885-95, seit 1861 durch die russische Geschichte. Neu war 1905, dass die chronische Rebellion der Bauernmasse erstmals politische und revolutionäre Bedeutung erlangte.

Kautsky’s Streikbild über Russland ist blühende Fantasie. Die russischen Streiks erreichten beträchtliche Erhöhungen der Löhne, Verkürzung des 10- auf den 9-Stunden-Tag, in Petersburg in zähestem Kampf über mehrere Woche wurde der 8-Stunden-Tag erreicht, das Koalitionsrecht der Arbeiter sowie Staatsangestellter bei Eisenbahnen und Post erkämpft und bis zum Sieg der Konterrevolution verteidigt, in vielen Unternehmen Arbeiterausschüsse zur Regelung aller Arbeitsbedingungen geschaffen, Abschaffung de Akkordarbeit, Heimarbeit, Nachtarbeit, der Fabrikstrafen, es wurde die strikte Durchführung der Sonntagsruhe zur Aufgabe gestellt, es keimten Gewerkschaftsorganisationen in fast allen Gewerben auf, der Petersburger Rat der Arbeiterdelegierten wurde aus den Streiks geboren, kurz gesagt, die Streikbewegung ist weit von amorph und primitiv (wie Kautsky schrieb) entfernt.

Vergleicht man, was die russische Bewegung in kurzer Zeit erreicht hat mit dem Errungenschaften z.B. der deutschen Sozialdemokratie, will man ihren fortschrittlichen Charakter also am unmittelbaren Erfolg messen, wie Kautsky es will, so hat die russische Bewegung in den wenigen Jahren verhältnismäßig mehr durchgesetzt als die deutsche Gewerkschaftsbewegung in den vier Jahrzehnten ihrer Existenz. Dies ist einfach den Vorteilen des Sturmschritts einer revolutionären Periode im Vergleich mit dem langsamen Gang der ruhigen Entwicklung im Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus zu verdanken. Kautsky selbst schrieb früher in seiner „Sozialen Revolution“ bezogen auf den Vergleich der Verhältnisse Russlands mit denen Westeuropas: „Die Verschiedenheit der Verhältnisse ist mir natürlich nicht unbekannt, wenn man sie auch nicht übertreiben darf. Die jüngste Broschüre unserer Genossin Luxemburg beweist klar, dass die russische Arbeiterklasse nicht so tief steht und so wenig erreicht hat, als man gewöhnlich annimmt. Wie die englischen Arbeiter es sich abgewöhnen müssen, auf das deutsche Proletariat als ein rückständiges Geschlecht herabzusehen, so müssen wir in Deutschland uns das gleiche gegenüber dem russischen abgewöhnen.“ Und: „Die englischen Arbeiter stehen als politischer Faktor heute noch tiefer als die Arbeiter des ökonomisch rückständigsten, politisch unfreiesten europäischen Staates: Russland. Es ist ihr lebendiges, revolutionäres Bewusstsein, was diesen ihre große praktische Kraft gibt; es war der Verzicht auf die Revolution, die Beschränkung auf die Interessen des Augenblicks, die sogenannte Realpolitik, was jene zu einer Null in der wirklichen Politik machte.“ (67) So also auch Kautsky – in der Theorie. Als es jedoch um die Umsetzung dieser Theorie in die Praxis in Deutschland ging, sprach Kautsky eine andere Sprache.

Dann wendet sich Luxemburg Kautskys Schilderung der deutschen Verhältnisse zu. Sie widerlegt ihn durch folgende Ausführungen:

Eine materialistische Geschichtsauffassung kann die Stärke einer Regierung nicht aus ihrer Rückständigkeit, Kulturfeindlichkeit, dem Kadavergehorsam und dem Polizeigeist ableiten. Kautsky selbst charakterisierte Deutschland im Dezember 1906 in „Die Situation des Reiches“: „(…) niemals seit seinem Bestand war des Deutschen Reiches Stellung in der Welt schwächer und nie hat eine deutsche Regierung gedankenloser und launenhafter mit dem Feuer gespielt wie in der jüngsten Zeit“. (68)

