Arbeiter:innenmacht

Die „Kritik der Arbeit“ und das Rätsel der Systemüberwindung

Zu Theorie und Praxis der „Krisis“-Strömung

von Markus Lehner, Revolutionärer Marxismus 33, Frühjahr 2003

Robert Kurz, die Galionsfigur der „Krisis“-Gruppe, wurde Anfang der 90er-Jahre einer breiteren deutschen Öffentlichkeit bekannt. Er war ein ehemaliges Führungsmitglied der MLPD bzw. ihrer Vorläufer und reiht sich ein unter andere vormalige „Führern der ML-Bewegung“, die mit einer vehement vorgetragenen „Abkehr vom Proletariat“ und einer „grundlegenden Abrechnung“ mit dem von ihm so genannten „Arbeiterbewegungs-Marxismus“ ein wohlwollendes Echo in den bürgerlichen Medien fanden. Weniger beachtet blieb, dass diese Wende bei Kurz in eigentümlicher Weise mit der Perspektive der Krisenhaftigkeit und unmittelbaren Überwindbarkeit des Kapitalismus verbunden blieb.

Diese Doppelseitigkeit entstand aus den Selbstverständigungsversuchen im Ex-K-Gruppen-Milieu. Einerseits wollte man zu einer grundlegenden Kritik des bisher selbst betriebenen „marxistisch-leninistischen“ Politik-Modells kommen. Andererseits sollte die methodische Schärfe einer fundamentalen Kritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus – oder dem, was man dafür hielt – gerettet werden.

Die „Krisis“-Gruppe (1) entdeckte dabei als Dreh- und Angelpunkt einer erneuerten Systemüberwindungsperspektive ein neues Wundermittel: die sogenannte „fundamentale Wertkritik“. Dies insbesondere in der Form der Entlarvung der zeitgenössischen Vergötzung von abstrakter, entfremdeter Arbeit als irrationaler Sinnstiftung. Das „Manifest gegen die Arbeit“ war sicherlich ihr durchschlagendster „Propagandaerfolg“.

Der Ansatz der Enthüllung ideologischer Verblendungszusammenhänge in ihrem notwendigen Ableitungszusammenhängen mit der zugrundeliegenden immer totalitärer werdenden Warenproduktion wurde als „fundamentale Wertkritik“ zum Ausgangspunkt verschiedener Strömungen, die sich zumindest durch starke publizistische Aktivität auszeichnen.

Neben der Zeitschrift „Krisis“ verstehen sich auch „bahamas“ oder die Freiburger „Initiative Sozialistisches Forum“ („Ca ira“-Verlag) als neuartige „Wertkritiker“. Einem „breiteren“ Publikum wurden diese Strömungen über ihren Einfluss in „konkret“, „jungle world“ oder „Weg und Ziel“, aber auch durch ihre Aktivitäten in internet-Foren wie „open theory“ bekannt. Speziell die Entlarvung des unmittelbaren Zusammenhangs von undurchschauter, unreflektierter Verstrickung in die Welt der Warenförmigkeit mit solchen Erscheinungen wie Rassismus, Anti-Semitismus, zu kurz greifendem Anti-Kapitalismus oder Anti-Imperialismus wurde zum Ausgangspunkt von kritischen Totalabrechnungen.

Nicht zuletzt wurde die anti-deutsche Strömung aus dieser Fundamental-Opposition gegen das falsche „Normalbewusstsein“ und seinen spiegelbildlichen Pseudo-Anti-Kapitalismus („ehrliche deutsche Arbeit“ gegen „jüdische Geldmacherei“, etc.) geboren. Aus der „Nie wieder Deutschland“-Bewegung der DDR-Anschluss-Jahre geboren, fand die wertkritische Fundamental-Opposition in dieser „Bewegung“ eine Basis für ihren sektenhaften „Anti-Populismus“. So bemerkte einer ihrer Propheten, Justus Wertmüller, dass es den 90ern für einige Jahre so schien, „als hätte der anti-deutsche Aufbruch den ideologischen Müll von zwanzig westdeutschen Bewegungsjahren so durcheinander gewirbelt, dass endlich eine kommunistische Kritik der Gesellschaft möglich würde“ (2).

Tatsächlich wurde die Verarbeitung der in der K-Gruppen-Vergangenheit begangenen opportunistischen und populistischen Abenteuer zur besessenen Schmähung des einst für diese Umwerbung ach so tauben Liebesobjekts. Der „deutsche Arbeiter“ wird in allen nur möglichen Formen des Bösen entdeckt, die den Weg zum „wahren Kommunismus“ verbauen, um schließlich bei „Arbeit macht frei“ zu enden.

Auch wenn die „Krisis“-Strömung im Verbund mit Moishe Postone (3) für viele zu den Cheftheoretikern für Wertkritik, Rassismus-Ableitung und Entlarvung der „Traditions-Linken“ wurde, so standen sie besagter anti-deutschen Strömung doch von Anfang an fern gegenüber. Dies hat nicht nur mit ihrer anderen Analyse der nationalen Frage zu tun oder mit ihrer Ablehnung von Bewegungsformen, wie sie sich auch wieder bei der anti-deutschen Linken zeigen würden. Es hat vor allem mit ihrer Analyse der gegenwärtigen Periode des Kapitalismus und den sich darin angeblich auftuenden systemüberwindenden Tendenzen in der fundamentalen Krise der Arbeitsgesellschaft zu tun.

Im Unterschied zur allgemeinen Faschismus/Anti-Semitismus-Paranoia der „Anti-Deutschen“ herrscht daher bei der „Krisis“ der Optimismus vor, der an allen möglichen Stellen Ansätze zur Überwindung der entfremdeten Arbeit entdeckt. Von den „Anti-Deutschen“ daher als neo-populistische Renegaten gehasst, wird dieser Ansatz von vielen Links-Intellektuellen als „interessanter“ Neuanfang jenseits von „Arbeiterbewegungs-Linker“ und sektiererischer bloßer Entlarvungs-Kritik gesehen. Er bietet die Möglichkeit, generelle Kritik an der Warengesellschaft und ihrer Arbeitsform mit unkomplizierter praktischer Handwerkelei zu verbinden, ohne dies mit einer „umfassenden politischen Bewegung“ verbinden zu müssen. Die „persönlichen kleinen Schritte“ – z.B. Hervorbringung und Verteilung „freier Software“ (4) – werden zu Akten einer sozusagen molekular vor sich gehenden Ablösung des historisch überholten Prinzips der Organisation gesellschaftlicher Reproduktion durch das Kapital/Lohnarbeitsverhältnis.

Der Versuch, die Ursache der gegenwärtigen Krisenperiode des Kapitalismus durch eine historisch neuartige Veränderung in den zugrundeliegenden Wertform/Wertsubstanz-Verhältnissen (in der „Krise der Arbeit“) zu suchen, ist auch für uns ein Motiv für die kritische Auseinandersetzung mit der „Krisis“-Theorie in diesem Artikel. Während sich „marxistische Krisentheorie“ sonst gern in abgeleiteten Phänomenen und Konjunktur-Analysen verirrt, werden bei Kurz und Co. die sich zuspitzenden Widersinnigkeiten des „sich selbstverwertenden Werts“ unmittelbar mit dem sich abzeichnenden Zusammenbruch des darauf basierenden Reproduktionszusammenhangs verknüpft.

Der gegenwärtig vor sich gehende Zusammenbruch des Kapitalismus würde die alte Form der Arbeit und des darauf aufbauenden gesellschaftlichen Zusammenhangs mit sich ins Grab reißen und so bei Strafe der Barbarei die Menschheit zu einer völlig neuen Form des Zusammenlebens „ohne Arbeitszwang“ befähigen. Bei aller Kritik an diesem Ansatz, der in diesem Artikel entwickelt wird, ist nicht zu leugnen, dass durch diese Herangehensweise zumindest einige neue Fragen in bezug auf den historisch-spezifischen Charakter der gegenwärtigen Krise aufgeworfen werden, die es lohnt, näher betrachtet zu werden.

Schließlich gibt es einen weiteren Grund, sich mit der „fundamentalen Wertkritik“ auseinander zu setzen, der speziell mit der deutschen Linken zu tun hat. Im Gegensatz zu anderen Ländern hatte es die „globalisierungs-kritische“ Bewegung der letzten Jahre in Deutschland besonders schwer. Dies hängt natürlich vor allem mit der noch größeren Ferne der deutschen radikalen Linken von der Arbeiterbewegung zusammen, die – wie bereits geschildert – dieser Ferne auch noch höhere theoretische Weihen verleiht.

Es hängt aber auch damit zusammen, dass der „Populismus“ eines Bouvé oder einer Naomi Klein, vom Neoreformismus von attac ganz zu schweigen, in der deutschen Linken auf ein besonders ungnädiges Terrain trifft. Es ist kein Wunder, dass die in anderen Ländern zumindest „produktiv“ kritisierten Bestseller der Bewegung, wie „No Logo“ oder „Empire“ in den Zentralorganen der „deutschen kritischen Kritik“ als halb-faschistische, reaktionäre Machwerke in der Luft zerrissen werden.

Zudem ist ein Teil der radikalen deutschen Linken seit Jahren zumindest soweit von den Methoden der „fundamentalen Wertkritik“ geprägt, dass er auf die „naive“, „unreflektierte“ Kapitalismuskritik der neuen Bewegung nur mit Häme reagieren kann. So richtig eine marxistische Kritik der falschen Ansätze von „No Logo“ oder „Empire“ ist, so wenig führt dies aus der Sackgasse der „kritischen Kritik“ und ihrer sektiererischen oder utopistischen Selbstbespiegelungen. Für diese ist ein reales Problem „gelöst“, sobald es begrifflich erfasst und kategorisiert ist – in Wirklichkeit ist es damit aber nur gedanklich „entsorgt“.

Daher ist dieser Artikel auch ein Versuch, die Beschränktheit des „wertkritischen Ansatzes“ für das Verständnis der gegenwärtigen Weltmarkt-Bewegung des Kapitals aufzuzeigen. Auch wenn er die Kritik am „Globalisierungs“-Fetisch mitunter richtig erfasst, so wird damit noch lange keine korrekte Analyse der gegenwärtigen Etappe der Entwicklung des Welt-Kapitalismus geliefert. Gerade die Kurzsche These von der Auflösung der Nationalstaatlichkeit und dem Ende der imperialistischen Nationen, zeigt, wie stark auch „hoch reflektierte Theorie“ ganz banalen Oberflächenerscheinungen aufsitzen kann.

Das Unverständnis der neuen Formen, in denen „nationale Frage“ und „Imperialismus“ heute zugespitzter denn je als Problemstellungen auftreten, zeigt die gemeinsame Schwäche von „globalisierungs-kritischem“ Mainstream und wertkritischer Kritik. Der Mangel an Entwicklung von Krisen- und Imperialismustheorie führt im Zusammenhang mit der fundamentalen Verkennung der Klassenfrage unweigerlich dazu, dass auf die entscheidenden politischen Fragen von Krieg und Frieden wie auch zur Überwindung imperialistischer Unterdrückungsverhältnisse weder von Wertkritik noch von Globalisierungskritik eine Antwort gegeben werden kann. Daher ist dieser Artikel schließlich auch ein Versuch, gegen Robert Kurz den Zusammenhang von historisch-spezifischer Krisenperiode, Imperialismus und proletarischer Weltrevolution zu verteidigen.

Zum Begriff „Traditions-Marxismus“

Die „Krisis“-Gruppe trifft einen bestimmten Nerv des Zeitgeistes besonders durch ihre Pose des „absolute beginners“: „Während die Wertkritik davon ausgehen muss, dass ein neues Emanzipationsdenken sich seine eigene Basis erst noch neu zu schaffen hat, finden die Restbestände des landläufigen Linksradikalismus ihre konstitutive Grundlage im identifikatorischen Bezug auf die heute gegenstandslos gewordenen Kämpfe einer vergangenen Epoche. Sie leben von der Weigerung, deren Ende zur Kenntnis zu nehmen“ (5).

Hierbei werden alle Strömungen des „Traditions-Marxismus“ einfach in einen Sack gepackt, schlichtweg alle Strömungen seien angeblich nicht zur grundlegenden Einsicht in das tatsächliche Aufhebungsproblem der entfremdeten Arbeit fähig gewesen. Die kapitalistische Gesellschaft sei vielmehr noch auf einem Stand gewesen, wo auch der „Revolutionarismus“ tatsächlich seine Wirkung nur als radikale Durchsetzung der Wertförmigkeit entfalten konnte. Daher wird die „Sowjetunion“ von der „Krisis“ als staatskapitalistische „Modernisierungsdiktatur“ angesehen.

Erst heute wäre die Periode gekommen, in der die materiellen Voraussetzungen für eine wirkliche Emanzipation von der Arbeit gekommen sei. Durch ihre, für eine andere Epoche gültigen politischen Konzepte, wären die Konzepte der verschiedenen „traditions-marxistischen“ Strömungen, mitsamt der somit angeblich überholten Unterscheidung von „Reform“ und „Revolution“, nicht mehr brauchbar. Während sich die Publikationen der K-Gruppen, aus denen die Wertkritiker hervortraten, dadurch auszeichneten, dass sie zu allem möglichen politischen Problemen mehr oder weniger unleserliche Zusammenstellungen von Marx-Lenin-Zitaten verfertigten, treten die Wertkritiker nunmehr als Marx-Neuformulierer auf, die „frei“ sind von jeglicher Geschichte des Marxismus. Mit Versatzstücken von Marxscher Wert- und Entfremdungstheorie, sowie der Grundannahme einer völlig neuartigen Krisenepoche, wird versucht, eine positive Gesellschaftstheorie zu entwickeln, die sich von allen „Marxismen“ der Vergangenheit (von Leninismus bis „Kritischer Theorie“) auf Distanz hält.

Dabei wird dann natürlich auch auf den „Traditions-Marxismus“ ein grober Klotz gesetzt. Dieser habe angeblich einer modernistischen Fortschrittsideologie gefrönt und völlig naiv die Fortentwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus als Vorleistung für einen notwendigen Umschlag hin zum Sozialismus gesehen. Ab einer bestimmten Entwicklungsstufe des Kapitalismus wäre dann die Errichtung des Sozialismus nur noch eine Frage des politischen Kampfes um die Macht, da die verrottende Herrschaft der Bourgeoisie im Verhältnis zur Entwicklungsstufe der Produktivkräfte immer reaktionärer würde.

Tatsächlich gab es Ansätze zu einem solchen Geschichtsdeterminismus sowohl in der Zweiten Internationale als auch im Stalinismus. Allerdings war selbst ein Karl Kautsky, bei dem sich Anklänge an eine solche Darstellung finden, weitaus differenzierter, was die Notwendigkeit emanzipatorischen Bewusstseins für die wirtschaftliche und politische Machtübernahme des Proletariats betrifft. Wesentlicher ist jedoch, dass es eine lange Tradition im „Traditions-Marxismus“ gibt, die eben diesen „deterministischen Tendenzen“ entschieden Widerstand geleistet hatte.

So war der Versuch, die neuen Erscheinungsformen des Kapitalismus nach der Wende zum 20. Jahrhundert mit dem „Imperialismus“-Konzept zu begreifen aufs engste verknüpft mit dem Kampf um eine Revolutionskonzeption, die dem mechanischen Determinismus der sogenannten „Polit-Ökonomie“ der „marxistischen Orthodoxie“ (Kautsky, Hilferding) diametral entgegengesetzt war.

