Arbeiter:innenmacht

Russland auf dem Weg zum Roten Oktober – Lenins Kampf für den Aufstand

Workers Power, Die Taktiken der Bolschewiki in der Revolution, Kapitel 7, Revolutionärer Marxismus 38, Oktober 2007

Der Oktoberaufstand, der den ArbeiterInnen und den armen Bauern die Macht in die Hand gab, war kein historischer Zufall. Er ergab sich aus zwei für den Sieg jeder proletarischen Revolution ausschlaggebenden Faktoren.

Er entstand unvermeidbar aus der sich verschärfenden Krise im Herbst 1917. Die Februarrevolution, die den Zaren gestürzt hatte, führte zu einer instabile Periode der Doppelherrschaft. Die Bourgeoisie hatte mittels der provisorischen Regierung die formale Kontrolle über den Staatsapparat, aber nur, weil die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernsowjets es ihr erlaubten. Die Bourgeoisie lebte, atmete und versuchte zu regieren dank der reformistischen Sowjetführer, den Menschewiki und dem rechten Flügel der sich auf die Bauern stützenden Sozialrevolutionäre.

Im Lauf der Monate wurde die Situation der Doppelherrschaft immer unannehmbarer sowohl für die Kapitalisten wie für die arbeitenden Massen. Dies verursachte Krise auf Krise. So oder so musste die Frage gelöst werden. Entweder würde die Bourgeoisie einen zweiten Kornilow in Marsch setzen, um die Revolution zu zermalmen, oder das Proletariat würde die Gesellschaft aus der Sackgasse führen – durch die Errichtung seiner Herrschaft.

Im Herbst 1917 waren dies die Alternativen für die Klassen in Russland. Es war die objektive Voraussetzung für den Aufstand. Trotzki bemerkte dazu später: „Eine Massenerhebung ist kein isoliertes Unterfangen, das dann heraufbeschworen werden kann, wenn es einem passt. Sie verkörpert ein objektiv bedingtes Element in der Entwicklung einer Revolution, wie die Revolution einen objektiv bedingten Prozeß in der Entwicklung der Gesellschaft darstellt.“

Die Geschichte hat jedoch allzu oft gezeigt, dass günstige objektive Voraussetzungen wie eine zugespitzte revolutionäre Krise nicht allein eine Sieggarantie für das Proletariat sind. Dies hat sich mit tragischem Ausgang in Chile, Portugal oder im Iran erwiesen. Zur Mobilisierung der Arbeiterklasse für den direkten Kampf um die Macht und zum Zusammenschweißen in ein Kampforgan, das den bürgerlichen Staat zerstören kann, bedarf es einer bewussten Führung, eines subjektiven Faktors.

Der Oktoberaufstand bewies, dass die revolutionäre Partei, bewaffnet mit korrektem Programm, Taktik und Strategie und bereit, auch sich und die Klasse mit Gewehren auszurüsten, eine unverzichtbare Vorbedingung für den Sieg ist.

Unmittelbar nach der Kornilow-Episode glaubte Lenin, dass ein friedlicher Verlauf der Revolution wieder möglich sei. In seinem Artikel „Über Kompromisse“ erklärte er, falls „Alle Macht den Sowjets!“ unverzüglich verwirklicht werden könnte, d.h. falls die menschewistischen und SR-Führer in den Sowjets durch den Druck der Massen zum Bruch mit der Bourgeoisie gezwungen werden könnten, dann: „könnte [das] mit größter Wahrscheinlichkeit eine friedliche Vorwärtsentwicklung der ganzen russischen Revolution gewährleisten und außerordentlich viel dazu beitragen, daß die internationale Bewegung für den Frieden und den Sieg des Sozialismus große Fortschritte macht.“

Die geringe Chance zu diesem Kompromiss lag darin, dass die ArbeiterInnen der Bourgeoisie nach dem Kornilow-Putsch aufs Äußerste misstrauten. Ihr Druck war ein handfester Faktor. Er konnte vielleicht bis zu einem Punkt ausgedehnt werden, wo Menschewiki und Sozialrevolutionäre zu einem zumindest formalen Bruch mit der Hauptpartei der Kapitalisten, den Kadetten, gezwungen sein würden.