Kautskys Schilderung westeuropäischer Streiks ist eine gewaltige Phantasie. Statistiken über die Streiks in Westeuropa zeichnen ein Kautskys Schilderungen konträres Bild. Von 1890 bis 1908 fanden 19.766 Streiks und Aussperrungen statt, von denen 25,2 Prozent völlig erfolglos, 22,5 Prozent teilweise erfolgreich und 49,5 Prozent erfolgreich waren. Nach Kautskys Definition haben also ein Viertel dieser Streiks „seinen Zweck“ ganz und ein weiteres Viertel diesen großteils verfehlt. Kautsky jedoch versicherte, der Arbeiter greife nur zum Streik „wenn er die Aussicht hat, dadurch bestimmte Erfolge zu erzielen. Bleiben diese Erfolge aus, dann hat der Streik seinen Zweck verfehlt.“ (69)

Auch widerlegen diese Statistiken Kautskys These, dass die Entwicklung von Arbeiter- und Unternehmerorganisationen deren Kämpfe immer seltener und machtvoller werden lässt. So waren es 1890-99 insgesamt 3.772 Streiks und Aussperrrungen, 1900-08 jedoch 15.994. Nicht nur an Zahl der Streiks und Aussperrungen selbst, auch die beteiligten ArbeiterInnen stiegen im selben Verhältnis: 1890-99 425.142, 1900-08 1.709.415. Kautsky leugnet mit seinen Ausführungen völlig die Wirkung des Streiks als Mittel gewerkschaftlicher Organisation. Solche „erfolglosen Streiks“ haben nicht bloß „ihren Zweck“ nicht verfehlt, sie dienen der „Verteidigung der Lebenshaltung der Arbeiter, zur Aufrechterhaltung der Kampfenergie in der Arbeiterschaft, zur Erschwerung künftiger neuer Angriffe des Unternehmertums“. (70)

Mit der Strategie Kautskys, bemerkt Luxemburg trefflich, „lässt sich nicht bloß keine große politische Massenaktion führen, sondern nicht einmal eine gewöhnliche Gewerkschaftsbewegung“. (71)

Zudem schließt Kautskys Schema die Tatsache aus, dass all diese immer häufiger werdenden und oft ohne „bestimmte Erfolge“ verlaufenden Streiks, „Explosionen eines tieferen inneren Gegensatzes“ sind, der direkt auf das politische Gebiet hinüberspielt. Als Beispiele hierfür zählt Luxemburg „die periodischen Riesenstreiks der Bergarbeiter“ (Deutschland, England, Frankreich, Amerika), „die spontanen Massenstreiks der Landarbeiter“ (Italien, Galizien) sowie „Massenstreiks der Eisenbahnarbeiter“. (72) Auch hierzu kann Luxemburg Kautsky selbst ins Feld führen, schrieb dieser doch noch 1905 in „Die Lehren des Bergarbeiterstreiks im Ruhrrevier“: „Diese neue gewerkschaftliche Taktik, die des politischen Streiks, der Verbindung von gewerkschaftlicher und politischer Aktion, ist die einzige, die den Bergarbeitern noch möglich bleibt, sie ist überhaupt diejenige, die bestimmt ist, die gewerkschaftliche wie die parlamentarische Aktion neu zu beleben und der einen wie der anderen erhöhte Aggressivkraft zu geben.“ (73) Kautsky weiter: „Die großen, entscheidenden Aktionen des kämpfenden Proletariats werden immer mehr durch die verschiedenen Arten des politischen Streiks auszufechten sein. Und die Praxis schreitet da schneller vorwärts wie die Theorie. Denn während wir über den politischen Streik diskutieren und nach seiner theoretischen Formulierung und Begründung suchen, entbrennt spontan, durch Selbstentzündung der Massen, ein gewaltiger politischer Massenstreik nach dem anderen – oder wird jeder Massenstreik zu einer politischen Aktion, gipfelt jede große politische Kraftprobe in einem Massenstreik, sei es bei den Bergarbeitern, sei es unter den Proletariern Russlands, den Landarbeitern und Eisenbahnern Italiens usw.“ (74)