Während Kautsky und Hilferding eine quasi vernünftige, „naturwüchsige“ Tendenz zur Herstellung eines „Welt-Superstaates“ im Verein mit einem „Welt-Kartell“ als Vorstufe zu einer sozialistischen Weltgesellschaft zu erkennen glaubten, der sich „irrationale“, reaktionäre Kräfte entgegenstellten, sah die revolutionäre Linke den militaristisch-nationalistischen Irrsinn des Ersten Weltkriegs nicht als „irrationalen Ausrutscher“, sondern als notwendiges Resultat der Stufe der Entwicklung des Kapitalverhältnisses – ein Unterschied, der klar die Alternative zwischen Reform und Revolution aufzeigte. Während Kautsky folgert: „Diese Ausdehnungsbestrebungen (des Kapitals) werden am besten nicht durch die gewalttätigen Methoden des Imperialismus, sondern durch friedliche Demokratie gefördert“ (6),

hört sich das bei Rosa Luxemburg so an: „Je gewalttätiger das Kapital vermittels des Militarismus draußen in der Welt wie bei sich daheim mit der Existenz nicht-kapitalistischer Schichten aufräumt und die Existenzbedingungen aller arbeitenden Schichten herabdrückt, um so mehr verwandelt sich die Tagesgeschichte der Kapitalakkumulation auf der Weltbühne in eine fortlaufende Kette politischer und sozialer Katastrophen und Konvulsionen, die zusammen mit den periodischen wirtschaftlichen Katastrophen die Fortsetzung der Akkumulation zur Unmöglichkeit, die Rebellion der internationalen Arbeiterklasse gegen die Kapitalherrschaft zur Notwendigkeit machen werden, selbst ehe sie noch ökonomisch auf ihre natürliche, selbstgeschaffene Grenze gestoßen ist“ (7).

Der Ausgangspunkt der marxistischen Linken um die Wende zum 20. Jahrhundert war gerade, dass die Entwicklung des Kapitalismus nicht bruchlos zum Sozialismus führt, sondern vor allem zu einer fürchterlichen Verschärfung der Krisenhaftigkeit und der Zusammenbruchstendenzen. In diesem Krisenbegriff treffen sich grundlegende Kritik an einer warenförmig organisierten Gesellschaftlichkeit und das Aufzeigen des historischen Punktes der Möglichkeit/Notwendigkeit eines radikalen Bruchs, der tiefgreifender ist, als die bloße „Verstaatlichung“ des bestehenden Produktionsprozesses.

Schon um die letzte Jahrhundertwende hielten die „jungen Kritiker“ Parvus, Trotzki, Luxemburg u.a. der „Orthodoxie“ gerade ihr mangelndes Krisen-Verständnis entgegen. Für den radikalen Flügel in der Zweiten Internationale war klar, dass die fieberhafte Entwicklung des Kapitalismus seit 1890 nicht die Grundlage für einen „friedlichen Übergang“, sondern für eine schreckliche Krise, mitsamt ihren politischen Folgen legen würde.

Parvus und Trotzki gingen in ihrer Einschätzung von der Konzeption „langer Wellen“ in der kapitalistischen Entwicklung aus, in der Perioden der Stagnation ruckartig von „Sturm- und Drangperioden“ abgelöst würden, die wiederum in eine heftige Krisenperiode münden würden. Als Trotzki auf dem 3. Kominternkongress die weltwirtschaftliche Lage Anfang der 20er-Jahre als „Krisen-Periode“ kennzeichnete, in der die Krisenphänomene das primäre und zeitweilige Aufschwünge das sekundäre wären, gestand er jedoch die Möglichkeit zu, dass durch bestimmte, außergewöhnliche Strukturbereinigungen auch wieder eine primäre Aufschwung-Periode zustande kommen könne.

Diese Auffassung hat sich offenbar nach dem Zweiten Weltkrieg bewahrheitet. Während die „stalinistische Orthodoxie“ im Gefolge Eugen Vargas an der „ständigen Vertiefung der Krise“ des „staats-monopolistischen“ Kapitalismus genauso festhielt, wie einige „orthodoxe Trotzkisten“ an der „Stagnation der Produktivkräfte seit 1914“, extrapolierten Ernest Mandel und andere marxistische Ökonomen aus den genannten Ansatzpunkten eine „Theorie der langen Wellen“: die Vorstellung, dass der Kapitalismus nicht nur die kurzfristige Periodizität der Konjunkturzyklen aufweist, sondern auch eine langfristigere, periodische Abfolge von Aufschwungs- und Krisenperioden, in denen es insgesamt zwar eine Abwärtstendenz gibt, in der aber bestimmte „exogene Faktoren“ (Kriege, spezielle Erfindungen, strategische Niederlagen der Arbeiterklasse…) auch immer wieder längerfristige Aufschwungswellen hervorrufen könnten (8).

Die Geschichte der „Krisentheorie“ und der darauf aufbauenden Ableitungen von bestimmten „Epochen“ und „Zusammenbruchstendenzen“ im Kapitalismus hat in der marxistischen Tradition eine lange Geschichte. Sich davon frei zu machen, indem man diese Geschichte in plumper Weise auf eine Traditionslinie reduziert, um dann doch eine bestimmte, letztlich gar nicht so neue, Krisentheorie zu vertreten, ist eigentlich ein ziemlich plumper Trick.

Statt an die krisentheoretische Diskussion in ihren richtigen wie falschen Tendenzen anzuknüpfen und daran weiter zu arbeiten, wird eine völlige Geschichtslosigkeit des eigenen Ansatzes simuliert. Damit kann man sich nicht nur zeitgeistig frei von der „alt-linken Beschmutzung“ halten, man erspart sich auch die Gegenüberstellung des eigenen krisentheoretischen Ansatzes mit anderen, die sich ebenfalls aus der Tradition der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie ableiten.

I. Zusammenfassende Darstellung der Krisentheorie von Kurz

Krisentheorie als Ausgangspunkt

Robert Kurz geht richtig davon aus, dass Marx den Kapitalismus als historisch beschränkte, an widersprüchliche Bedingungen geknüpfte Entwicklungsformation beschrieben hat: „Das logische und analytische Bezugsfeld ist daher der entwicklungstheoretisch extrapolierte, im Lichte seiner zukünftigen Krisenreife dargestellte Kapitalismus“ (9). D.h. der Kapitalismus muss von den ihm inne wohnenden Tendenzen zum Zusammenbruch her verstanden werden, oder er wird in seiner Dynamik gar nicht verstanden. Krise ist nicht Ausrutscher oder Element der „Degeneration“ – im Gegenteil: je reiner und unmittelbarer der Kapitalismus sich entfaltet, desto grundlegender und unvermeidlicher seine Krisenhaftigkeit.

„Krise“ bezeichnet dabei nicht einfach ein zeitweiliges Stocken des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses auf warenförmiger Ebene. Sie bezeichnet das Offenbarwerden der Folgen, die die Verkehrungen der Wirklichkeit in einer als verallgemeinerte Warenproduktion gesteuerten Gesellschaft für diese letztlich zeitigen. Da Verwertung des Werts, Aneignung abstrakter Arbeit, etc. zum Selbstweck geworden, dem konkrete Arbeit und Bedürfnisse untergeordnet sind, verelendet in der Krise die Gesellschaft gerade bei und an gleichzeitig überreichlich vorhandenen materiellen und personellen Mitteln zur Reichtumsproduktion.

Marx‘ ökonomische Analysen werden daher richtig wesentlich als „Kritik“, als Aufzeigen der letztendlichen Widersinnigkeit und Beschränktheit der bürgerlichen politischen Ökonomie aufgefasst. Also nicht als Beschreibung eines harmonischen Herüberwachsens der „kapitalistischen Moderne“ in eine befreite Gesellschaft, sondern der Herausarbeitung des notwendigen Bruchs mit den fundamentalen Grundlagen dieses Systems. Also auch der Unmöglichkeit, mit irgendwelchen Oberflächenkorrekturen und seichten Analysen den grundlegenden Bedrohungen, die dieses System hervorbringt, begegnen zu können.

Endkrise

Einer Vorstellung eines ewigen Auf- und Ab der Kapitalismusentwicklung ist die Krisen-Konzeption der „Krisis“ klar entgegengesetzt: aus der Untergrabung seiner eigenen Wertsubstanz, der lebendigen Arbeit und der Natur, wird die Geschichte des Kapitalismus als notwendige Bewegung auf eine Endkrise, auf die Unmöglichkeit der Fortsetzung der Kapitalakkumulation hin verstanden:

„Marx sah als abstrakte Möglichkeit (und in den ‚Grundrissen‘ als logischen Endpunkt) eine ausweglose Konstellation voraus, in der die kompensierende Expansionsbewegung nicht mehr in Gang kommen kann, die absolute Profitmasse ins Bodenlose fällt und die Mehrheit der Bevölkerung ‚außer Kurs gesetzt wird‘, weil die zugrunde liegende Produktion von ‚Wertsubstanz‘ durch den erreichten Grad der Verwissenschaftlichung (und damit der Substitution von Arbeitskraft durch technische Aggregate) nicht mehr in einem gesellschaftlich nennenswerten Ausmaß möglich ist.

Der Verfall der Wertsubstanz wird dann endgültig und irreversibel aus einem relativen (Fall der Profitrate) in einen absoluten (Fall der Profitmasse) Status überführt; sichtbar an der massenhaften Stillegung der Produktion und einer dauerhaften Massenarbeitslosigkeit. Unter Beibehaltung der kapitalistischen Formbeziehungen von allgemeinem Warentausch, Arbeitsmarkt und ‚Geldverdienen‘ würde dann die absurde Situation entstehen, dass die Gesellschaft verelendet, obwohl alle materiellen Faktoren der Reichtumsproduktion in einem sogar überreichlichen Ausmaß zur Verfügung stehen.

Genau in diese Absurdität führt die dritte industrielle Revolution der Mikroelektronik heute mit Riesenschritten real hinein. Was Marx nur als abstrakte, in weiter Ferne liegende ‚Endlogik‘ in dürren Worten erfasste, erscheint in der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch die neuen Potentiale der Rationalisierung und Automatisierung, die nach einer langen Inkubationszeit (die ersten Debatten in dieser Hinsicht fanden schon in den 50er und 60er Jahren statt) zu greifen beginnen, obwohl sie noch lange nicht ausgeschöpft sind. Die strukturelle Massenarbeitslosigkeit (andere einschlägige Phänomene sind Billiglohn, Sozialhilfe, Müllhaldenproduktion und verwandte Elendsformen) zeigt an, dass die kompensierende historische Expansionsbewegung des Kapitals zum Stillstand kommt.“ (10)

Kurz sieht die Auswirkungen dieser „Endkrise“ nur kurzfristig durch Ausdehnung des Kreditgeldes, durch Aufblähung von „fiktivem Kapital“ aufgehalten. Einen Ausweg für eine neuerliche Aufschwungsperiode sieht er nicht. Im Umkehrschluss wird damit auch für die Krisis-Gruppe klar, dass 1917 eine solche „Endkrise“ noch nicht gegeben war (11), vielmehr noch entscheidende Durchsetzungsbewegungen der Wertform ausstanden (Fordismus, nachholende Entwicklung, Internationalisierung…).

Ursprung der Krise

Was sind nun für die „Krisis“-Gruppe die untrüglichen Elemente dafür, dass wir nunmehr in einer Krisenperiode angelangt sind, in der eine Überwindung der Kapitalform der einzige Ausweg aus der Krise ist?

„Krisis“ nimmt die Redeweise von der „Krise der Arbeitsgesellschaft“, „der die Arbeit ausgeht“, wie sie seit etwa 20 Jahren in verschiedenen Zusammenhängen besprochen wird, durchaus ernst. An dieser gängigen Diskussion (z.B. „Grundeinkommen ohne Arbeit“) wird jedoch entlarvt, dass der Zusammenhang des Phänomens der Zurückdrängung produktiver Arbeit mit der Infragestellung der Grundlagen einer über Geld und Warenform regulierten Ökonomie nicht gesehen wird. Ernstgenommen bedeutet „‚Krise der Arbeitsgesellschaft‘ nicht weniger als den sukzessiven Zusammenbruch des warengesellschaftlichen Fundaments und der über Lohnarbeit und Geld vermittelten Reproduktion in ihrer Gesamtheit“ (12).

„Wenn nämlich der Arbeitsgesellschaft tatsächlich die (rentable) Arbeit ausgeht und die wertproduktive Basis der warenproduzierenden Gesellschaft wegbricht, dann betrifft diese Entwicklung nicht nur ein ‚herausgefallenes Drittel‘ der Bevölkerung, das so oder so alimentiert werden könnte. Dieser Prozess mündet vielmehr in eine neuartige Form von Verwertungskrise, die das Wirtschaftsleben insgesamt erschüttert und sowohl das gewohnte gesellschaftliche Bezugssystem als auch die staatlich vermittelten Mechanismen der Redistribution zerstört“ (13).

Die Erosion der produktiven Arbeit ist nicht einfach ein wiederholt zu beobachtender „Strukturwandel“ im Kapitalismus, sondern untergräbt die Basis des Systems selbst. Denn in welchen Formen auch immer Kapital und Geld die gesellschaftliche Reproduktion organisieren – um bewusst die fetischisierende Sprache zu benutzen -, so können sie dies nur auf der Grundlage der Verselbständigung der „abstrakten Arbeit“ als ihrer Substanz tun. Die Verausgabung von gesellschaftlicher Durchschnittsarbeit an sich, losgelöst von jedem Zweck der eigenen konkreten Bedürfnisbefriedigung, die Verdinglichung konkreter menschlicher Lebensäußerung (als Arbeit) in der Ware, deren einziger Sinn der als eines Wertträgers ist, ist die unabänderliche Grundlage für den sich selbstverwertenden Wert, also das Kapital, das als „automatisches Subjekt“ sich von allen Intentionen und individuellen Zwecksetzungen freigemacht hat, zur „Diktatur der Sachen“ geworden ist. Der Wert in seinen monetären Formen mag sich zeitweise von dieser Basis lösen – etwa in staatlichen Alimentierungen auf der Grundlage von Staatsverschuldung, durch außergewöhnliche Einnahmen über Aktien-, Optionsgeschäfte usw., dann aber immer auf Kosten anderer (oder zukünftiger) Warensubjekte, also nicht als Lösung des gesamtgesellschaftlichen Problems.

Die Grundlage für die Selbst-Untergrabung der Wertsubstanz sieht Robert Kurz in der von Marx beschriebenen Gesetzmäßigkeit des „tendenziellen Falls der Profitrate“. Der über Konkurrenz vermittelte Zwang zur beständigen Selbstausweitung des Werts erzwingt seinerseits die beständige Steigerung der Produktivität, die auf Dauer wieder nur durch die Ersetzung menschlicher Arbeitskraft durch „wissenschaftlich-technische Agenzien“ (Marx) erzielt werden kann. Da auf diese Weise in der einzelnen Ware zwangsläufig immer weniger Wert verkörpert ist, kann das Kapital nicht existieren ohne beständige Ausweitung der Produktion.

„Es galt also, die Welt mit Waren zuzuschütten und die Menschen darauf zu konditionieren, ihr Leben in der Form einer unaufhörlichen Warenproduktion und eines ständig gesteigerten Warenkonsums zu organisieren“ (14).

Immer mehr Lebensbereiche in immer mehr Regionen werden erfasst vom Zwang der warenförmigen Organisation – nichts geht mehr ohne „Bereitstellung von Kapital“ und ohne dass jegliche Tätigkeit als Lohnarbeit organisiert wird.

Gerade auch in dieser expandierenden Ausgleichsbewegung kommt der kapitalistische Selbstwiderspruch zum Ausdruck – der Untergrabung der eigenen Wertsubstanz. Wenn sich der relative Anteil der bloß reproduzierten und keine zusätzliche Surplus-Wertsubstanz schöpfenden toten Materialbestandteile am eingesetzten Gesamtkapital ständig vergrößert, während der relative Anteil der allein Surplus-Wertsubstanz setzenden Arbeitskraft sich entsprechend vermindert, so muss notwendigerweise auch der Gewinn im Verhältnis zum eingesetzten Gesamtkapital immer kleiner werden.