Loyale Opposition wird abgelehnt

Doch noch ehe die Tinte seines Artikels getrocknet war, erfuhr Lenin, dass Kerenski vorhatte, sein fünfköpfiges Direktorium zu bilden und so seinem Drang nach Errichtung einer bonapartistischen Diktatur für die Bourgeoisie zu verstärken. Sogar jetzt weigerten sich Menschewiki und SR, den Vorschlag für eine rein „sozialistische“ Regierung, die sich auf die Sowjets stützt, zu erwägen. Darin würden die Bolschewiki die Rolle einer loyalen Opposition akzeptieren. Nach Erhalt dieser Nachricht schlug Lenin die Umbenennung des Artikels in „Nachträgliche Gedanken“ vor. Er schrieb: „Die wenigen Tage, in deren Verlauf eine friedliche Entwicklung noch möglich war, sind wohl auch schon vorbei. Ja, als allem ist ersichtlich, daß sie schon vorbei sind.“

Von da an konzentrierte Lenin seine Gedanken darauf, wie die Revolution unter bolschewistischer Führung voranzutreiben sei. Binnen 14 Tagen schloss er, dass der Aufstand eine unmittelbare Notwendigkeit war. Während der folgenden Wochen focht Lenin einen schonungslosen Kampf, um die Bolschewiki für diese Perspektive zu gewinnen. Er erfasste rasch, dass sich die objektive Lage binnen Wochenfrist dramatisch verändert hatte. Er kämpfte deshalb darum, die Partei entsprechend zu verändern und den subjektiven Faktor den objektiven Aufgaben anzupassen.

Die Krise der Doppelherrschaft vertiefte sich im September und Oktober immer mehr. Auf dem Land nahmen die Bauernmassen ihren grimmigen Krieg gegen die Landbesitzer wieder auf. Die Landfrage, von Trotzki „Untergrund der Revolution“ genannt, erhielt ausschlaggebende Bedeutung. Traditionell sahen die Bauern in den Sozialrevolutionären ihre Vertreter. Doch diese arbeiteten offen mit den Landbesitzern zusammen. Die provisorische Regierung, deren fester Bestandteil die SR waren, erklärte im September, als die Fälle von Gewalt gegen Grundbesitzer von 440 im August auf 958 anstiegen, dass: „jedermann alarmiert sein muss wegen der überall in den wildesten Formen herrschenden Unordnung.“

Um die Mistgabeln in den vollgefressenen Bäuchen der Grundeigentümer sorgten sich die SR weit mehr als um den riesigen Landhunger unter den Bauernmassen. Den Bauern konnten die Sozialrevolutionäre nur zu einem unbestimmten Zeitpunkt eine von der Bourgeoisie erfolgreich verhinderte konstituierende Versammlung anbieten, die dann die Landfrage lösen würde.

Unbeeindruckt davon setzten die Bauern ihren Landkrieg fort. Im Oktober fanden 42,1 % der Landbesetzungen seit dem Sturz des Zaren statt.

Natürliche BundesgenossInnen

Der von den Sozialrevolutionären verschmähte und von der Bourgeoisie bekämpfte bäuerliche Landkrieg hatte einen natürlichen Bundesgenossen im revolutionären Kampf der Arbeiterklasse gefunden. Das wiederum bestärkte das Proletariat als Führer aller Geknechteten in Russland ungeheuer. Trotzki sagte: „Damit der Bauer sein Land bebauen und einfrieden kann, muss der Arbeiter an der Spitze des Staates stehen: das ist die einfachste Formel für die Oktoberrevolution.“

Der Landkrieg und der Kampf des Proletariats wurden zunehmend verwoben mit einer Welle von Kämpfen um Autonomie der im Zarenreich gefangenen Nationalitäten. Im Osten kämpften BaschkirInnen und KasachInnen um Autonomie als ein Mittel, Land zu erhalten. Überall im Reich brachen nationale Kämpfe aus und richteten sich gegen Kerenskis entschlusslose Provisorische Regierung. Außerdem zeigte die unglaubliche Verbreitung von Sowjets in den Nationalitäten zusehends, dass Autonomie mit Sowjetmacht identifiziert wurde.