Luxemburg merkt zusammenfassend an, dass „‚die Theorie‘ nicht bloß langsamer ‚vorwärts schreitet‘ als die Praxis, sie macht leider zuweilen auch noch Purzelbäume nach rückwärts“. (75)

Insgesamt bringt Kautskys neue Theorie seine alte Ermattungsstrategie um. Mittelpunkt der Ermattungsstrategie war der Hinweis auf die kommenden Wahlen, während Luxemburg jetzt bereits die Strategie des Massenstreiks anwenden wollten. Kautsky jedoch pochte auf die neue Lage nach den Wahlen. Nun aber belegt Kautsky, dass für eine Periode der Massenstreiks in Deutschland bzw. Westeuropa allgemein die Bedingungen fehlen würden. Sogar einfache Demonstrationsstreiks mit der Wucht der russischen seien fast unmöglich, so Kautsky. Dies dann jedoch natürlich auch nach den Wahlen. All die Gründe, die Kautsky nannte, werden nach den Wahlen nicht einfach verschwinden. Kautsky bestätigt damit Luxemburgs Vorwurf des Nichts-als-Parlamentarismus, denn von den Verheißungen auf das Jahr nach den Wahlen und dem Pochen auf das Vorbereiten der Wahlen bleibt nichts als letzteres. Zudem weist sie auf den Widerspruch zwischen Kautskys ersterer Aussage, aufgrund der gespannten Situation könnten Massenaktionen wie ein Massenstreik jederzeit durch die Regierung notwendig gemacht werden und den neueren, die soziale- und politische Entwicklung verunmögliche derartige Massenaktionen, hin. Könnte eine brutale Aktion der Polizei zwar die Erregung der Massen steigern, wäre sie dennoch nicht imstande, die wirtschaftliche und soziale Struktur Deutschlands umzustülpen.

Zudem stellen Kautskys jüngste Erkenntnisse den Jenaer Beschluss in Frage. Der Jenaer Parteitag, der ja gerade von den russischen Erfahrungen die Massenstreiktaktik entlehnte, wird dadurch von Kautsky einer gründlichen Revision unterzogen, wenn dieser gravierende Unterschiede zwischen den russischen und den westeuropäischen Verhältnissen konstruiert, unter denen die Anwendung dieser nicht möglich sei.

Die Massenstreikaktion des russischen Proletariats aus ihrer sozialen Rückständigkeit zu erklären, heißt die führende Rolle des städtischen großindustriellen Proletariats in der russischen Revolution durch die Rückständigkeit Russlands erklären, also die Dinge auf den Kopf zu stellen. Nicht die Rückständigkeit, sondern gerade die hohe Entwicklung des Kapitalismus, der Industrie, des Verkehrs in den städtischen Zentren Russlands ermögliche und bedingte diese Art Massenstreikaktion. Die Zentralisierung des Proletariats, das starke Klassenbewusstsein, der fortgeschrittene kapitalistische Gegensatz – nur deswegen konnte der Kampf um politische Freiheit in entschlossener Weise von diesem Proletariat geführt werden und zwar nicht als reiner Verfassungs-kampf, sondern als echter moderner Klassenkampf in seiner ganzen Breite und Tiefe, in dem sowohl um ökonomische wie um politische Interessen gestritten wurde, gegen Kapital wie Zarismus, um Achtstundentag und demokratische Verfassung. Nur weil die Industrie und damit verbundene Verkehrsmittel bereits Existenzbedingung des wirtschaftlichen Lebens des Staates geworden, konnten die Massenstreiks in Russland eine so erschütternde, ausschlaggebende Wirkung erzielen, dass die Revolution mit ihnen ihre Siege feierte und mit ihnen unterlag und verstummte.

Überhaupt war die russische Revolution kein Produkt spezifisch russischer Umstände, sondern wesentlich Ausdruck einer neuen Epoche der internationalen Entwicklung der Produktivkräfte. All die vielen Gründe, die Kautsky als Argumente gegen die Möglichkeit entsprechender Kämpfe für Deutschland auflistet, führt Luxemburg als verschärfende Faktoren für eben diese Kämpfe in Deutschland an.