Mit anderen Worten: Um denselben Profit erzielen zu können, sind immer größere Vorauskosten erforderlich. Wie die Verminderung der Wertsubstanz an der einzelnen Ware dadurch kompensiert und überkompensiert wird, dass sich die Produktion zusätzlicher Waren schneller ausdehnt und also trotzdem insgesamt mehr Wertsubstanz „erzeugt“ wird, ebenso wird durch denselben Prozess der Fall der Profitrate dadurch kompensiert und überkompensiert, dass insgesamt mehr Geldkapital eingesetzt wird, als sich die Profitrate des einzelnen, jeweiligen Geldkapitals vermindert. Die (relative) Profitrate kann also fallen, während die (absolute) Profitmasse trotzdem steigt.

Daher, so Kurz, charakterisiert auch nicht der „Fall der Profitrate“ die absolute Schranke der kapitalistischen Produktion. Er charakterisiert nur die langfristige Tendenz, in der sich die immer universeller werdende Durchsetzung der Wertform gleichzeitig als Untergrabung ihrer eigenen Substanz darstellt. Selbst die „entgegenwirkenden Ursachen“ zum Fall der Profitrate, sind letztlich nur Elemente zur Beschleunigung dieses Prozesses. Dies trifft nicht nur auf die Expansion des Weltmarktes zu, sondern natürlich zentral auch auf die „Verbilligung des konstanten Kapitals“. Denn wenn auch die Entwertung des Produktivkapitals für einen neuen Produktionszyklus zu günstigeren Profitbedingungen führt, so bedeutet es selbst wiederum eine weitere Wertverminderung der dabei produzierten Ware – also setzt nur wieder den Startpunkt für eine neuerliche Kompensationsbewegung.

Mit der mikroelektronischen Verbilligung immer umfassender werdender Automatisierung, so Robert Kurz, hat nun eine neue Stufe der Reduktion der Wertbasis eingesetzt, deren kompensatorische Wirkung heute schon längst in eine rasante Untergrabung der Verwertungsbedingungen von Kapital gemündet ist – und es sei weit und breit kein neuer Kompensations-Startpunkt in Sicht.

Jedoch ist die Krise unvermeidlich, wenn die Entwertungsprozesse nicht mehr durch entsprechende Kompensationsbewegungen aufgefangen werden können, wenn also nicht nur die Profitrate fällt, sondern auch die Profitmasse. An einem gewissen Punkt der Entwicklung lässt sich die gewaltige akkumulierte Basis der Warenproduktion nicht mehr profitabel verwerten, das Kapital ist von struktureller Überakkumulation betroffen. Eine Zeitlang wird dies verschleiert durch die Expansion des Kredits, die die Expansionsbewegung „auf Pump“ weiterführen lässt. Sobald jedoch die Kette der Zahlungsverpflichtungen an ihren schwachen Gliedern reißt, erscheint die zugrundeliegende Krise an der monetären Oberfläche als „Finanzkrise“, „Mangel an Geld“ bei gleichzeitigem Überfluss an Kapital!

Durchsetzungsgeschichte der „Wertorientierung“

Auch wenn wir mit der Krisis-Gruppe übereinstimmen, dass sich das Welt-Kapital seit Mitte der 70er-Jahre in einer Periode struktureller Überakkumulation befindet – was ist nun der Unterschied zu vergleichbaren historischen Perioden: etwa den 1870/80er-Jahren oder der Periode von 1910-1948?

Für die Krisis-Gruppe sind die letzten etwa 150 Jahre der Kulminationspunkt der Durchsetzungsgeschichte der Wertform.

„Die mehrhundertjährige Entwicklung des Wertverhältnisses umfasst also Phasen mit höchst unterschiedlichen Determinierungsgraden. Die ‚Spitzenwerte‘ in dieser Hinsicht wurden erst in diesem Jahrhundert auf hoher Entwicklungs- und Integrationsstufe des Systems erreicht, insbesondere im kurzen Sommer der fordistischen Binnenformation. Bis tief ins 19. Jahrhundert hinein und teilweise darüber hinaus bestimmten hingegen noch zur warengesellschaftlichen Logik querliegende vorkapitalistische Momente das Geschehen mit. Heute wiederum schrumpft die Binnenlogik der Warengesellschaft zur Niedergangslogik (…)“ (15).

Der Krisen-Auffassung von Krisis liegt also eine bestimmte historische Perspektive der Entwicklungsgeschichte der verallgemeinerten Warenproduktion zugrunde: Während bisher noch alle Krisen des Kapitalismus überwunden werden konnten, weil es noch weite Regionen und Bereiche für eine bisher nicht erschlossene Expansionsbewegung gab, so gibt es nun keine Rettung mehr.

„Wenn die globalisierte Konkurrenz immer mehr industrielle Produktion ‚unrentabel‘ macht und immer mehr Regionen ökonomisch veröden, dann minimalisiert das Welt-Kapital seinen eigenen Aktionsradius. Auf einer zu kleinen, über die ganze Welt verstreuten Basis kann das Kapital auf Dauer nicht mehr akkumulieren, ebenso wenig wie man auf einem Bierdeckel Samba tanzen kann“ (16).

Es ist in diesem Zusammenhang auch nicht überraschend, dass z.B. Ernst Lohoff positiv auf Rosa Luxemburgs Krisentheorie Bezug nimmt, die ja bekanntlich an den Grenzen territorialer Expansion den Wendepunkt in Richtung Zusammenbruchskrise des Kapitalismus festgemacht hatte.

Diese historische Perspektive, in der alle bisherigen Krisen im Gegensatz zu heute nur Elemente zum Durchbrechen von Schranken auf dem Weg zur totalen Herrschaft der Wertform waren, während es heute nichts mehr zu durchbrechen gäbe, passt natürlich zusammen mit der Kritik am „Arbeiterbewegungs-Marxismus“ – einem der bekanntesten Elemente der Krisis-Theorie. Denn wenn 1870, 1917 etc. die Aufhebung der Wertform letztlich noch nicht auf der Tagesordnung stand, ja wenn der Versuch, in diesen Perioden eine gesellschaftlich wirksame Bewegung in Gang zu setzten, letztlich keine materielle Grundlage hatte, musste eine solche Bewegung laut Krisis zwangsläufig von der totalitären Vereinnahmungsdynamik des „automatischen Subjekts“ integriert werden: aus der systemkritischen Arbeiterbewegung wurde ein wesentlicher Hebel zur globalen Durchsetzung von Lohnarbeitsform und seiner staatlichen Regulierung.

„Nachdem die Wertlogik zu einer allgegenwärtigen und unwiderstehlichen Gewalt aufgestiegen war, sich aber noch nicht selber innerlich erschöpft hatte, musste sie zwangsläufig von einer bestimmten Entwicklungsstufe an auch die gesellschaftskritische Opposition in ihren Bann schlagen und zu ihrem eigenen Vehikel machen. Dementsprechend blieben seit (ungefähr) 1850 bis heute sämtliche konkurrierenden gesellschaftlichen Konzepte mit einer gewissen Zwangsläufigkeit im warengesellschaftlichen Horizont gefangen. Wann immer in dieser Epoche soziale und politische Bewegungen geschichtsmächtig wurden, wurden sie dies als Moment in der weiteren Durchsetzung des warenproduzierenden Systems selbst“ (17).

Diese Funktion erfülle die Arbeiterbewegung einerseits über die gewerkschaftliche Durchsetzung des Lohn- und Arbeits(platz)fetischs: Die Zurichtung auf entfremdete, abstrakte Arbeit als „Lebenserfüllung“ wird an Stelle einer ursprünglich vorhandenen Rebellion gegen diese menschliche Verstümmelung durchgesetzt (insofern gibt es bei „Krisis“ einen positiven historischen Bezug auf die „Maschinenstürmer“-Bewegung). Gewerkschaften verteidigen die „ordentliche Lohnarbeit“ des Massenarbeiters als gleichzeitige Basis für den Massenkonsum der Warengesellschaft.

Zweitens betrieb die klassische Arbeiterbewegung die Ausrichtung auf den „Politizismus“ der Oppositionsbewegungen. Ob in der Form der Ausrichtung auf die „Machtfrage“ oder der „Reform“ über den Staat – statt die Selbstorganisation der Produzenten gegenüber der „Diktatur der Sachen“ voranzutreiben, wurde die Unterordnung unter den Kampf um politische Ziele verlangt. Dabei sei der Staat neben dem Geld die zweite (abgeleitete) universalistische Form, die den Prinzipien der abstrakten Arbeit zum Durchbruch verhelfe. Er sorgt für die „gleichen und freien“ formalen Rahmenbedingungen zwischen den kapitalistischen Agenturen und damit die reibungslose Durchsetzung der Wertgesetzlichkeit. Die sozialdemokratische Ausrichtung auf den sozialstaatlichen Interventionsstaat sei genauso wie die gewerkschaftliche Durchsetzung des „Normalarbeitsverhältnisses“ konstitutiv für die fordische Aufschwungperiode des Kapitals gewesen. Andererseits seien die „staatssozialistischen Entwicklungsdiktaturen“ von Sowjetunion bis Kuba entscheidend für das Vorantreiben der globalen Industrialisierung, letztlich auch im Interesse des Weltkapitals, gewesen.

Postpolitik als Chance in der Krise

Damit wird laut „Krisis“ der „Traditions-, Arbeiterbewegungs-, Klassenkampf-Marxismus“ zu einem Haupthindernis für eine der System-Krise angemessene Oppositionsbewegung, da er Opposition wiederum an fetischisierende Formen der Warenökonomie zurückbindet, an „Arbeitsfetisch“ und Politizismus. Was ist aber dann für Krisis der Ansatzpunkt für Systemüberwindung in der Krise?

Da es für „Krisis“ aktuell keine Bewegung gibt, die tatsächlich das Potential einer Systemalternative repräsentiert, werden in ihrer Zeitschrift seit nunmehr fast 7 Jahren verschiedenste „Ansätze“ für ihre vielgerühmte „Postpolitik“ hin- und hergewälzt. Ein relativ klares Dokument zu diesem Versuch einer „Praxiswende“ findet sich in Ernst Lohoffs „Krise der Befreiung – Befreiung in der Krise“:

„An Stelle des bisherigen politischen Kampfes um die Regulation der Arbeits- und Warengesellschaft tritt der postpolitische Kampf um materielle gesellschaftliche Ressourcen“ (18).

D.h. statt alle Konflikte auf die „abstrakte Ebene“ des Kampfes um Forderungen zu bringen, die in Kategorien der Warengesellschaft formuliert sind (Lohn, Steuern, Transferleistungen …), soll es auf dem Stand der erreichten Vergesellschaftung um konkrete Fragen der Selbstorganisation jenseits dieser Kategorien gehen. Hierzu werden vor allem zwei konkrete Ansatzpunkte genannt:

Einerseits manifestiert sich die Systemkrise auch als ökologische Krise: eine neue Expansionswelle ist schon aufgrund der notwendigerweise damit verbundenen ökologischen Folgewirkungen undenkbar geworden bzw. hätte barbarische Folgen.

„Die ökologische Schranke, die einmal eine allgemeine Drohung am Zukunftshorizont war, konkretisiert sich zu einer Vielzahl mess- und spürbarer Fakten. (…) Während einst die Risikopotentiale der Großindustrie zum Auslöser grüngestrickter Kritik wurden, hat sich längst der Normalbetrieb der Megamaschine als das Hauptproblem in den Vordergrund geschoben. Mit dieser Schwerpunktverschiebung drängt die Umweltfrage aber klarer zu einer umfassenden Gesellschaftskritik“ (19).

Ökoreformismus und Lösungsmöglichkeiten über staatliche Regulierung von „Verbraucherschutz“, „Grenzwerten“, etc. würden durch immer gesteigerte Betriebsunfälle der Megamaschine von selbst entlarvt. Stattdessen bestünde die Chance, die Kritik an der Unmöglichkeit des Ökokapitalismus mit der Verbreitung der Erkenntnis zu verbinden, dass nur eine selbstorganisierte, bewusst gestaltete Lebensweise, nicht aber die Zufälligkeiten der scheinbar sachlichen Marktzwänge die ökologische Mega-Katastrophe verhindern kann. Als konkretes Beispiel wird von Lohoff die „Kritik des Automobilismus“ betrieben. Mit der Kritik an der „heiligen Kuh des vom Verbrennungsmotor abhängigen Individualverkehrs“ würde nicht nur ein Schlüsselbereich des Fordismus angegriffen, sondern auch an den Grundfesten der gegenwärtigen Warengesellschaft gerüttelt.

„Die Autofahrerei ist nicht allein die einer durchmonadisierten Gesellschaft am meisten entsprechende Transportweise, sie gehört zur psychostrukturellen Reproduktion des Warensubjekts. Wer das Auto kritisiert, kritisiert den herrschenden Sozialcharakter. Die Frage nach dem Sinn des Autos impliziert darüber hinaus eine Kritik am allgemeinen Mobilitätsbedürfnis. Dieses verweist jedoch wiederum auf die herrschende Zersiedlungsweise, wie sie die der Warengesellschaft inhärente funktionale Trennung der Sonderbereiche ‚Freizeit‘, ‚Arbeit‘ und ‚Wohnen‘ diktiert“ (20).

Konkreter wird Lohoff beim zweiten Ansatzpunkt, der „Krise der Arbeitsgesellschaft“, die sich vor allem in Massenarbeitslosigkeit ausdrückt. Die logische Antwort auf die Verknappung der Lohnarbeit sieht auch Krisis in der drastischen Verkürzung der Arbeitszeit. Allerdings kritisiert Lohoff aufs heftigste die gewerkschaftliche Illusion, mit der „Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich“ würde getreu dem keynesianischen Nachfrageprinzip der kapitalistischen Krise entgegengewirkt. Trotzdem erkennt natürlich auch Lohoff, dass eine Lohnreduktion im Gefolge von Arbeitszeitverkürzung auch in den westlichen Zentren für einen Großteil der Betroffenen das Leben fast „unbezahlbar“ machen würde.

Die Antwort für ihn ist daher, dass eben daran angesetzt werden müsse, dass diese für das Leben der Lohnabhängigen wesentlichen (und nicht mehr bezahlbaren) Bereiche eben aus der Warenförmigkeit entfernt werden müssen. Als zentralen Punkt nennt Lohoff dabei die Kosten für das Wohnen, aber auch sonstige kommunale Kosten, vom öffentlichen Transport bis zur Gesundheitsversorgung. „Was unbezahlbar wird, wird nicht bezahlt, aber auch nicht geräumt“:

„Da Wohnraum ein Gut ist, dessen Reproduktionszyklus relativ lange währt, macht es gerade auf diesem speziellen Gebiet keine sonderlichen Schwierigkeiten, mit relativ simplen Mitteln und einer noch embryonalen Selbstorganisation auf Block- und Stadtteilebene die vorhandene gesellschaftliche in eigener Regie zu sichern. Arbeitsloses handwerklerisches Know-how jedenfalls steht massenhaft zur Verfügung, und die notwendigen materiellen Ressourcen lassen sich durch partiell vielleicht noch monetäre, aber weit unter dem Mietniveau liegende (Selbst)abschöpfung und eventuell zu erkämpfende staatlich-kommunale Zuflüsse sicherstellen“ (21).