Die Fortsetzung des Krieges und die Gefahr einer Hungersnot steigerten unter den Soldaten, Seeleuten und ArbeiterInnen die Feindseligkeit gegen Kerenski. Die Ostseeflotte war von den Bolschewiki dominiert. Garnison um Garnison folgte ihnen. Die Sowjets wiesen allmählich immer klarere Mehrheiten für die Bolschewiki auf, als sich die Krise verschärfte. Der Prozess der Radikalisierung begann Anfang September. Als einige Bolschewiki Lenins „Über Kompromisse“ zu Gesicht bekamen, zeigten sie sich empört darüber, dass ein rechter Kurs eingeschlagen werden sollte. Slutzki vom Petrograder Komitee meinte am 7. September: „In den Fabriken und auch unter den armen Bauern beobachten wir eine Bewegung nach links (…) Wenn wir jetzt Kompromisse in Erwägung ziehen, ist das lächerlich. Keine Kompromisse! (…) Unsere Aufgabe ist die Klärung unserer Position und die bedingungslose Vorbereitung auf den militärischen Zusammenstoß.“

Doch Lenin selbst kam bald zu derselben Schlussfolgerung. Die Krise war ausgereift. Eine Verzögerung würde sich als unheilvoll erweisen. Die Bolschewiki mussten den Aufstand vorbereiten.

Lenins Ansichten wurden dem Zentralkomitee(ZK) in einer Reihe von Briefen übermittelt und am 15. September erörtert. Lenin legte dar, dass die kommende demokratische Konferenz, zu der die Bolschewiki eine starke Delegation entsenden wollten, nicht das anstehende Problem lösen würde: die Regierungsfrage. Er meinte, dass Menschewiki und SR die Konferenz schwerpunktmäßig auf das Kleinbürgertum ausrichten würden. Sie würde die Bauern und ArbeiterInnen täuschen.

Zur selben Zeit wuchs die Autorität des Bolschewismus stetig. Lenin schrieb:

„Wir haben die Chance eines sicheren Sieges, denn das Volk ist schon fast erschöpft, und nachdem wir ihm die Bedeutsamkeit unserer Führung in den Kornilow-Tagen gezeigt haben und den Block-Mitgliedern einen Kompromiss angeboten haben, den diese dann abgelehnt haben in einer Situation von seither andauernden Hin und Her, dann eröffnen wir dem ganzen Volk einen sicheren Ausweg.“

Dieser Ausweg war eine bolschewistische Regierung, die nur amtieren konnte, wenn die reformistische Führung und der gesamte bürgerliche Staatsapparat hinweggefegt sein würden. Alle Anstrengungen der Bolschewiki sollten auf die Fabriken und Kasernen, nicht auf die demokratische Konferenz angelegt sein. Lenin argumentierte, dass die demokratische Konferenz vor die Wahl gestellt werden sollte, entweder das bolschewistische Programm voll zu akzeptieren, anderenfalls würde es einen Aufstand geben.

In Erwartung von Opposition aus den eigenen Reihen eröffnete er die Auseinandersetzung mit den wankelmütigen Elementen durch die Erklärung, dass diese im „Lager der Zauderer“ gelassen werden sollten. Lenins neuer Kurs traf das ZK wie eine Bombe. Kopien der Briefe wurden vernichtet, aus Angst, sie könnten nach außen gelangen. In dieser Phase war niemand für eine sofortige Erhebung. Die Planungen der Bolschewiki für die demokratische Konferenz waren entlang der politischen Linie, wie sie in „Über Kompromisse“ dargelegt worden war, gelaufen.