Alle Argumente, die Kautsky gegen den Massenstreik ins Feld führt, sind nach Prüfung Momente, die diesen immer notwendiger machen.

Die Macht der Unternehmerverbände und der Kadavergehorsam machen eine ruhige Gewerkschaftsarbeit immer unmöglicher, drängen und zwingen zu Explosionen und Machtproben. Gerade die politische Isolierung des Proletariats und die Tatsache, dass die gesamte Bourgeoisie bis ins Kleinbürgertum hinter der Regierung steht, machen jeden großen Kampf gegen die Regierung zugleich zum Kampf gegen die Bourgeoisie. Diese Umstände bürgen dafür, dass jede energische revolutionäre Massenaktion in Deutschland nicht die parlamentarische Form des Liberalismus oder die ehemaligen Kampfformen des revolutionären Kleinbürgertums, die Barrikadenschlacht annehmen wird, sondern die klassisch-proletarische, die des Massenstreiks. Und gerade wegen des halben Jahrhunderts sozialistischer Aufklärung und politischer Freiheit muss sich zu den politischen Kämpfen ein wirtschaftliches Element gesellen.

Noch 1907 schrieb Kautsky „Wir haben nicht den mindesten Grund anzunehmen, dass der Grad der Ausbeutung des deutschen Proletariers ein geringerer ist als in Russland.“ (76) Auch vergisst Kautsky bei seinen Schilderungen der Vereine, der Wahlen und der Versammlungen wohl auf die Staatsarbeiter, die Eisenbahner, Postangestellten und die Landarbeiter, denen das Koalitionsrecht rechtlich oder faktisch fehlt. Er vergisst, so Luxemburg, dass diese „russisch“ leben. Diese werden bei politischen Erschütterungen unmöglich den Kadavergehorsam bewahren und ihre Sonderrechnung in Form von Massenstreiks präsentieren.

Um die These vom Sonderfall Russland weiter zu entkräften, befasst sie sich mit den Massenstreiks der jüngsten Jahre in Westeuropa. Während die großen belgischen Massenstreiks der 1890er Jahre noch isoliert standen, folgten ihnen eine Fülle anderer: „1900 Massenstreik der Bergarbeiter in Pennsylvanien, der nach dem Zeugnis der amerikanischen Genossen mehr für die Ausbreitung der sozialistischen Ideen getan hat als zehn Jahre Agitation“ (77), ebenso 1900 Bergarbeitermassenstreik in Österreich, 1902 Bergarbeiter-massenstreik in Frankreich, Generalstreik der gesamten Produktion Barcelonas, Demonstrationsmassenstreik in Schweden, Massenstreik in Belgien, Massenstreik der Landarbeiter in Ostgalizien, 1903 zwei Massenstreiks der Eisenbahner in Holland, Massenstreik der Eisenbahner in Ungarn, Demonstrationsmassenstreik in Italien, 1905 Massenstreik der Bergarbeiter im Ruhrrevier, Demonstrationsmassenstreik in Prag und Umgebung, Demonstrationsmassenstreik in Lemberg, Demonstrationsmassenstreik in ganz Österreich, Massenstreik der Landarbeiter und später der Eisenbahner in Italien, Demonstrationsmassenstreik in Triest „der die Reform auch siegreich erzwungen hat“, 1906 Massenstreik der Hüttenarbeiter in Mähren, 1909 Massenstreik in Schweden, Massenstreik der Postangestellten in Frankreich, Massenstreik in Trient und Rovereto, 1910 Massenstreik in Philadelphia.