Natürlich liegt nahe, dass es hier um ein Aufwärmen einer kapitalismus-kritisch angehauchten Ökologie-, Bürgerinitiativ-, Hausbesetzer-Bewegung geht. Tatsächlich sieht Lohoff jedoch die Gefahr einer neuerlichen Vereinnahmung von Systemopposition für die Zwecke der Systemstabilisation nicht so groß:

„Wenn wir unsere eigenen krisentheoretischen Überlegungen ernst nehmen, dann springt ins Auge, wie wenig derartige Mechanismen heute noch einmal in gleicher Weise greifen können. Keiner der grundlegenden Konflikte, die heute in dieser Gesellschaft aufbrechen, lässt sich letztlich innerhalb der Systemlogik befrieden. Damit stehen aber auch zunächst einmal sehr beschränkte Ansätze gesellschaftlicher Selbstorganisation in einem gegenüber dem klassischen Muster von Opposition gründlich veränderten Kontext. Die Krise des Staates impliziert auch die Dauerkrise des Reformismus“ (22).

Die Gefahr drohe vielmehr von den aus der Systemkrise geborenen anti-universalistischen Tendenzen. D.h. einerseits in der barbarischer werdenden Politik, die immer mehr die Interessen der minoritären Reichtumsinseln schützt und brachial verteidigt. Andererseits in perspektivloser Fundamentalopposition, die dasselbe Gewaltpotential auf nicht-staatlicher Ebene freisetzt.

Die Auflösung der Nationalstaaten

Dies verweist auf die Analyse der (Welt-)Politik in Zeiten der „Endkrise“: Mit der Zusammenbruchstendenz des Kapitals kämen wir nach Robert Kurz auch ans „Ende des Nationalstaats“ und des nationalstaatlichen Imperialismus:

Die Dominanz des Weltmarktes über die nationalen kapitalistischen Ökonomien, die mit der Durchsetzung des Kapitalismus immer schon gegeben ist, führe in der Krisenperiode des Kapitals zur Auflösung der besonderen Rolle nationaler Räume. Das blitzschnell von Kontinent zu Kontinent fließende Kapital verlöre jede nationalstaatliche Bindung, um ja noch einen Zipfel von Extra-Rentabilität zu erhaschen.

„Die ‚Zonen der Rentabilität‘ aber, die sich fast täglich verändern, sind wie ein Hautausschlag über den Globus verteilt, und selbst die mächtigsten Staaten können über diese zerstreute Ökonomie keine Kontrolle mehr ausüben. Auf diese Weise werden die Unterschiede zwischen reichen und armen Ländern langsam aber sicher eingeebnet, freilich ganz und gar nicht im Sinne der allgemeinen Wohlfahrt. Überall setzt sich die Orientierung auf den Export durch, d.h. die direkte Integration in den entfesselten Weltmarkt, während gleichzeitig immer weniger Menschen marktwirtschaftlich integriert werden können“ (23).

Im Krisis-Jargon wird von der Ablösung der fordischen Periode durch den „archipelisierten Kapitalismus“ gesprochen, der in einem Meer von Zerstörung und Massenelend sein Geschäft der Verwertung weiterzutreiben versucht, ohne die Bedingungen dafür auf neuer Stufenleiter wiederherstellen zu können. Inseln des Reichtums und Müßiggangs und von „Arbeitshöllen“ existieren neben einer immer größer werdenden Masse von disfunktional gewordenen gesellschaftlichen und regionalen Verelendungsgebieten. Gleichzeitig untergräbt das überakkumulierte, globalisierte Kapital die Grundlagen von Staatlichkeit auch durch Entzug seiner materiellen Grundlagen. „Standortwettbewerb“ und Hunger nach einst staatlich organisierten Verwertungsmöglichkeiten entziehen dem „ideellen Gesamtkapitalisten“ immer mehr jegliche Handlungsspielräume. Dabei ist diese Bewegung durchaus irrational, wie das Gesamtsystem des krisenhaften Kapitalismus, da gerade das sich verstärkt globalisierende Kapital auf eine im umfassenderen Maße funktionierende Infrastruktur (Kommunikation, Verkehr, Bildung, Gesundheitsfürsorge, etc.) angewiesen wäre. Ebenso wird die Masse der völlig aus dem System – selbst der staatlichen Fürsorge und Kontrolle – herausgeworfenen Pauper zu einer krisenhaften Bedrohung für das Gesamtsystem.

Neben den geordneten kapitalistischen „Inseln“ entstehen also immer größere „Meere“ barbarischer Auflösung von Gesellschaftlichkeit, gegen die sich das System mit immer fürchterlichen Schutzwällen und Gewaltmitteln verteidigen muss:

„Überall beginnt die Mafia, Attribute der staatlichen Souveränität zu usurpieren. Verwilderte ehemalige Entwicklungs-Diktaturen, z.B. das Regime von Saddam Hussein, werden unberechenbar. Der religiöse Fundamentalismus überschwemmt die Welt mit Terror. In immer mehr Ländern gibt es perspektivlose militante Bewegungen, die ’nationalistisch‘ genannt werden, in Wirklichkeit aber ‚ethnizistisch‘ und meistens separatistisch sind. Im Gegensatz zu den alten bürgerlichen Nationalbewegungen vom 18. Jahrhundert bis zum ‚Befreiungsnationalismus‘ der Dritten Welt geht es dabei nicht mehr um die Integration, sondern im Gegenteil um die Desintegration von Nationen bzw. Nationalökonomien. Die Globalisierung einer ‚Ökonomie der Minderheit‘ führt direkt in den ‚Welt-Bürgerkrieg‘, in jedem Land und in jeder Stadt“ (24).

In diesem „Mad Max“-Szenario geht natürlich auch der Imperialismus mit unter: Einerseits bricht auch in den westlichen Zentren der Staat angesichts des globalisierten Krisenkapitalismus zusammen und es entwickeln sich dort, wie in allen anderen Gebieten die Elendszonen. Andererseits könne sich kein Staat mehr nationale Einflusszonen leisten:

„Was sollen sie mit riesigen Gebieten der Armut anfangen, deren Menschen sie nicht mehr verwenden können? Jede nationale ‚Einflusszone‘ ist nur noch ein unproduktiver Kostenfresser“ (25).

Der extrem bewegliche Körper der Rentabilitätszonen kann von keiner nationalstaatlichen Struktur mehr kontrolliert werden. Stattdessen muss das globale Kapital immer mehr Sicherheitsausgaben, immer mehr „Weltpolizei“ hervorbringen, um gegen die globalen Verlierer die Geschäftsbedingungen für die Inseln des Reichtums und der Produktivität zu sichern.

Endzeit-Szenarien und 11.September

Konsequenterweise wurden der 11.September und der darauf folgende „Kreuzzug gegen die Schurken“ als Zuspitzung dieses immer irrationaleren Kreislaufes gesehen:

„Die Ökonomie des Terrors entspricht spiegelbildlich dem Terror der Ökonomie. So erweist sich der Selbstmord-Attentäter als die logische Fortsetzung des einsamen Individuums in der universellen Konkurrenz unter den Bedingungen der Aussichtslosigkeit. Was hier zum Vorschein kommt, ist der Todestrieb des kapitalistischen Subjekts. Dass dieser Todestrieb dem westlichen Bewusstsein selbst inhärent ist und nicht nur durch die soziale, sondern auch durch die geistige Trostlosigkeit des totalitären Marktsystems ausgelöst wird, beweisen die periodischen Amokläufe von Mittelstandskindern in den Schulen der USA und das Attentat von Oklahoma, das bekanntlich ein authentisches Produkt des inneren Wahnsinns der USA war. Der auf ökonomische Funktionen reduzierte Mensch wird ebenso verrückt wie der Mensch, den der Verwertungsprozess als ‚überflüssige Existenz‘ ausspuckt. Die instrumentelle Vernunft entlässt ihre Kinder“ (26).

Der „Kreuzzug für die Zivilisation“ wird folglich nicht als imperialistischer Krieg, sondern als Teil des dem globalen Krisenkapitalismus inhärenten Bürgerkriegs gesehen. In ihm stehen sich die beiden Elemente des Systemirrationalismus gegenüber: das gewaltsame, fundamentalistische Festklammern an die „Alternativlosigkeit des Marktes“, für das jeder Zweifel an diesem Glaubensbekenntnis das „Böse schlechthin“ ist, gegenüber der fundamentalistischen Ablehnung jeglicher universalistisch-globaler Vergesellschaftung.

Folglich kann für keine Seite Partei ergriffen, sondern nur beide erbittert bekämpft werden. Den vom Kapitalismus verstoßenen und von der „Weltpolizei“ Bedrängten wird von Krisis letztlich die klassisch ökonomistische Antwort auf imperiale Repression gegeben: ähnlich wie in Argentinien heute soll der monetäre Zusammenbruch als Chance zur gesellschaftlichen Selbstorganisation jenseits der Warenökonomie begriffen werden. Oder noch abstrakter: „Es gibt nur einen Weg, dem Terror wirklich den Nährboden zu entziehen: die emanzipatorische Kritik am globalen Totalitarismus der Ökonomie.“ (27)

Wirkungsgeschichte und anti-deutsche Kritik

Das Auftreten der „Krisis“-Gruppe und ihrer vielfältigen Ableger hat in der deutschen Linken zu noch verschärfterer theoretischer Differenzierung und Verwirrung geführt. Dass sich einstige ML-Cheftheoretiker zu Kritikern des „Klassenkampf-Marxismus“ gewandelt haben, hat an sich schon für entsprechende Aufmerksamkeit – auch in der bürgerlichen Öffentlichkeit – geführt. Andererseits sorgte dieses Aufsehen zusammen mit einer sicherlich vorhandenen intellektuell-schriftstellerischen Potenz zu einer Reihe von Popularisierungs-Erfolgen, etwa mit dem „Manifest gegen die Arbeit“ oder dem „Schwarzbuch des Kapitalismus“.

Gleichzeitig kommt das Konzept der „Post-Politik“ der Befindlichkeit vieler „linker Aktivisten“ entgegen, die von Organisationen und „übergreifender Politik“ enttäuscht sind. Statt sich um politische Institutionen, Umverteilungsprojekte, Machtfragen (und -kämpfe) oder andere systemimmanente Zwänge der Geld/Warenökonomie zu kümmern, erteilt „Krisis“ der kommunalen Handwerkelei und der Ablehnung politischer Organisation höhere theoretische Weihen und stellt sich schützend gegen die „Vereinnahmung“, d.h. gegen die Politisierung solcher Kämpfe.

Es ist daher auch kein Wunder, dass Krisis-Versatzstücke selbst in der Gewerkschaftslinken auf fruchtbaren Boden treffen, trotz der verächtlichen Rolle, die Gewerkschaftliches in den „Krisis“-Publikationen spielt. Dies liegt natürlich einerseits an der gelungenen Provokation gegenüber dem „Arbeitsplatz/Standort-Fetisch“, die mit der scharfen Kritik an der Huldigung der „abstrakten Arbeit“ natürlich auch ein Kernstück der Ideologie der Gewerkschaftsapparate trifft.

Dass der Kampf gegen Entlassungen nicht einfach ein Kampf um den Erhalt entfremdeter Arbeit, sondern weitergehend in einen Kampf um die Kontrolle über die produktive Basis dieser Gesellschaft und von deren Selbstorganisation umgewandelt werden könnte, ist nicht nur für „Krisis“ eine „arbeits-fetischistische Illusion“. Auch ein Teil der Gewerkschaftslinken glaubt nicht mehr an eine solche Transformierbarkeit „traditioneller Klassenkonflikte“. Aufspüren neuer Formen des „Gewerkschaftens“ jenseits der „Apparate“, Konzentration auf kommunale Vernetzungs-Projekte und kleine Selbst-Verständigungsgruppen, etc. das passt andererseits zur Selbstgenügsamkeit der Post-Politik: Hier gilt der Kampf um Machtpositionen in der Gewerkschaft ebenso illusorisch, wie der Versuch, irgendwelche der „klassischen“ Kämpfe zu politisieren oder weiter zu treiben. Auf diese Weise gehört eine gewisse „Krisis“-Folklore zu den inzwischen gängigen Immunisierungsstrategien oppositioneller GewerkschafterInnen gegenüber jeder konsequenten und weitergehenderen Kampfperspektive.

Andererseits macht es uns Krisis dabei nicht leicht. Schon Ebermann/Trampert haben in ihrer populär gewordenen Kritik der „Verwandlung linker Theorie in Esoterik“ (28) aufgezeigt, welche eigenartigen Subjekte und Prozesse der „neuartigen Systemtransformation“ bei Robert Kurz inzwischen die Bühne betreten haben. Insbesondere die Hochstilisierung des VW-Modells (28/40-Stundenkorridor) zu einer „Reform gegen die Logik der warenproduzierenden Arbeitsgesellschaft“ (29) war wohl ein ziemlich schlecht informierter „Kurz-Schluss“. In seiner Euphorie, dass die Endkrise des Kapitalismus auch die Spitzenfunktionäre der „gesellschaftlichen Großinstitutionen“ immer mehr zur „Einsicht“ treiben würde, sieht Robert Kurz sich wohl schon in einer breiten Einheitsfront mit Piech und Co:

„Über die Brisanz der Krise wissen bürgerliche Spitzenpolitiker, Manager, Banker und Sparkassendirektoren besser Bescheid als sämtliche Restlinken zusammengenommen“ (30).

Allerdings wissen sie offenbar über ihre Krisenbewältigungsmethoden auch besser Bescheid. Die flexible Anpassung der bezahlten Arbeitszeit an die immer unsteter werdende Akkumulationsbewegung des Kapitals, stellt keineswegs Freisetzung von Zeit für „selbstorganisierte Tätigkeit“ dar, sondern strukturiert die (Lebens-)arbeitszeit nur noch unfreier.

Die Kritik von Ebermann/Trampert wendet sich aber nicht einfach gegen die Kurzsche Verharmlosung/Verkennung der nicht so „neuartigen“ und „systemtransformierenden“ Funktionen „unserer Spitzenfunktionäre“. Sie erkennen in dieser Einbeziehung der deutschen „Eliten“ in eine anti-kapitalistische Perspektive vielmehr eine Hinwendung zur „Volksgemeinschaft“ und zur Verharmlosung der ihrer Meinung nach besonderen Bösartigkeit gerade der deutschen Führungskräfte in Staat und Wirtschaft.

Hier wird schon klar, welcher Teil der deutschen Rest-Linken sich in besonderer Weise durch die Krisentheorie von Krisis und deren praktische Wendung abgestoßen und provoziert fühlen musste: Konsequent fortgeführt, muss die „Auflösung der Nationalstaatlichkeit“ und der Bedeutungsverlust von Politik in der Zerfallsperiode der Warengesellschaft auch dazu führen, dass letztlich auch der „deutsche Imperialismus“ keine Perspektive mehr hat – und auf jeden Fall nicht das Hauptthema für die neue „Post-Politik“ ist.

Insofern stellt sich für Robert Kurz die „anti-nationale“ Linke als letzte Form des „politizistischen Simmulationstheaters“ dar, das einen identitätsstiftenden Hauptfeind als Ersatz für tatsächlich systemverändernde Praxis braucht. In für die „Anti-Nationalen“ provozierender Manier kann Kurz keine besondere „deutsche Gefahr“ sehen bzw. hält die historischen Bedingungen für die Wiederholung der „deutschen Barbarei“ so für nicht mehr gegeben: wenn der deutsche Faschismus nur ein spezifisches Moment der Durchsetzung des warenfetischistischen Modernisierungsprozesses in Deutschland war, so bestehe heute eine völlig andere historische Bedingung (Zusammenbruchskrise). Wer den Faschismus von dieser ökonomischen Basis ablöse, verschaffe sich dadurch „die Möglichkeit (…), großspurig gegen das Geschichtsphantom ‚Deutschland‘ anzutreten… Damit wird eine spezifische historische Konstellation, die niemals wiederkehren kann, geradezu geschichtsphilosophisch verallgemeinert und legitimatorisch zurechtgebogen“ (31).