Die Erklärung für die Konferenz rief die Versöhnler zum Bruch mit der Bourgeoisie und zur Übergabe der Macht an die Sowjets auf. Sie wandte sich mit einer Reihe von Forderungen an die Versöhnler, aber nicht, wie Lenin es wollte, in Form eines Ultimatums.

Stimmen für die Koalition

Die am 14. September eröffnete demokratische Konferenz war auch dazu bestimmt, mehr eigene Parteigenossen für Lenins Position zu gewinnen. Lenin sollte mit seinen Bedenken über die Zusammensetzung der Konferenz richtig liegen. Der Delegiertenschlüssel war sorgsam ausgeklügelt; die Bolschewiki, die schon die Mehrheit in den Sowjets errungen hatten, befanden sich am Eröffnungstag in einer verschwindenden Minderheit: 532 Sozialrevolutionäre (unter ihnen 71 Linke), 530  Menschewiki (davon nur 56 Internationalisten) und nur 134 Bolschewiki. Die Arbeiterklasse war damit klar unterrepräsentiert.

In dieser Zusammensetzung stimmte die Konferenz erwartungsgemäß für eine weitere Koalition der Sowjetparteien mit den Kadetten, die noch wenige Wochen zuvor Hand in Hand mit Kornilow gearbeitet hatten. Die Konferenz setzte sich fort mit der Einrichtung eines Rates, einem Vorparlament, das nur ein  Beratungsorgan für die Provisorische Regierung sein sollte.

Diese Erfahrung überzeugte Trotzki und Swerdlow, dass die Losung „Alle Macht den Sowjets“ nun nur noch gegen die Versöhnler zu verwirklichen war. Für sie wurde sie zur Aufstandslosung. In der Mitte der Konferenz näherten sie sich sichtlich Lenins Position.

Der Streit über den Aufstand wurde jetzt in Form der Frage ausgetragen, ob die Bolschewiki das Vorparlament boykottieren sollten. Trotzki war für einen solchen Boykott und trat dafür im ZK ein. Er erhielt 9 gegen 8 Stimmen, doch die Knappheit des Resultats legte es dem ZK nahe, die bolschewistische Konferenzdelegation zu befragen. Die Delegation repräsentierte stärker die Regional- und Stadtkomitees als die Parteibasis. Sie tendierten nach rechts. Zu Trotzkis und Lenins Verärgerung stimmten sie mit 77 bei 5o Gegenstimmen für eine Teilnahme am Vorparlament. Lenin schrieb: „Trotzki war für den Boykott. Bravo, Genosse Trotzki! Diese Position wurde in der bolschewistischen Gruppe auf der demokratischen Konferenz niedergestimmt. Lang lebe der Boykott. Wir können und dürfen uns unter keinen Umständen mit der Teilnahme abfinden (…) Es besteht nicht der leiseste Zweifel, dass es bemerkenswerten Wankelmut mit möglicherweise verheerenden Folgen an unserer Parteispitze gibt.”

Trotzdem wendete sich das Blatt in der bolschewistischen Partei zu Lenins Gunsten. Seine Briefe waren auch weiteren Parteikreisen bekannt geworden. Frische Kräfte von der proletarischen Parteibasis schalteten sich in die Diskussion ein und gaben Lenins Linie Rückendeckung. Seine Ungeduld, auch seine Drohung, aus dem ZK zurückzutreten, trug Früchte. Den ersten Sieg errang er, als das ZK am 5. Oktober doch noch beschloss, das zahnlose Vorparlament zu boykottieren. Das kündigte die bolschewistische Überzeugung an, dass die Zukunft der Revolution nun ausschließlich im Kampf um die Sowjetmacht lag.