Soviel zur Unmöglichkeit von Massenstreiks in Westeuropa! Kautskys Theorie von der Unmöglichkeit einer Massenstreikperiode in Deutschland beruht demnach wohl weniger auf Unterschieden Deutschlands – Russlands wie vielmehr auf Unterschieden gesamt Westeuropas zu Deutschland. Preußen müsste demzufolge eine „Ausnahme unter allen kapitalistischen Ländern sein“. In Preußen wäre demnach unmöglich, was in den restlichen europäischen Ländern möglich ist. Die seltsame Folge wäre, dass je stärker die sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaften, je besser die Organisation und die Disziplin, je aufgeklärter das Proletariat und je größer der Einfluss des Marxismus, um so ohnmächtiger die Arbeiterklasse. Dies hieße, so Luxemburg, „Ein Armutszeugnis ausstellen, das es (das deutsche Proletariat, d.A.) noch durch nichts verdient hat.“ (78)

Resümierend kommt Luxemburg zu dem Schluss, dass von Kautskys Massenstreiktheorie nur der „letzte rein politische“ Massenstreik übrig bleibt, der ein einziges Mal, wie ein deus ex machina „losgelöst von ökonomischen Streiks“, „wie ein Donner aus heiterem Himmel einschlägt“. (79) Zu diesem Bild eines Streiks passt jedoch kein reales Vorbild, weder die russischen noch die westeuropäischen Streiks.

Oda Olberg schrieb, wie Luxemburg anmerkt, dazu treffend in der Neuen Zeit: „Die Errungenschaften des politischen Streiks sind nicht einzuschätzen: je nach dem Grade des proletarischen Klassenbewusstseins wechselt ihr Wert. Ein mit Kraft und Solidarität durchgeführter politischer Streik ist immer unverloren, weil das ist, was bezweckt, eine Machtentfaltung des Proletariats, bei der die Kämpfenden ihre Kraft und ihr Verantwortungsgefühl stählen und die herrschenden Klassen der Stärke der Gegner bewußt werden.“ (80) Auch ist es unmöglich, dass ein derartiger „letzter Streik“ ohne eine Periode der Vorbereitung, der Aufrüttelung der Massen und der praktischen Schulung? Wie soll „die ganze große Masse des deutschen Proletariats, die bis jetzt weder unserer gewerkschaftlichen Organisation noch der sozialdemokratischen Agitation zugänglich war, mit einem Sprunge für einen ‚letzten‘ Massenstreik ‚auf Leben und Tod‘ reif sein, wenn sie nicht durch eine vorhergehende Periode stürmischer Massenkämpfe, Demonstrationsstreiks, partieller Massenstreiks, wirtschaftlicher Riesenkämpfe usw., nach und nach aus ihrer Starrheit, ihrem Kadavergehorsam, ihrer Zersplitterung losgelöst und der Gefolgschaft der Sozialdemokratie angegliedert wird?“ (81)

Auch wenn Kautsky zugesteht, dass er sich „dies einmalige Ereignis“ nicht als isolierten Akt vorstellt: Welche „Massenkämpfe und Massenaktionen“ sollen es denn sein, die dem „letzten“ Streik vorausgehen, wenn nicht Massenstreiks selbst? Reine Straßendemonstrationen kann man nicht jahrzehntelang durchführen und allgemeine, eindrucksvolle Demonstrationsstreiks sind laut Kautsky Streiktheorie für Deutschland ausgeschlossen. Reichstagsresolutionen oder Versammlungen mit Protestresolutionen werden einen solchen Streik nicht vorbereiten. So bleibt Kautskys „letzter“ Streik aus der Pistole geschossen.

Während in Kautskys erster Theorie Massenstreiks durch die Ermattungstheorie auf eine unbestimmte Zeit nach den Reichstagswahlen verschoben wurde, entschwinden sie nun in weite Ferne, als „letzter“ und einziger Massenstreik.

Zusammenfassend lässt sich beobachten, wie Kautsky, der in früheren Jahren selbst sehr gute Schlüsse aus den praktischen Entwicklungen der Arbeitskämpfe zog, im Verlauf der Diskussion gezwungen war, eine Theorie nach der anderen gegen den Massenstreik ins Feld zu führen, um letztlich dessen Rolle auf ein Paukenschlag-ereignis, durch das der Kapitalismus ad hoc überwunden wird, zu reduzieren.