Entsetzt reagierte die „anti-deutsche“ Fraktion mit Vorwürfen. Kurz reihe sich ein in den mainstream der herrschenden „Entlastung der deutschen Geschichte“ und würde wohl bald in der „Jungen Freiheit“ schreiben (32). In den Krisis-Versuchen der Anknüpfung an breitere gesellschaftliche Fragestellung wurde dementsprechend ein populistisches Anbiedern an den „deutschen Normalbürger“ und dessen öko-faschistische Tendenzen erkannt (33). Bei Ebermann/Trampert wurde schon die inzwischen allseits bekannte Allzweck-Waffe der Anti-Deutschen auch gegen Robert Kurz gewendet, also „nachgewiesen“, dass seine Kapitalismuskritik „in Wirklichkeit“ eine versteckte Form von „Antisemitismus“ sein muss: Klar bei jemandem, der Ausdrücke wie „gieriger Systemprozess des Geldes“ verwendet (34)!

Tatsächlich scheinen sich hier zwei unversöhnliche Pole gegenüberzustehen: Einerseits Krisis, die aus der Ausgangsposition von der unüberwindbaren Systemkrise die Möglichkeit begründen, dass aus „unpolitischen Selbstorganisationsprozessen“ ein fortschrittlicher Ansatz werden könnte; andererseits die „Anti-Nationalen“, die aus der gegenteiligen Annahme von enormer Stärke von Kapital und nationalem Staatsapparat jede praktische systemoppositionelle Bewegung, die nicht zum „vollständig kritischen Bewusstsein“ gelangt ist, im Völkisch-Reaktionären enden sieht, sofern sie massenwirksam wird.

Wie weit sich dieser Gegensatz im „linksradikalen Kuriositätenkabinett“ schon (und besonders nach dem 11.September) zugespitzt hat, zeigt folgende Zusammenfassung aus dem jüngsten Krisis-Editorial:

„Die aktuellen Radikalismuswettbewerbe funktionieren als Ranking der Rabiaten. Wer sich barbarischer aufführt, hat Recht. Wer etwa Scharon Nachgiebigkeit gegenüber dem ‚palästinensischen Vernichtungskollektiv‘ unterstellt (außerdem will dieser wohl windelweiche Opportunist auch noch einen mickrigen Palästinenserstaat dulden) oder Bush mangelnde Entschlossenheit gegenüber dem Terrorismus vorwirft, der ist schon wer in dieser Szene. It’s a hit. Um die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, müssen die Hardcore-Antideutschen die Gangart permanent verschärfen, bis hin zum selbst provozierten Übergriff auf die eigene Truppe, der dann als wahrhaft schlagender Beweis der eigenen Bedrohung dienen soll. (…) Ihr Geschäft ist die Denunziation. Da laufen die Antideutschen zur Höchstform auf, weil es ihre Äußerungsform ist. Da sind sie deutsch wie tüchtig. Wertarbeiter sondergleichen. Wie etwa jener berüchtigte Justus Wertmüller, den man einen Diffamator ersten Ranges nennen könnte. Sozusagen eine halbautomatische Pumpgun pathischer Projektion. Wer abweicht, und sei’s auch nur eine Nuance, wird erschossen. Denn immer geht es ums Ganze. Wertmüller erspäht Nazis auf den ersten Blick, zumindest im Nachhinein weiß er nun, dass auf Krisis-Seminaren‘ die neofaschistischen Öko-Rauschebärte von der ‚Silvio-Gesell-Fangemeinde‘ sich herumtreiben. Wahrlich, man sieht es diesen Krisis-Leuten direkt an. Robert Kurz darf in der bahamotischen Hirntragödie bereits als Oswald Spengler auftreten. So jauchzt und jodelt der Antideutsche: Dass wir inzwischen wie (oder gar: als?) Faschisten zu bekämpfen sind, wissen wir seit der Dritten Kommandoerklärung der Bahamas, jener mit dem alles sagenden Titel ‚Zur Verteidigung der Zivilisation‘: ‚Wenn allerdings Antikapitalismus von den Nürnbergerischen und anderen islamisch-deutschen Gemeinschaftswerken nicht mehr unterscheidbar ist, wenn er nicht mehr die Aufhebung der kapitalistischen Vergesellschaftung auf ihrem höchsten Niveau einfordert und blind ist für die Gefahren eines Antikapitalismus, der nur noch den vorzivilisatorischen egalitären Schrecken bereithält, dann muss man ihn bekämpfen wie jede andere faschistische Gefahr auch‘ (bahamas 37)“ (35).

„Kritische Theorie“ als Ausgangspunkt

Bei aller hier dargestellten Zugespitztheit der Polemik zwischen dem Krisis- und bahamas-Pol, so ist ihnen an sich der Ausgangspunkt gemeinsam. Für beide ist die „Kritik der instrumentellen Vernunft“, wie sie von der „kritischen Theorie“ (vor allem Theodor Adornos) entwickelt wurde, letztlich die Achse der Kapitalismuskritik. Die Wende, die dadurch der Arbeits- und Wertbegriff der Marxschen Werttheorie erhält, erlaubt es, diese als „Wertkritik“ völlig von jedem Zusammenhang mit systemimmanenten Aufhebungsbewegungen zu trennen, und „Arbeiterklasse“ oder „Klassenkampf“ aus dem Kern des Marxismus selbst zu „säubern“.

Denn frei nach Adorno zählt das Reich der „abstrakten“, ent-subjektivierten Arbeits-Hölle schon längst zum Bereich der „absoluten Negativität“ – also eines Bereiches, wo „jegliche Behauptung von Positivität“, vom „Versuch des Herauspressens eines noch so ausgelaugten höheren Sinns“ (36) (also auch irgendeiner historischen Perspektive, die sich aus dem jetzigen noch entwickeln könnte) nur noch Schönreden und ideologische Befestigung dieser Hölle sei. Die Herrschaft der „Verdinglichung“ und der Zersetzung jeglicher freier Subjektivität bis hin ins intimste Denken durch die Durchsetzung des „automatischen Subjekts“ ist so totalitär geworden, dass es für eine Aufhebung aus den immanenten Widersprüchen des Kapitalismus heraus, laut Adorno, „zu spät“ sei. Daher braucht es für eine neuerliche Aufhebungsbewegung wiederum einer philosophischen Aufklärungsbewegung, die durch fundamentale Kritik die Vernebelungen und Mystifizierungen des warenfetischistischen Bewusstseins bekämpft:

„Im Prozess von Entmythologisierung muss Positivität negiert werden bis in die instrumentelle Vernunft hinein, welche Entmythologisierung besorgt“ (36).

„bahamas“ nimmt für sich in Anspruch, dieses Programm der Entmythologisierung und der Entlarvung der negativen Dialektik falscher Anti-Kapitalismen konsequent fort zu führen – offenbar bis zur typisch deutsch-intellektuellen Konsequenz der wahnhaften Selbstzerfleischung. Gerade da „Krisis“ eine Wende zum „Positiven“, zu einer Praxis jenseits der wertkritischen Kritik nimmt, wird dies von „bahamas“ als besonders hinterhältiger „Verrat“ dargestellt (siehe „Weltgeist“). Der Trick von Krisis besteht darin, den „wertkritischen Ansatz“ mit einer (Zusammenbruchs-)Krisentheorie des Kapitalismus zu verbinden. Hierdurch waren die bisherigen „Aufhebungsversuche“ nicht wie bei Adorno „zu spät“, sondern gerade umgekehrt: „zu früh“.

Sie mussten zu Elementen der Durchsetzungsgeschichte der Wertform werden, wenn sie überhaupt Wirksamkeit erlangten. Andererseits eröffnet der kapitalistische Zusammenbruch Nischen der nicht-wertförmigen Selbstorganisation, die das System qua Krise gar nicht mehr vereinnahmen kann. So lässt sich rabiate Ideologiekritik, Entlarvung „arbeiterbewegungs-marxistischer“ Hinterwäldler etc. bequem vereinbaren mit theoretisch-hochstilisierter, handwerklerischer „Post-Politik“. So schafft man es in Talkshows, Feuilletons, angesehene Verlage, vielleicht auch in Beratungs- oder Kommunal-Gremien, und kann sich gleichzeitig als fundamentaler System-Kritiker gerieren.

II. Kritik: Wertkritische Krisentheorie versus Imperialismustheorie

Arbeits-Fetisch?

Nach Robert Kurz gibt es bei Marx „zwei Lesarten“ der Arbeit: Eine ist die bereits ausgeführte „negative Vergesellschaftung“ der Herrschaft der „toten, vergegenständlichten Arbeit“ über die lebendige, die Verselbständigung der abstrakten Arbeit zum Selbstzweck, der das gesellschaftliche Ganze formt, statt umgekehrt.

Dem stehe aber bei Marx „überraschenderweise“ eine „positive Substanz“ der Arbeit gegenüber – was sich Kurz nur als Übernahme bürgerlich-modernistischer Fortschrittsmythologie erklären kann: „Arbeit“ werde hier als tatsächliche Substanz des ökonomischen Werts dargestellt: „die Redeweise vom Mehrwert als der Form einer ‚unbezahlten Mehrarbeit‘ und die dadurch strukturell bestimmte ‚Ausbeutung‘ der Arbeiter durch den Kapitalisten legt es nahe, irgendwie den ‚vollen Wert‘ für die ‚Arbeiterklasse‘ zu reklamieren. Damit aber sind Wert und ‚Arbeit‘ als Form- und Substanzkategorien der kapitalistischen Gesellschaft gleichzeitig zu ontologischen, überhistorischen Existenzbedingungen positiviert“ (37).

Seit Adorno gilt der „Ontologie“-Vorwurf als so etwas wie der Bannstrahl der „kritischen Theorie“, werde doch durch Ontologie versucht, einen objektiven, nicht-kritisierbaren Rahmen für Theorie aufzustellen.

Tatsächlich geht es hier um einen Knackpunkt des Marxschen Materialismus und der Rolle der Werttheorie darin: der Bedeutung des Unterschieds von Wertform und Wertsubstanz. So schrieb Marx in einem bekannten Brief, in Reaktion auf Rezensionen des „Kapitals“:

„Das Geschwätz über die Notwendigkeit, den Wertbegriff zu beweisen, beruht nur auf vollständigster Unwissenheit, sowohl über die Sache, um die es sich handelt, als die Methode der Wissenschaft. Dass jede Nation verrecken würde, die, ich will nicht sagen für ein Jahr, sondern für ein paar Wochen die Arbeit einstellte, weiß jedes Kind. Ebenso weiß es, dass die den verschiedenen Bedürfnismassen entsprechenden Massen von Produkten verschiedene und quantitativ bestimmte Massen der gesellschaftlichen Gesamtarbeit erheischen. Dass diese Notwendigkeit der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit in bestimmten Proportionen durchaus nicht durch die bestimmte Form der gesellschaftlichen Produktion aufgehoben, sondern nur ihre Erscheinungsweise ändern kann, ist self-evident. Naturgesetze können überhaupt nicht aufgehoben werden. Was sich in historisch verschiedenen Zuständen ändern kann, ist nur die Form, worin jene Gesetze sich durchsetzen. Und die Form, worin sich diese proportionelle Verteilung der Arbeit durchsetzt in einem Gesellschaftszustand, worin der Zusammenhang der gesellschaftlichen Arbeit sich als Privataustausch der individuellen Arbeitsprodukte geltend macht, ist eben der Tauschwert dieser Produkte“ (38).

So grundlegend einfach der hier dargestellte Zusammenhang von gesellschaftlicher Arbeit, gesellschaftlichen Bedürfnissen und der Entwicklung vermittelnder Formen auch ist, so groß ist offenbar die darin steckende Zumutung für die „kritischen Kritiker“. Dass der „Wert“ erst in der kapitalistischen Gesellschaft in selbständiger Form erscheint, ändert nichts daran, dass sich jeder Gesellschaft das im „Wert“ ausgedrückte Problem stellt – die explizite, quantitative Form, in der es im Kapitalismus als Alltagsproblem erscheint, ist gegenüber allen vorhergehenden Gesellschaftsformationen ein historischer Fortschritt, trotz aller negativen Folgen der Verselbständigung eben dieser Form.

Zur Herleitung der „abstrakten Arbeit“

Georg Lukacs kommt das Verdienst zu, in der „Ontologie des gesellschaftlichen Seins“ (39) die offenbar nicht mehr gegebene Selbstverständlichkeit des „gesellschaftlichen Substanzcharakters“ der Arbeit auf materialistisch-dialektischer Grundlage rekonstruiert zu haben. Ohne einen reduktionistischen Ableitungszusammenhang herzustellen, wird dabei „Arbeit“ zum Modell der Herausbildung von gesellschaftlichem Sein auf einer bestimmten Stufe der Herausbildung der Menschheit. In der Arbeit als „zweckgerichteter Tätigkeit“ in einer „kausal bestimmten Umgebung“ finden sich die Kernelemente der Subjektbildung und ihrer dialektischen Entwicklungsgeschichte.

Wie Marx zum Arbeitsprozess ausführt, unterscheidet sich der Bau eines Hauses durch einen menschlichen Baumeister von dem „Bau“ des Bienenstocks dadurch, dass das Haus sozusagen zuerst schon „im Kopf“ des Baumeisters vorhanden ist. Dass also die Zwecksetzung, das Wissen über die notwendigen Arbeitsschritte, die Erkenntnisse über die Kausalzusammenhänge, wie über die eigenen Fähigkeiten, der Werkzeugbenutzung, etc. in allgemein-abstrakter Form vorhanden und kommunizierbar sind, bevor sie in kooperativer Form in materielle, plan- und zweckmäßige Tätigkeit umgesetzt werden.

Mit den Zusammenhängen von gesellschaftlichen Zweck-/Willenssetzungen, den Erkenntnisprozessen zu deren Umsetzung, der materiellen Wirkung im Rahmen der mehr oder weniger durchschauten Zusammenhänge der Wirklichkeit, wird eben ein Entwicklungsprozess ausgelöst, in dem „objektive“, „materielle“, „naturbestimmte“ etc. Bedingungen mit der „Befreiung“ von solchen Bedingungen verwoben sind, ebenso wie diese „Befreiungen“ selbst wieder zu Zwängen und Bedingungen werden.

Im Prozess der „Entfremdung“ ist die Unweigerlichkeit angesprochen, mit der zweckgerichtetes Handeln, das auf einem eingeschränkten Verständnis der Realität und des Eingreifens in sie beruht („instrumentelle Vernunft“), zu Verhältnissen führt, in denen die selbstgeschaffenen Verhältnisse ihre Schöpfer beherrschen.

Daher ist Gesellschaftlichkeit völlig ohne Entfremdung und Verdinglichung ohnehin philosophische Utopie – es geht nur um das Ausmaß und die Beherrschung ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedrohlichkeit, was je nach historischen Bedingungen der Entwicklung der gesellschaftlichen Arbeit zu beurteilen ist. Denn es sind eben spezifische materielle und darauf aufbauende gesellschaftliche Potenzen (Produktivkräfte), die die Basis für mehr oder weniger bewusste, befreite gesellschaftliche Subjektivität bilden.

Auch eine Gesellschaft „selbstorganisierter, freier Assoziation“ steht vor dem Problem, ihre Möglichkeiten an freier und schöpferischer Entfaltung auf der Basis der erreichten Vergesellschaftung und Produktivkräfte nur realisieren zu können, wenn sie die vorhandenen Arbeitspotenzen effektiv und bewusst in entsprechenden Proportionen einsetzt. Ansonsten wird sich wie im Kapitalismus, in dem sich Wirtschaftlichkeit immer erst im Nachhinein „am Markt“ herausstellt, diese als „sachlicher“ Zwang der Ökonomie wieder herstellen.

Die Verleugnung des zentralen Problems der Arbeits-Ökonomie durch die „radikale Wertkritik“ ist daher nicht bloß idealistischer Humbug. Durch utopisch-philosophische Konstruktionen von „arbeitsfreier Gesellschaftlichkeit“ wird den materiell-historisch tatsächlich begründbaren Aufhebungen entfremdeter Arbeit die reale Grundlage entzogen.

Das Gefasel von „unmittelbarer Gesellschaftlichkeit“ selbstorganisierter und „befreiter Tätigkeit“ verleugnet schlicht das Grundproblem: die Begrenztheit unseres Wissens und unserer materiellen Ressourcen setzen uns immer Grenzen der „Notwendigkeit“ mit denen wir rechnen, die wir „ökonomisieren“ müssen, auch wenn sie jeweils konkret „irgendwann“ in der Zukunft überwunden werden können. Tätigkeiten, die in diesem Sinn gesellschaftlich notwendig sind, die – ob wir es wollen oder nicht – getan werden müssen („weil wir sonst alle verhungern würden“), werden immer schlichtweg „Arbeit“ genannt werden.

Insofern ist es auch falsch, wenn die „Wertkritik“ behauptet, erst mit dem Kapitalismus würde die „abstrakte Arbeit“, der Begriff von „Arbeit“ ohne jeglichen Bezug zu einer konkreten Tätigkeit, also „Arbeit an sich“ („Arbeit sans phrase“ wie es Marx in den „Grundrissen“ anspricht) auftreten. Es ist kein Wunder, dass schon die antiken Sprachen klare Unterscheidungen von „Arbeit“ im Sinn von „Mühe“/“Fron“/“laborare“ kannten, gegenüber Begriffen von positiv besetzter „konkreter Tätigkeit“/“Werken“/“operare“.

Sobald die Entwicklung der Produktivkräfte und des Mehrprodukts Formen der Befreiung vom alltäglichen Kampf ums unmittelbare Überleben hervorbrachten (wenn auch nur für einen Teil der Gesellschaft), trat das Problem der Ökonomisierung der „notwendigen Plackerei“ und der „Ersparnis von Arbeit“ beständig ins Bewusstsein. Den herrschenden Klassen war immer schon die „konkrete Tätigkeit“ der „werktätigen Bevölkerung“ egal, nicht aber dass deren „Arbeit“ effektiv für sie eingesetzt wird. Insofern ist die Geschichte der Klassengesellschaften immer auch eine Geschichte der Entwicklung von Kontrolle und Herrschaft über abstrakte, von den konkreten Fähigkeiten, Bedürfnissen, Vorlieben etc. der Tätigen losgelöste Arbeit. Die „abstrakte Arbeit“ ist keineswegs ein Produkt der „irren“ Verselbständigung des Werts und der „verrückten“ Fixierung auf die Anhäufung von vergegenständlichter abstrakter Arbeit in Wertform. Vielmehr ist umgekehrt die Entwicklung einer bestimmten Form von (Klassen-)Herrschaft über die „Arbeit“ auf einer bestimmten Stufe ihrer materiellen Entwicklung die Voraussetzung für ihre Verwandlung in „Wert“.

Herrschaft über „abstrakte Arbeit“ im Kapitalismus

Es gibt also keine „zwei Lesarten“ von Wert und Arbeit bei Marx, sondern die Wertform (Erscheinungsform des Werts) nimmt im Kapitalismus eine besondere Entwicklung gegenüber der Wertsubstanz, eben was Marx „Verselbständigung der Wertform“ nennt. Einerseits erscheint aller gesellschaftlicher Reichtum nur noch als „ungeheure Warenansammlung“, alle gesellschaftliche Reproduktion wird vermittelt über das Medium des Tausches, der „Warenform“, bis zur verselbständigten Gestalt, dem Geld. Andererseits bleibt diese Vermittlungsform gekoppelt an das Problem der Arbeits-Ökonomie: letztlich stellt sich am Markt heraus, ob die für die Warenproduktion verausgabte gesellschaftliche Arbeitskraft effektiv eingesetzt wurde, der Wert erscheint in der Preisbewegung.

Wert ist dabei nicht wie bei Kurz oder noch deutlicher bei Postone unvermittelt aus der „abstrakten Arbeit“ an sich abgeleitet. Es ist diese Ableitung vielmehr an eine spezifisch-historische Form der Herrschaft und Kontrolle über Arbeit gebunden. Die universelle Anwendbarkeit der Warenform ist eben erst mit der besonderen Form des kapitalistischen Produktionsprozesses gegeben. Kurz verfehlt die Wertbestimmung, wenn er Wert als abstrakte Eigenschaft und nicht als historische Form gesellschaftlicher Arbeit fasst.

Nur mit Entwicklung einer historisch spezifischen Produktionsweise stellt sich die in der gesellschaftlichen Aneignung der Natur verausgabte Arbeit als Wert von Dingen dar. Weil der gesellschaftliche Charakter der Arbeit nicht mehr naturwüchsig gegeben noch schon bewusst hergestellt ist, stellt sich ihre Gesellschaftlichkeit her über den gesellschaftlichen Verkehr der Sachen.

Die „Versachlichung“ des Ökonomisierungs-Problems, die verallgemeinerte Abstraktheit einer bestimmten Form von Kosten/Nutzenrechnung, wie sie auf der Stufe der warenförmigen Vergesellschaftung erreicht wird, ist also gleichzeitig verwoben mit einem Indirekt-Werden von Herrschaft über fremde Arbeit. In „versachlichter“, abstrakter Wertform wird über die konkrete Arbeit des Warenproduzenten gerichtet. Die Kontrolle der besitzenden Klassen über die von ihnen bewegte Arbeit erscheint an der Oberfläche der Gesellschaft als die Herrschaft von objektiven, „naturhaften“ Gewalten der „Markt-“ und „Kapitalbewegungen“. Doch dieses in die Wertbestimmung verwobene Indirekt-Werden von Herrschaft der entwickelten Wertform (des Kapitals) wäre nicht möglich, wenn sich die Aneignung des Werts nicht auch in einer unmittelbaren und direkten Herrschaft und Kontrolle über den kapitalistisch organisierten Produktionsprozess vollziehen würde.

Erst in diesem wird die „Gleichheit der Arbeiten“ bis ins Extrem der Kontrolle über jeden Handgriff vorangetrieben – nur damit ist gewährleistet, dass ein einmal erzieltes Produktionsergebnis auch immer wieder erzielt wird. „Gleichheit der Arbeit“ wird zur Reduktion der Arbeit auf Zusammensetzung aus „einfacher gesellschaftlicher Durchschnittsarbeit“ – etwas, was kein gedanklicher „Abstraktionsprozess“ ist, sondern hinter dem ein riesiger alltäglicher Kontroll- und Klassifizierungsapparat steht. Von der Arbeitsplatzbeschreibung, -organisation, Arbeitszeitrechnung bis zur Eingruppierung werden die Arbeit und ihr menschliches Ausführungsorgan bis ins kleinste klassifiziert und zugeordnet.

Andererseits wird durch die spezifische Klassengrundlage der bürgerlichen Herrschaft, den Zwang für den/die LohnarbeiterIn, die Arbeitskraft als Ware anzubieten, um an die im kapitalistischen Produktionsprozess produzierten lebensnotwendigen Konsumgüter heranzukommen, diese Klassifizierung bis in die „Privatsphäre“ vorangetrieben: Die Lohnabhängigen werden nicht nur im Arbeitsprozess normiert, sondern entsprechend ihrer Einstufung auch als Konsumenten standardisiert und mit entsprechender Massenware abgefertigt.

Das heißt, diese spezifisch historische Form der Vergleichbarmachung von Arbeit steht von vornherein unter der Prämisse der Organisation und Beherrschung des Arbeitsprozesses als Verwertungsprozess. Die Arbeitszeitrechnung geschieht zum Zweck der Kontrolle über die (Arbeitszeit-)Quantität der sich in Warenform vergegenständlichenden Arbeit im Verhältnis zu den Reproduktionskosten der Arbeitenden selbst. Alles, was nicht diesem Aneignungsaspekt, seiner Gewährleistung und Ausweitung dient, ist für die Frage der Verwertung irrelevant und wird weg-abstrahiert.

Auch in einer von dieser Voraussetzung befreiten Gesellschaft wird es Beschreibungen von Arbeitsschritten und Arbeitszeitrechnungen für die gesellschaftlich notwendigen Arbeiten geben. Doch ermöglicht die Rückführung der Zwecksetzungen dieser Arbeiten auf selbstbestimmte Zielsetzungen in Rahmen einer selbstorganisierten Assoziation der Produzenten, dass die Vergleichung der Arbeitserleichterung und gerechten Verteilung der Arbeit dient. Es muss dann weder jeder Handgriff kontrolliert werden, noch die Arbeit so zerstückelt werden, wie es die Herauspressung von noch mehr Mehrarbeit am besten ermöglicht.

Trotzdem muss, zumindest in einer ersten Periode, zunächst einmal überhaupt „Arbeitsgerechtigkeit“ erzielt werden: dass also jedeR über die Grundsicherung hinaus vom gemeinsam erzeugten gesellschaftlichen Reichtum soviel erhält, wie er/sie an Arbeit geleistet hat – was offensichtlich ein Fortschritt gegenüber dem Kapitalismus wäre. Das heißt aber auch, dass weiterhin ein Maß für die der Allgemeinheit geleistete Mühe vorhanden sein muss, das sich aus der Vergleichung der Arbeiten und ihrer (Arbeitszeit-)Quantitäten ergeben muss:

„Inhalt und Form sind verändert, weil unter den veränderten Umständen niemand etwas geben kann außer seiner Arbeit und weil andererseits nichts in das Eigentum der einzelnen übergehen kann außer individuellen Konsumtionsmitteln. Was aber die Verteilung der letzteren unter die einzelnen Produzenten betrifft, herrscht dasselbe Prinzip wie beim Austausch von Warenäquivalenten, es wird gleich viel Arbeit in einer Form gegen gleich viel Arbeit in einer anderen ausgetauscht“ (40).

Wenn Robert Kurz meint, dass Marx hier (bei der Frage der Aufhebung der vom Kapital angeeigneten Mehrarbeit) einen „überhistorischen“, „ontologischen“ Arbeitsbegriff verwendet, so ist Kurz der Vorwurf der idealistischen Verkennung des Arbeitsproblems zurückzugeben. Tatsächlich steht nicht die Frage der „Aufhebung der Arbeit“ an, sondern die Frage von bestimmten historischen Formen, in denen „abstrakte Arbeit“ erscheint. Erst diese Formen ermöglichen es, dass „abstrakte Arbeit“ zur Wertsubstanz wird.

Nicht die „Abstraktion“ an sich ist das Problem, sondern die dieser Abstraktion zugrundeliegenden (Klassen-)Herrschaftsverhältnisse, die zugleich dadurch befestigt und versachlicht werden. Das ungeheure Potenzial einer von naturwüchsigen und knechtschaftlichen Verhältnissen befreiten Entwicklung und Ökonomisierung von Arbeit wird gleichzeitig rückgebunden an das Kommando einer kleinen Minderheit der Gesellschaft über die warenförmig gemachten Vergegenständlichungsbedingungen dieser Arbeit.

Mit der Einverleibung der „freien Arbeitskraft“ in die Warenwelt, entsteht die Möglichkeit der Verselbständigung der Wertform: Durch die Eigenschaft einer Ware, mehr Wert zu schaffen, als zu ihrer Reproduktion notwendig ist, kann aus Geld über Kauf von Produktionsmitteln und Arbeitskraft wiederum mehr Geld gemacht werden, ohne die „Tauschgerechtigkeit“ zu verletzen.

Im Kapital ist die Bewegungsform des sich in selbständiger Form beständig verwertenden Werts gefunden. Als Geldkapital und in verwandelter Form als das in Produktionsmitteln und Waren vergegenständlichte Kapital steht es der lebendigen Arbeitskraft übermächtig gegenüber, zwingt sie zum Verkauf der Arbeitskraft bzw. Kauf der Konsumware vom Kapital und reproduziert so beständig auf höherer Stufenleiter die eigene Herrschaft. Die „tote Arbeit“ (d.h. die im Produktiv- und Warenkapital vergegenständlichte Arbeit) wird zur Diktatur über die lebendige.

Verselbständigung der Wertform und ihre Widersprüche

Auch wenn diese Selbstverwertung des Werts in selbständiger Form, d.h. als reiner Selbstzweck, das Wesen des Kapitalismus ausmacht, so ist sie doch zurückgekoppelt und abhängig von der Entwicklung der Wertsubstanz, der Arbeit selbst. Hier hat sie eine eindeutige Voraussetzung: der Kapitalismus kann nicht existieren ohne beständige Revolutionierung, Umgestaltung, Expansion der produktiven Basis der Gesellschaft. Er muss, um seinem Wesen zu entsprechen, alle denkbaren Produktivkräfte und wissenschaftlich-technischen Erkenntnisse mobilisieren, aufgreifen, kapitalisieren. Er muss insbesondere die Arbeit nicht einfach in ihrer vorgefundenen Form kommandieren, sondern sie „real subsumieren“: also entsprechend dem Verwertungsziel reorganisieren, wissenschaftlich-technisch ausrichten, aufteilen und damit in immer größerem Ausmaß „vergesellschaften“.

In diesem Verhältnis der Entwicklung von Wertsubstanz im Verhältnis zur verselbständigten Wertform sind mehrere Widersprüche angelegt:

(1) Wie schon anhand des „Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate“ ausgeführt, stößt diese schrankenlose Ausdehnungsbewegung von Produktivkraftentwicklung und Verwertungsbedürfnis auf die Beschränktheit der eigenen gesellschaftlichen Basis: die Verdrängung lebendiger Arbeit gegenüber den immer größer angehäuften Massen an Produktivkapital untergräbt die Verwertbarkeit der unaufhaltsamen Produktivkraft-Revolutionen. Verwertungsbewegung und Produktionsbewegung müssen in einem krisenhaften Prozess aufeinanderstoßen, um eventuell wieder ein neues Gleichgewicht, eine neue Ausgangslage für das „schrankenlose Wachstum“ zu finden.

(2) Die wachsende Vergesellschaftung des Produktionsprozesses, seine immer umfassender werdende interne wissenschaftlich durchorganisierte und geplante Arbeitsorganisation, steht in immer krasserem Gegensatz zur Willkür und Unberechenbarkeit der (Welt-) Marktbewegungen. Das Prinzip des „vereinzelten Einzelnen“ als gesellschaftliche Rolle der Subjekte der Warenökonomie, steht der immer schärferen Aufhebung der „vereinzelten Arbeit“ durch den gesellschaftlichen Produktionskörper gegenüber. Einerseits wird hierbei dem „Einzelnen“ die gesellschaftliche Potenz seiner Arbeit als „fremde Gewalt“ gegenübergestellt, so dass die Einzelarbeit zum entfremdeten Teilaspekt, dem unbewussten Rädchen in der Riesenmaschine wird. Andererseits kann die wachsende Vergesellschaftung nicht funktionieren ohne die Mobilisierung von Kommunikation, wachsender Kooperation auf größerer Stufenleiter, wachsendem gemeinsamen Verständnis des Produktionszusammenhangs, etc. Vereinzelung, De-Qualifikation, Entfremdung auf der einen Seite, und wachsende Qualifizierung, Kooperation, Vergesellschaftung gehen im kapitalistischen Produktionsprozess eine widersprüchliche Verbindung ein, die die Grenzen der warenförmigen Vergesellschaftungen immer klarer werden lassen.

(3) Die Entwicklung des Kapitals bedingt ungeheure Ausdehnung der „disposable time“, der Zeit, die über das Maß vorhanden ist, das notwendig zur Reproduktion der Gesellschaft gearbeitet werden müsste.