Dem gegenüber stellte Luxemburg die Idee des Massenstreiks als revolutionäre Praxis. Streik nicht bloß als Zweck, bestimmte konkrete Ziele zu erreichen, sondern als praktische Schule für die Arbeitermassen. Nicht ein isolierter, am grünen Tisch entworfener und hundert Prozent der Arbeiterklasse umfassender Massenstreik, sondern eine Welle von Streiks, eine Streikbewegung, über längeren Zeitraum, mit Teilsiegen oder Rückschritten, doch wo möglich den Kampf zuspitzend und mit dem Zweck, das Bewusstsein der ArbeiterInnen dahingehend zu entwickeln, dass eine friedliche Koexistenz mit den Kapitalisten nicht möglich ist, sondern der Kapitalismus im Kampf überwunden werden muss und auch praktische Erfahrungen, wie derartige Streiks zu bewerkstelligen sind, zu sammeln.

Schluss

Kautskys Position markiert den Übergang eines Teils der ehemaligen Linken der Sozialdemokratie zur Verteidigung der Position des Parteivorstandes, einer Politik des Abwartens, die die ganze sozialdemokratische Tätigkeit in der Trias aus begrenzten, gewerkschaftlichen, tariflichen Aktionen, Sammlung proletarischer Mitglieder im Vereinsleben der Partei und Wahlkampagnen samt Parlamentstätigkeit erblickt.

Anders als von den Gewerkschaftsbürokraten wird der Massenstreik oder Generalsstreik nicht grundsätzlich und offen bekämpft und abgelehnt, sondern „nur“ für die jeweilige, politische Situation. Für die Zukunft oder „an und für sich“, sei er, so Kausky und alle anderen Kautskyaner berechtigt, heute jedoch nicht. Immer sei es noch zu früh oder, wenn die Chance vertan, zu spät. Das Motto der Kautskyaner lautet also „Für den Massenstreik – am St. Nimmerleinstag!“

Eng damit verbunden ist auch ein vollkommen passives Konzept der „Machtergreifung“, die ebenfalls als nichts begriffen wird, das aktiv politisch und organisatorisch vorbereitet werden müsse, sondern die kommt, wenn es soweit ist. So wie für den Generalstreik sind dann auch die Bedingungen nie so weit.

Eine solche Theorie, die für den Kautskyanismus ab 1910 typisch ist, kommt auch den Revisionisten und Gewerkschaftsführern gelegen, läuft sie doch auf eine Rechtfertigung ihrer aktuellen Tagespolitik hinaus.

Schließlich zeigt die Debatte, wie sträflich die Kautskyaner die Verschärfung der Gegensätze im imperialistischen Kapitalismus „übersahen“.  Er tat dies durchaus wieder besseres, eigenes Wissen, arbeitete er doch in „Der Weg zu Macht“ 1907 in polemischer Abgrenzung noch die These von der Verschärfung der Klassengegensätze aus. Doch die Verteidigung einer revisionistischen Position und einer reformistischen Praxis hat immer ihre eigene Logik, die dazu zwingt, die eigenen Erkenntnisse von gestern über Bord zu werfen.

Es mutet geradezu tragisch-komisch an, wenn man Kautskys Beiträge liest und sich vor Augen hält, daß diese nur wenige Jahre vor dem Ausbruch des ersten imperialistischen Weltkrieges 1914 geschrieben wurden. Der „realistische“ Kautsky warnt die „utopische“ Luxemburg davor, die herrschende Klasse Deutschlands doch nicht mit Massenstreiks zu provozieren, da man doch eh auf friedlichem, parlamentarischem Weg die absolute Mehrheit bei den Wahlen erobern könne. Kautsky redete den deutschen ArbeiterInnen ein, die herrschende Klasse ließe sich durch eine Ermattungsstrategie ermatten. In Wirklichkeit ermattete die deutsche Arbeiterklasse an der Mattheit ihrer Führung. Die herrschende Klasse jedoch bereitete sich zu ihrer bürgerlichen „Niederwerfungsstrategie“ vor und überrumpelte die Arbeiterbewegung mit dem 1. Weltkrieg. Es war Luxemburg und ihre Strategie der „Niederwerfung“, die weitaus realistischer war als Kautsky und seine matte Ermattungsstrategie.