„Diese Schöpfung von Nicht-Arbeitszeit erscheint auf dem Standpunkt des Kapitals, wie aller früheren Stufen, als Nicht-Arbeitszeit, freie Zeit für einige. Das Kapital fügt hinzu, dass es die Surplusarbeitszeit der Masse durch alle Mittel der Kunst und Wissenschaft vermehrt, weil sein Reichtum direkt in der Aneignung von Surplusarbeitszeit besteht; da sein Zweck direkt der Wert, nicht der Gebrauchswert“ (41).

Die Reduktion der notwendigen Arbeitszeit produziert unter diesen Bedingungen (als „Hilfe, uns geht die Arbeit aus!“) den Irrsinn von „Arbeitslosigkeit“ bei gleichzeitiger grenzenloser Ausdehnung der Mehrarbeit für den Rest.

„Die Arbeitszeit als Maß des Reichtums setzt (…) die disposable time nur existierend im und durch den Gegensatz zur Surplusarbeitszeit oder Setzen der ganzen Zeit des Individuums als Arbeitszeit und Degration desselben daher zum bloßen Arbeiter, Subsumtion unter die Arbeit. Die entwickeltste Maschinerie zwingt den Arbeiter daher, jetzt länger zu arbeiten, als der Wilde tut oder als er selbst mit den einfachsten, rohsten Werkzeugen tat“ (42).

Aufhebungsperspektive

Damit ist klar, dass in den immanenten, vom Kapitalismus erzeugten Widerspruchsbewegungen der Produktivkraftentwicklung auch die Tendenzen seiner Aufhebung enthalten sind. Der kapitalistische Produktionsbereich ist nicht das bloße „Reich der Negativität“, so dass nur außerhalb desselben eine neue selbstorganisierte Vergesellschaftung möglich ist. Eine solche ist ohne die gewaltige materielle Basis des modernen Produktionsprozesses gar nicht möglich. Im Gegenteil: sie braucht dessen erreichten Stand an Vergesellschaftung, Verwissenschaftlichung und Technikentwicklung. Er schafft auch die produktiven Fähigkeiten zur selbstorganisierten, egalitären Kontrolle über diesen Prozess, wie die Notwendigkeit, diese auch tatsächlich zu übernehmen. Auf seiner Grundlage wird „disposable time“ zum möglichen „neuen Maß des Reichtums“:

„Die wirkliche Ökonomie – Ersparung – besteht in der Ersparung von Arbeitszeit (…); diese Ersparung aber identisch mit Entwicklung von Produktivkraft. Also keineswegs Entsagen vom Genuss, sondern Entwicklung von power, von Fähigkeiten zur Produktion und daher sowohl der Fähigkeiten wie der Mittel des Genusses.(…) Die Ersparung von Arbeitszeit gleich Vermehren der freien Zeit, d.h. der Zeit die für die volle Entwicklung des Individuums, die selbst wieder als die größte Produktivkraft zurückwirkt auf die Produktivkraft der Arbeit.(…) Die Arbeit kann nicht Spiel werden (…). Die freie Zeit, die sowohl Mußezeit als Zeit für höhere Tätigkeit ist – hat ihren Besitzer natürlich in ein anderes Subjekt verwandelt, und als dies andre Subjekt tritt er dann auch in den unmittelbaren Produktionsprozess. Es ist dieser zugleich Disziplin, mit Bezug auf den werdenden Menschen betrachtet, wie Experimentalwissenschaft, materiell schöpferische und sich vergegenständlichende Wissenschaft mit Bezug auf den gewordenen Menschen, in dessen Kopf das akkumulierte Wissen der Gesellschaft existiert“ (43).

Hier ist das Modell einer dynamischen Gesellschaft dargestellt, in der die „notwendige Arbeit“ der Entfaltung des „freien Menschwerdens“ untergeordnet ist und beide eine beständige, befruchtende Wechselwirkung eingehen.

Dies ist natürlich auch entgegengesetzt einer Vorstellung von Sozialismus, die in einer bloß „gesellschaftlich demokratisch geplanten“ Kontrolle des wie bisher ablaufenden Produktionsprozesses besteht. Wenn die produktiven, schöpferischen und kommunikativen Potenzen des modernen Produktionsprozesses nicht aus ihren entfremdeten, kapitalistischen Formen befreit werden, dann wird es einer solchen Planwirtschaft jeder dem Kapitalismus vergleichbaren Entwicklungsdynamik fehlen, weiterhin Überarbeit durch extensive Mehrarbeit betrieben und gleichzeitig unweigerlich in stagnative Krisen verfallen. Andererseits bleibt das Krisis-Modell von der „selbstorganisierten Assoziation“ ohne Bezug auf die weitere Entwicklung der Basis der „notwendigen Arbeitszeit“ ohne materielle Basis und kann in ihren Beispielen letztlich auch nichts anderes als stagnatives Werkeln mit der vorhandenen Produktiv-Basis anführen.

Kapitalismus als Klassenherrschaft

Mit der Auslöschung der wesentlichen Differenz von Wertsubstanz und Wertform bei Krisis hängt logisch auch die Auflösung von sich wesentlich entgegengesetzten gesellschaftlichen Subjekten im Kapitalismus zusammen. Klassen haben nur noch eine Rolle in der Durchsetzungsgeschichte des Kapitalismus. Ähnlich wie bei Eric Hobsbawn in seiner Historisierung der „Bourgeoisie“ (siehe „Das imperiale Zeitalter“) verschwindet die Notwendigkeit der spezifisch bürgerlichen Unternehmer- und Politikergestalt hinter der völligen Auflösung in Charaktermasken und Repräsentanz von Institutionen.

Noch im Faschismus sieht Lohoff die Notwendigkeit, aufgrund der noch nicht totalen Wertform, die Gleichförmigkeit durch Massenspektakel, -terror und sonstige Volkstümelei gegenüber noch realer Klassenspaltung zu simulieren. Erst mit der totalen Durchsetzung der Wertförmigkeit, mit der absoluten Herrschaft des „automatischen Subjekts“ im Nachkriegs-Fordismus sind alle Subjekte gleichermaßen als Marionetten dieses Apparats organisiert – wenn auch mit unterschiedlichem Leidensdruck. Aber auch die Systemeliten seien heute einer „absurden Lebensführung“ (Kurz) unterworfen.

Geht man dagegen von der materiellen Entwicklung der Wertsubstanz aus, so ist klar, dass sich das „automatische Subjekt“ nicht ohne einen tatsächlichen, interessierten, gesellschaftlichen Träger organisieren kann. Die Herrschaft des „Kapitals an sich“, als gewaltige Produktivkraftansammlung gegenüber der formgebenden lebendigen Arbeit erzeugt vor allem auch ein ungeheures Machtverhältnis. Es verlangt nach Eignern und Entscheidern, die die tatsächliche Kontrolle über den Ablauf und die Ausrichtung der Produktion ausüben. „Kapital ist (gegenüber dem Arbeiter, M.L.) als für sich seiender, selbstischer Wert sozusagen gesetzt (was im Geld nur angestrebt war). Aber das für sich seiende Kapital ist der Kapitalist.“ (44).

Aber das Kapitalverhältnis produziert nicht bloß das Machtverhältnis von Kapitalist und Arbeiter. Die Aneignung der „disposable time“ als Mehrarbeit in Form des Mehrwerts erzeugt für die gesellschaftliche Klasse auch eine materielle Grundlage von beständig komfortablerer Ausstattung. Nichts anderes ist letztlich auch der materielle Grund für die Herrschaft des „automatischen Subjekts“ – wie immer auch die gesamte Gesellschaft in verrückte, katastrophenlastige „Sachzwänge“ gezwängt wird, so gibt es doch mächtige gesellschaftliche Kräfte, die ein Interesse an der Aufrechterhaltung dieses Theaters haben.

Durch die Ablösung des Fetisch und des „automatischen Subjekts“ von dieser gesellschaftlichen Basis, wird den Fetisch sein eigentlicher gesellschaftlicher Zweck, genommen – er wird quasi wörtlich genommen. Tatsächlich verschleiert er jedoch als sachliches Verhältnis, das doch eigentlich ein ganz handgreiflich gesellschaftliches ist, die Herrschaft einer Klasse über eine andere. Bei Marx ist das noch ziemlich einfach ausgedrückt:

„Das fremde Wesen, dem die Arbeit und das Produkt gehört, in dessen Dienst die Arbeit und zu dessen Genuss das Produkt der Arbeit steht, kann nur der Mensch selbst sein. Wenn das Produkt der Arbeit nicht dem Arbeiter gehört, eine fremde Macht ihm gegenüber ist, so ist dies nur dadurch möglich, dass es einem andern Menschen außer dem Arbeiter gehört. Wenn seine Tätigkeit ihm Qual ist, so muss sie einem andern Genuss und die Lebensfreude eines andern sein. Nicht die Götter, nicht die Natur, nur der Mensch selbst kann diese fremde Macht über den Menschen sein“ (45).

Der Mystizismus um ein von jeglicher Klassengrundlage gelöstes totalitäres „automatisches Subjekt“ ist daher nichts anderes als eine quasi-religiöse Verschleierung der tatsächlich durch die Kapitalverwertung vermittelten Klassenherrschaft.

Die Prinzipien bürgerlicher Subjektbildung unter den Bedingungen der sich dynamisierenden verallgemeinerten Warenproduktion sind Konkurrenz, Kampf jeder gegen jeden einerseits und Koalitionsbildung andererseits. Schon auf der Ebene des „Kapitals im allgemeinen“ ist die Konkurrenz der Warenbesitzer in sich verschärfender Form unumgänglich ableitbar: Der Widerspruch im Tauschverhältnis zwischen dem Besitzer von Kapital und jenem von Arbeitskraft in schrankenloser Ausbeutung einerseits und Erhalt der eigenen Ware andererseits, führt bei zugespitzterer Akkumulationsbewegung zu heftigem Aufeinaderprallen „gleichberechtigter“ Ansprüche.

Gewaltsame Auseinandersetzung einerseits und Koalitionsbildung auf beiden Seiten ist daher unvermeidlich. Die Herausbildung der Arbeiterklasse als organisiertes gesellschaftliches Subjekt ist daher ein notwendiges Resultat bürgerlicher Vergesellschaftung. Es ist damit auch die Möglichkeit (wenn auch nicht unmittelbar die tatsächliche Fähigkeit) eines Subjekts gegeben, das die oben angeführten Widersprüche aufheben kann, gegenüber einem anderen Subjekt, dass unter allen Umständen am Wahnsinnssystem festhalten muss.

Das Verhältnis dieser beiden Klassen drückt daher in zweifacher Weise die Grenzen der Kapitalakkumulation aus: Einerseits dadurch, dass die Stärke der „Konkurrenzbedingungen“ der mehr oder weniger organisierten Arbeiterklasse die Lösung von Kapitalverwertungsproblemen durch Ausdehnung von Mehrarbeit begrenzt. Andererseits dadurch, dass in einer sich weitergehend organisierenden und bewusstwerdenden Klasse überhaupt eine Systemalternative als Lösung der Verwertungskrise materiell greifbar wird.

Die ökonomische Wirkung der Klassenstruktur

Konkurrenz ist eine unabdingbare Folge der durch verengende Verwertungsbedingungen bei gleichzeitiger schrankenloser Expansion aufeinander geworfenen Einzelkapitale. Andererseits ist es gerade die Konkurrenz, die die Durchsetzung des Rückbezugs auf die Wertsubstanz dieser Expansionsbewegung erzwingt.

Durch sie wird über die Marktpreisbildung den Einzelkapitalen die Anpassung an produktivere Produktionsbedingungen, die ansonsten Extraprofite erzielen würden, aufgezwungen. Ebenso führen günstigere Profitbedingungen in anderen Branchen zu Kapitalflüssen, d.h. Umverteilungen des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens zwischen den verschiedenen Bereichen, die erst die Herausbildung einer gesellschaftlichen Durchschnittsprofitrate erzwingen.

Letzteres bedeutet eben auch, dass der Wert in der kapitalistischen Wirklichkeit eben auch nie „rein“ erscheint, sondern systematisch verzerrt als Kostpreis plus Durchschnittsprofitaufschlag. Gerade diese Vereinheitlichung der Bedingungen für die Einzelkapitale als Tendenz ist der reinste Ausdruck davon, dass sich im Kapitalverwertungsautomatismus die Herrschaft einer Kapitalistenklasse vermittelt: Das Wegräumen aller „ungleichen Bedingungen“, aller „ungerechtfertigten Bevorteilungen“ und „Überregulierungen“, die Vereinheitlichung der Ausbeutungsbedingungen, also kurz zusammengefasst die Vereinheitlichung der Konkurrenzbedingungen und deren institutionelle Sicherung ist die beständige Tendenz der bürgerlichen Klasse, die jedem ihrer Mitglieder „bei fair play“ seinen „verdienten“ Durchschnittsprofit, d.h. seinen Anteil an der Ausbeutung der Arbeiterklasse, garantiert.

Damit ist der Kampf gegen alle Einschränkungen für ihre Marktpreis- und Kapitalbewegung wie auch gegen die ihren Hunger nach Mehrwert einschränkende Arbeiterklasse das einigende Band der bürgerlichen Klasse. In der Herausbildung der Durchschnittsprofitrate drückt sich aus, „warum die Kapitalisten, so sehr sie in ihrer Konkurrenz untereinander sich als falsche Brüder bewähren, doch einen wahren Freimaurerbund bilden gegenüber der Gesamtheit der Arbeiterklasse“ (46).

Nationalstaat und Weltmarkt

In einer Gesellschaft, in der der gesellschaftliche Zusammenhang nur indirekt, über Konkurrenz und Markt hergestellt wird, muss die herrschende Klasse die allgemeinen Bedingungen weiterhin durch eine scheinbar unabhängige, „neutrale“ Instanz über den konkurrierenden Warenbesitzern regeln. Der bürgerliche Staat ist die Institution, die die „gleichen“ und „freien“ Bedingungen für alle Konkurrenzteilnehmer garantieren soll: er übernimmt die Kontrolle über das Geldwesen, die Regelungen für die Marktteilnahme, die Schlichtung bei Konflikten zwischen Warenbesitzern, die Regelung allgemeiner Arbeitsbedingungen, grundlegende Infrastrukturbereitstellung, etc. – je nach Entwicklung und Bedarf von Kapitalakkumulation und Klassenkampf-Situation. Letztlich ist er der bewaffnete Arm der Bourgeoisie zur Aufrechterhaltung der Kapital-Verwertungs-Gesellschaft.

Da die Herausbildung der bürgerlichen Klasse, die Herausbildung ihres Marktes und vor allem Arbeitsmarktes, sowie die Herstellung vereinheitlichter Konkurrenzbedingungen im Wesentlichen auf nationaler Basis erfolgte (also an bestimmte historisch, kulturelle, sprachliche etc. Bedingungen geknüpft war), ist es klar, dass die Herausbildung von bürgerlichen Staaten immer eine Bildung von Nationalstaaten war. Andererseits war keine andere Gesellschaftsformation so wie der Kapitalismus von Anfang an auf weltweite Expansion und Herausbildung eines Weltmarktes ausgerichtet. Die Unterordnung des staatlichen Organisationsprinzips gegenüber dem der Kapitalverwertung drückt sich darin aus, dass der wesentlichen Weltmarktbewegung des Kapitals keine Tendenz zur Herausbildung eines Weltstaates entspricht. Die „vereinzelten Einzelstaaten“ im Meer der überbordenden Kapitalbewegung sind für das Kapital Regulation genug und Garantie für die notwendige Bewegungsfreiheit seiner Verwertung.