Damit wollen wir keineswegs die Unzulänglichkeiten Luxemburgs leugnen. So überlegen ihre Massenstreikstrategie gegenüber den Kautskyanern auch war, so war doch ihre Konzeption noch zu wenig „russisch“. Und zwar in der Hinsicht, als diese Strategie noch nicht eingebettet war in ein klares Konzept der Machteroberung durch einen bewaffneten Aufstand und der entsprechenden politischen Vorbereitung, so wie das Lenin und die Bolschewiki in den Jahren vor der russischen Revolution 1905 in den Seiten der Iskra und der Wperjod taten.

Dies hing mit ihrer Schwächen in Bezug auf das Verständnis der Entwicklung des revolutionären Klassenbewusstseins zusammen. Zu sehr vertraute sie auf die spontane Entstehung und Entwicklung eines solchen Klassenbewusstseins, zu wenig erkannte sie die Notwendigkeit, dieses Bewusstsein durch eine revolutionäre Partei in die ArbeiterInnenklasse hineinzutragen und auf dieser Grundlage die Vorhut der Klasse in der Partei zu organisieren. Dies war letztlich der wesentliche Grund, warum Lenin und die Bolschewiki auf die russische Revolution 1917 politisch vorbereitet waren und die deutsche Linke um Luxemburg und Liebknecht nicht entsprechend in die deutsche Revolution 1918 eingreifen konnten.

Es wäre falsch, den Kautskyianismus und das „Zentrum“, das sich ab 1910 eigenständig zu formieren beginnt, mit den Revisionisten und Gewerkschaftsführern als identisch zu betrachten. Die Aufgabe, der Kautsky in der Generalstreikdebatte 1910 und später im Krieg und selbst in der USPD nachkommt, besteht vielmehr darin, eine „Mittelströmung“, ein „Zentrum“ zu formieren zwischen Reformismus und revolutionären Marxismus, das diese Positionen miteinander aussöhnt.

Da zwei gegensätzliche Klassenstandpunkte jedoch nicht versöhnt werden können, läuft der Kautskyanismus – wie Lenin u.a. später treffend herausarbeiten – auf eine besonders gefährliche Art des Opportunismus hinaus, eines Opportunismus, der den Reformismus, Sozialchauvinismus oder imperialistische Vaterlandsverteidi-gung letztlich verharmlost und einem Bruch mit ihm entgegenarbeitet.

Die Massenstreikdebatte war ein historischer Prüfstein für die Sozialdemokratie. In ihr zeichneten sich ihre grundlegenden politischen Schwachpunkte, aber auch die Entwicklung einer konsequent revolutionären Strömung ab.

Anstatt die Arbeiterklasse als Subjekt der Revolution zu fördern, wurde diese als ein die Arbeit der Partei unterstützendes Objekt gesehen. Zur Aufgabe der Partei wurde nicht gemacht, Klassenbewusstsein und eine revolutionäre Strategie in der Klasse zu verbreiten, sondern die ArbeiterInnen nur noch als WählerInnen und passive Mitgliedermasse zu erfassen. Wenn nötig, wird die Arbeiterklasse dann für diese oder jene Kundgebung oder Streik mobilisiert – oder wieder abbestellt, wenn es den Plänen der Parteispitzen entspricht.

Im Gegensatz zu der klassischen und aktuellen Auffassung der Sozialdemokratie bezüglich Streiks und Kampfmaßnahmen gilt es heute wie damals, ganz im Sinne Luxemburgs, Kampfmaßnahmen zu fordern, zu fördern und vorzubereiten. Nur durch die praktische Erfahrung in konkreten Kämpfen wird die Arbeiterklasse die notwendigen Lehren ziehen können und sich eine neue, konsequente Vertretung ihrer Interessen schaffen können.