In dieser einzelstaatlichen Aufsplitterung drückt sich aber auch die Unterschiedlichkeit von Bedingungen aus, die an sich die Bildung der Durchschnittsprofitrate beeinflussen: Unterschiedliche Geldwerte (Währungen), unterschiedliche Steuer- und Zollsysteme, unterschiedliche Konkurrenz- und Arbeitsregulierungen etc. Daher setzt sich auf dem Weltmarkt die Tendenz zur Bildung der Durchschnittsprofitrate auch in modifizierter Form durch, in dem sie für längere Zeitperioden auch sehr verschiedene Niveaus gesellschaftlicher Produktivität im Rahmen einer spezifischen internationalen Arbeitsteilung nebeneinander existieren lässt, um dann zu um so heftigeren Angleichungsbewegungen zu führen.

Daraus folgt einerseits, dass die Entwicklungsgeschichte der Durchsetzung der Wertform innerhalb der Geschichte nie abgeschlossen sein wird: Solange es keinen Weltstaat gibt, gibt es immer noch nationale „Schranken“ der freien Bewegung von Kapital und Arbeit, die einzureißen sind und die die Profitratenbildung und damit die Preisbildung modifizieren. Gerade die Herausbildung der EU zeigt, wie schwierig es auch heute noch ist, im entwickelten Kapitalismus solche nationalen Schranken zu überwinden. Andererseits muss die jeweils erreichte „Gleichgewichtssituation“ für die Herausbildung der internationalen, am Weltmarkt realisierbaren Durchschnittsprofitrate wenn schon nicht durch einen Weltstaat, so doch durch eine dominierende kapitalistische Nation „garantiert“ werden.

Die Vorherrschaft des britischen und später des US-Kapitalismus sowie ihrer jeweiligen Währungen auf dem Weltmarkt war jeweils entscheidend für die Garantie einer aufsteigenden Weltmarktbewegung des Kapitals. Zeiten der zugespitzten Konkurrenz um diese Führungsrolle dagegen sind Ausdruck des krisenhaften Umbruchs in den Grundbedingungen der weltweiten Kapitalverwertung.

Monopol und Imperialismus

Die Bourgeoisie ist also nicht nur durch ihre Konfrontation mit den Arbeitern zur Klassenbildung gezwungen; sie ist als nationale Klasse auch immer Staatenbildner in Konfrontation mit anderen nationalen Bourgeoisien. In der Krise hat die Bourgeoisie nicht nur die Optionen, zu schließen oder noch mehr aus den Arbeitern holen. Einzelnes Kapital kann immer auch vom Unglück der anderen profitieren; massenhafte Kapitalvernichtung bei anderen schafft wieder eigene Expansionsmöglichkeiten, gegebenenfalls durch Übernahme anderer Kapitale.

Genauso lassen sich günstigere Weltmarktpositionen dazu nutzen, das eigene Kapital auf Kosten der anderen zu sanieren. Mit der Tendenz zu Zentralisation und Konzentration des Kapitals geht daher die Herausbildung einer weiteren Modifikation der Durchsetzung des Wertgesetzes einher: die bestimmende Stellung großer Kapitale und ihre „Aufteilung“ bestimmter Sektoren des Weltmarktes mit wenigen anderen „Großen“, führt in diesen Bereichen zu einer weiteren zeitweisen Verzögerung von Ausgleichsbewegungen. Die bevorteilten „monopolistischen Sektoren“ können Extra-Profite auf Kosten anderer, schwächerer Kapitale erzielen.

Gerade in der Krise bewährt sich der Zusammenhang von großen Monopolen (sowohl als Produktiv- wie als Geldkapitale) und „ihren“ Nationalstaaten, die ihnen ihre besonderen Bedingungen und Vorteile im weltweiten Kapitalverwertungssystem beibehalten helfen. Umso klarer ist, dass alle bürgerlichen Staaten, die über keine solchen mit ihnen verbundenen großen Kapitale verfügen, zum Spielball der ökonomischen und politischen Großmächte werden. Sie können höchstens um die günstigsten Ausbeutungsbedingungen für „ausländische“ Kapitalzuflüsse buhlen oder ihre „minderbewerteten“ Rohstoffe und Fertigwaren billig gegen teure Monopolwaren tauschen.

Ihre nationale Bourgeoisie erhält dadurch ein Auskommen, dass sie durch (im Vergleich zu den Zentren) verschärfte extensive Ausbeutung jedoch beständig erhöhen muss – in der „ersten Liga“ jedoch können sie so nie mitspielen. In diesem System ist die soziale Explosion in der Peripherie genauso vorprogrammiert, wie die Versuche nationaler Bourgeoisien, sich aus ihrer untergeordneten Rolle zu befreien. Daher ist dieses System des monopolistischen Kapitalismus notwendigerweise „Imperialismus“: die Staaten der großen Monopole sorgen nicht nur mit ihrem erdrückenden ökonomischen Gewicht für die Aufrechterhaltung ihrer Weltordnung, sondern wenn es sein muss auch militärisch. Auf diese Weise setzt sich der Reichtum der „großen kapitalistischen Nationen“ dann auch notwendigerweise um in die „ungeheure Ansammlung von Waffen“.

Weit entfernt davon, in der Überakkumulationskrise die Nationalstaaten „aufzulösen“, braucht sie der Kapitalismus gerade dann als imperialistische Staaten. Auch wenn er den Staat in einigen für ihn „unproduktiven“ Bereichen zurückschneidet, um Revenue zu sparen, so gilt dies keineswegs für die „Kernbereiche“ des bürgerlichen Sicherheits-Staates. Wenn heute von der Machtlosigkeit des Nationalstaates gegenüber den globalen Kapitalflüssen gesprochen wird, so wird leicht vergessen, dass die kapitalistische Führungsnation USA weiterhin aufgrund ihrer Weltmarktposition, ihrer Geld- und Handelspolitik und letztlich ihrer militärischen Omnipräsenz für ihre Kapitale Renditemöglichkeiten schafft, die um einiges ihre realen Produktivitätsvorteile übersteigen. Ebenso klar ist, dass insbesondere das deutsche Kapital, als „Führungsnation“ des EU-Blocks langfristig, wie schon zweimal im letzten Jahrhundert wiederum „global leadership“ anstrebt, um in eine ähnlich komfortable Position zu kommen. Eine Tendenz, die zum schärfsten Ausdruck der kapitalistischen Krise unter monopolistischen Weltmarktbedingungen führen kann: zum imperialistischen Krieg.

Anti-Imperialismus

Auch wenn die „Anti-Deutschen“ gegenüber „Krisis“ richtig die Gefahr aufzeigen, die gerade auch wieder vom deutschen Imperialismus ausgeht, so sehen sie doch nicht den Ursprung dieser Gefahr in internationalen Kapitalbewegungen – heute ist es die Ordnung des US-Imperialismus, die weltweit für die Aufrechterhaltung eines Ausbeutungssystems sorgt, von dem auch das deutsche Kapital mitprofitiert.

Dies ist eine Ordnung, die nur durch den internationalistischen Kampf der Arbeiterklasse überwunden werden kann, die das enorme weltumspannende Produktiv-Potential für eine wirklich globale und nicht-diskriminierende Arbeitsteilung transformiert. Im Konflikt der Imperialisten kann eine solche Internationale nur defaitistisch auf beiden Seiten sein. Sie muss getreu Liebknechts Parole „Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“ für den Sturz der herrschenden Klasse kämpfen und dafür auch die Niederlage des „eigenen“ Landes in Kauf nehmen – und zwar, um den Kampf gegen den imperialistischen Krieg in einen internationalen Klassenkampf gegen den Imperialismus, also den imperialistischen Krieg in den revolutionären Bürgerkrieg zu transformieren.

Wenn also in der zugespitzten Krise die Bedeutung des Nationalstaates in den imperialistischen Zentren nicht zurückgeht, sondern im Gegenteil größer und gefährlicher wird, so stimmt es, dass in der „Peripherie“ des Imperialismus, Staat und Ökonomie um so mehr (wenn auch in unterschiedlichen Abstufungen) zerrüttet werden. Während in einigen extremen Fällen der Staat ganz fragmentieren kann, so wird er in anderen Fällen repressivere Züge annehmen, die Hierarchie der „ungünstigen Bedingungen“ von sich, auf noch unterlegenere Regionen und Nationen weiterreichen. Von daher ist die Zunahme nationaler Konflikte nicht Ausdruck von irrationalen Auflösungstendenzen oder Rückfall in „ethnizistischen Separatismus“. Sie ist vielmehr die logische Konsequenz von realer Repression und Ausbeutung, die sich in nationaler, militärischer und ökonomischer Form immer unerträglicher macht.

Sicherlich sind heute irrationale Verzweiflungsmomente in den „anti-imperialistischen“ Bewegungen oder Aufständen häufiger, gerade weil die falschen Alternativen von Stalinismus und Dritte-Welt-Nationalismus große Enttäuschung hinterlassen haben, ohne dass an ihre Stelle eine neue massenwirksame Systemalternative getreten wäre. Umso größer wäre die Notwendigkeit, den Verzweifelten und Erniedrigten eine reale Perspektive zu geben, statt einfach ihre nationalistische Verblendung zu konstatieren.

Ein typisches Beispiel ist der Palästina-Konflikt: Das selbst vollkommen abhängige und krisengeschüttelte Israel kann sich nur mithilfe einer apartheidlichen, brutalen militärischen Unterdrückung gegenüber den Palästinensern halten. Gleichzeitig wird diese nationale Frage in der ganzen Region zum Hebel für Repression und diktatorische Regimes, wie auch zum Vorwand für imperialistische Militärpräsenz.

Natürlich liegt daher in der „nationalen Frage“ Palästinas eine ungeheure Sprengkraft für die gesamte, für den Imperialismus so wichtige Region. Ebenso ist klar, dass es keine bürgerlich-nationale Lösung dieses Problems geben kann, die für wirklichen Frieden sorgt (außer der Totalvernichtung irgendeiner Seite); denn die Errichtung eines lebensunfähigen palästinensischen Kleinstaates wird nur die Vorbereitung für die nächste Stufe der Konfliktverschärfung sein. Daher ist klar, dass nur ein multiethnisches, sozialistisches Palästina eine wirkliche Lösung für die Arbeiter und Bauern in der Region bedeuten kann; eine Lösung, die mit der imperialistischen Ordnung des gesamten Nahen Ostens natürlich in schärfsten Widerspruch steht.

Trotzkis Perspektive der permanenten Revolution – nationale Konflikte im imperialistischen Zeitalter in antiimperialistische Bürgerkriege zu transformieren – bleibt daher weiterhin unvermeidlich. Diese Perspektive setzt jedoch eine starke, organisierte internationale Arbeiterbewegung voraus, die in den betroffenen Regionen auch die Führung der nationalen Befreiungskämpfe übernehmen kann. Fehlt diese Kraft, oder ist sie zu schwach, die bürgerlich-nationalistische Führung zu überwinden, so wird dieser Kampf zwangsläufig eine reaktionäre Wende nehmen.

Ohne daher Illusionen in irgendwelche „Völker“ und ihre „Führer“, oder „nationale Befreiungskämpfe“ zu schüren, gilt es Partei zu ergreifen gegen die imperialistische Kapitalverwertungsmaschine und ihren Unterdrückungsapparat und gleichzeitig an der Alternative zu bauen, die den von ihren mörderischen Verrücktheiten Betroffenen tatsächlich eine Perspektive bieten kann: einer weltweiten, kommunistischen Arbeiterinternationale zur sozialistischen Aufhebung des Kapitalverhältnisses.

 

Anmerkungen und Fußnoten

(1) Die Zeitschrift „Krisis“ (als „Marxistische Kritik“ begonnen) erscheint seit etwa 15 Jahren. Um sie gruppiert sich eine Strömung, der neben Robert Kurz z.B. Ernst Lohoff, Norbert Trenkle und Franz Schandl angehören. Wegen ihrer spezifischen regionalen Konzentration werden sie auch manchmal flapsig als „die Nürnberger“ tituliert.

(2) Justus Wertmüller, „Abschied vom Kommunismus – ein antideutscher Showdown“, bahamas, Nr.25, S.26, 1998.

(3) Ein grundlegendes „wertkritisches“ Werk von Postone, „Time, labour and social domination – a reinterpretation of Marx’s critical theory“ (1993) wird demnächst von der „Krisis“-Gruppe auch auf deutsch herausgebracht. In der deutschen Linken stärker rezipiert wurde der Artikel „Logik des Antisemitismus“ (1979).

(4) Siehe z.B. den unter Computer-Kids so beliebten Artikel von Stefan Meretz, „Freie Software ist wertlos – und das ist gut so!“, in: Stefan Meretz, „Linux+Co. Freie Software“, Nue-Ulm, 2000.

(5) Ernst Lohoff, „Determinismus und Emanzipation“, in: Krisis, Nr.18, S.60, 1996.

(6) Karl Kautsky, „Nationalstaat, imperialistischer Staat und Staatenbund“, Nürnberg, 1915.

(7) Rosa Luxemburg, „Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“, Werke Band 5, S.410f.

(8) Siehe: Ernest Mandel, „Die langen Wellen im Kapitalismus“, Ffm., 1983.

(9) Robert Kurz, „Marx 2000“, in: Weg und Ziel, 2/99, S.1.

(10) ebd., S.7.

(11) Ernst Lohoff, „Determinismus und Emanzipation“, in: Krisis, Nr.18.

(12) Ernst Lohoff, „Krise und Befreiung – Befreiung in der Krise“, Krisis, Nr.18, S.110, 1996.

(13) Ebenda

(14) Robert Kurz, „Marx 2000“, S.6.

(15) Ernst Lohoff, „Hello Mr. Postman. Replik auf die Krisis-Kritik von Clemens Nachtmann“, in Krisis Nr.20, S.158, 1998.

(16) Robert Kurz, „Das Ende der Nationalökonomie“, Beitrag für die Brasilianische Zeitung „FOLHA“, S.3, 1995.

(17) Ernst Lohoff, „Hello Mr.Postman“, in Krisis Nr. 20, S.159.

(18) Lohoff, Krise und Befreiung, S.126

(19) Ebd., S.104

(20) Ebd., S.104

(21) Ebd., S.120

(22) Ebd., S.102

(23) Robert Kurz, „Paranoia des Terrors“, Erklärung zum 11. September 2001.

(24) Ebenda

(25) Ebenda

(26) Ebenda

(27) Ebenda

(28) T.Ebermann/R.Trampert, „Die Offenbarung der Propheten. Über die Sanierung des Kapitalismus, die Verwandlung linker Theorie in Esoterik, Bocksgesänge und Zivilgesellschaft“, Hamburg, 1995.

(29) Robert Kurz, „Feierabend“, in „konkret“, 1/1994.

(30) Ebenda

(31) Robert Kurz, „Honeckers Rache. Zur politischen Ökonomie des wiedervereinigten Deutschland“, Berlin 1991.

(32) Ebermann/Trampert, siehe oben

(33) Clemens Nachtmann, „Wenn der Weltgeist dreimal klingelt“, in: „Krisis“ Nr.20, 1998.

(34) T.Ebermann/R.Trampert, „Die Offenbarung der Propheten“, S.54.

(35) Norbert Trenkle, Editorial von „Krisis“ Nr.25.

(36) Alle Zitate aus: Theodor W. Adorno, „Negative Dialektik“, suhrkamp, 1966.

(37) Robert Kurz, „Marx 2000“, S.2.

(38) MEW 32, S. 552 f.

(39) Georg Lukacs, „Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Die Arbeit“, Luchterhand, 1973.

(40) Karl Marx, „Kritik des Gothaer Programms. Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei“, in MEW Band 19, S.20.

(41) Karl Marx, „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“, MEW 42, S.603.

(42) Ebenda

(43) Ebenda, S.607.

(44) ebd., S.224.

(45) MEW Ergänzungsband I: „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, S.518.

(46) „Das Kapital“, 3.Band, MEW25, S.208.

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