Anmerkungen und Fußnoten

(1) Protokoll des Internationalen Sozialistenkongresses zu Zürich 1896, zit. nach Antonia Grunenberg, Einleitung, Grunenberg (Herausgeberin), Die Massenstreikdebatte. Beiträge von Parvus, Luxemburg, Kautsky, Pannekoek, Frankfurt/Main 1970, S. 12

(2) Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, Frankfurt 1966, zweite Auflage, S. 147

(3) Protokolle des Internationalen Sozialistenkongresses Stuttgart 1907, zit. nach Grunenberg, a.a.O., S. 18

(4) Kautsky, Was Nun?, in: Grunenberg, Die Massenstreikdebatte, S. 96

(5) Ebenda, S. 97

(6) Luxemburg, Ermattung oder Kampf?, in: Luxemburg, Gesammelte Werk, Band 2, S. 346

(7) Ebenda, S. 347

(8) Ebenda, S. 351

(9) Ebenda, S. 352

(10) Kautsky, Was Nun?, S. 98

(11) Ebenda, S. 100

(12) Ebenda, S. 101

(13) Luxemburg, Ermattung oder Kampf?, in: Luxemburg, Gesammelte Werk, Band 2, S. 353

(14) Ebenda, S. 354

(15) Ebenda, S. 355

(16) Ebenda, S. 356

(17) Ebenda, S. 356

(18) Ebenda, S. 356

(19) Ebenda, S. 357

(20) Kautsky, Die neue Strategie, in: Grunenberg, Die Massenstreikdebatte, S 161

(21) Ebenda, S. 162

(22) Ebenda, S. 164

(23) Luxemburg, Die Theorie und die Praxis, in: Luxemburg, Werke, Band 2, S. 418

(24) Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Berlin 1960, S. 13/14

(25) Kautsky, Was Nun?, in: Grunenberg, Die Massenstreikdebatte, S. 101

(26) Ebenda, S. 103

(27) Ebenda, S. 105

(28) Ebenda, S. 105

(29) Ebenda, S. 106

(30) Ebenda, S. 106

(31) Ebenda, S. 108

(32) Ebenda, S. 110

(33) Ebenda, S 111

(34) Ebenda, S. 111

(35) Ebenda, S. 112

(36) Ebenda, S. 114

(37) Ebenda, S. 116

(38) Ebenda, S. 116

(39) Ebenda, S. 117

(40) Ebenda, S. 118

(41) Ebenda, S. 118

(42) Ebenda, S. 118

(43) Ebenda, S. 119

(44) Ebenda, S. 119

(45) Kautsky, Die neue Strategie, in: Grunenberg, Die Massenstreikdebatte S. 186

(46) Ebenda, S. 187

(47) Ebenda, S. 189

(48) Ebenda, S. 165

(49) Ebenda, S. 166

(50) Ebenda, S. 166

(51) Ebenda, S. 168

(52) Ebenda, S. 169

(53) Ebenda, S. 169

(54) Ebenda, S. 168

(55) Ebenda, S. 169f

(56) Ebenda, S. 170

(57) Ebenda, S. 171

(58) Ebenda, S. 172/173

(59) Ebenda, S. 174

(60) Ebenda, S. 174

(61) Ebenda, S. 174

(62) Ebenda, S. 176

(63) Ebenda, S. 176

(64) Ebenda, S. 176f

(65) Ebenda, S. 177

(66) Luxemburg, Die Theorie und die Praxis, in: Luxemburg, Werke, Band 2, S. 388

(67) Kautsky, „Soziale Revolution“, Zitiert von Luxemburg in: Luxemburg, Die Theorie und die Praxis, in: Luxemburg, Werke, Band 2, S. 390

(68) Ebenda, S. 392

(69) Ebenda, S. 392

(70) Ebenda, S. 393

(71) Ebenda, S. 394

(72) Ebenda, S. 394

(73) Ebenda, S. 394

(74) Neue Zeit, XXIII, I, S. 780

(75) Luxemburg, Die Theorie und die Praxis, in: Luxemburg, Werke, Band 2, S. 395

(76) Kautsky, Zitiert von Luxemburg in: Luxemburg, Die Theorie und die Praxis, in: Luxemburg, Werke, Band 2, S. 403

(77) Luxemburg, Die Theorie und die Praxis, in: Luxemburg, Werke, Band 2, S. 404

(78) Ebenda, S. 407

(79) Ebenda, S. 407

(80) Ebenda, S. 408

(81) Ebenda, S. 409

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