Trotzki schrieb: „Wir verließen die Konferenz, um zu sagen, dass nur die Sowjetmacht die Losung des Friedens aufstellen und über die Köpfe der internationalen Bourgeoisie hinweg dem Proletariat der ganzen Welt zurufen kann. Lang lebe der direkte und offene Kampf für die revolutionäre Macht im Land.“

Dieser Auszug aus dem Vorparlament erhielt nahezu einhellige Zustimmung durch Resolutionen aus Fabriken aus ganz Russland. Es war das Zeichen, dass das Proletariat genug hatte vom Gemauschel ihrer Führer mit Kerenski und der Bourgeoisie. Jetzt war es Zeit für einen völligen Umschwung gekommen.

Eine neue Dimension

Am 10. Oktober trat das ZK erneut zusammen, um Lenins Positionen zu beraten. Diesmal kam er in seiner Verkleidung (laut Kollontai sah er aus wie ein evangelischer Geistlicher) und nahm teil, obwohl er Gefahr lief, von Kerenskis Polizei verhaftet zu werden. Lenins Resolution fügte seiner Einschätzung der Situation eine neue Dimension hinzu: eine Erhebung in Russland könnte einen europaweiten Aufruhr entfachen.

Lenin hielt die Nachricht von Unzufriedenheit unter den Matrosen der deutschen Flotte für so wichtig, dass er seine Resolution wie folgt begann: „Die internationale Lage, wie sie die russische Revolution betrifft“. Dieser Aspekt an Lenins Strategie ist später von den Stalinisten, deren Lehre vom „Sozialismus in einem Land“ einem wesentlichen Element von Lenins Marxismus widerspricht, systematisch heruntergespielt worden.

Lenins Resolution gelangte zur Abstimmung und es war klar, dass die Scheidelinie die beiden Positionen teilen würde, die das Schicksal der Revolution durch einen Aufstand in naher Zukunft lösen wollte oder die einen Aufschub des Aufstandes und die Anerkennung der „Oppositionsrolle“ in einem demokratischen (d.h. kapitalistischen) Russland wollte. Die Resolution war klar: „In der Erkenntnis, dass ein bewaffneter Aufstand unvermeidbar und die Zeit dafür absolut reif ist, weist das Zentralkomitee alle Parteigliederungen an, sich entsprechend zu verhalten und alle praktischen Fragen von diesem Standpunkt aus zu entscheiden.“

Die Resolution wurde mit 10 zu 2 Stimmen angenommen. Die Gegenstimmen kamen von zwei engen Vertrauten Lenins: von Sinowjew und Kamenew. Beide waren vom ersten Tag an, an dem Lenin den Aufstand befürwortete, bis zum schicksalhaften Tag selbst dagegen. Besonders Kamenew stand ständig auf dem rechten Parteiflügel und hatte sich nie wirklich mit Lenins Aprilthesen abgefunden. Bis in den August hinein versuchte er, die Brücke zur 2. Internationale zu schlagen, indem er sich offen für die Teilnahme an einer beantragten reformistischen Friedenskonferenz in Stockholm aussprach. Das war ein offener Bruch mit der abgestimmten bolschewistischen Politik gegen eine Teilnahme.

Nach Kornilows Putschversuch stürzte sich Kamenew auf Lenins „Über Kompromisse“ und schickte sich an, ihn äußerst rechts und konstitutionalistisch zu interpretieren. Als Lenin den Kurs änderte und für einen Aufstand eintrat, bezeugen die ZK-Protokolle folgenden Antrag Kamenews:

„Nach der Befassung mit Lenins Briefen weist das ZK deren praktische Vorschläge zurück, ruft alle Organisationen auf, sich allein an die Weisungen des ZK zu halten und bekräftigt abermals, dass das ZK jede Art von Demonstration in den Straßen für unstatthaft ansieht.“

Dieser Antrag wurde vom ZK abgelehnt, das Lenins Vorschläge noch nicht rundheraus verwerfen wollte.

Ängste

Kamenew nutzte die Angst aus, die „Zuckung des Zweifels“, wie Trotzki sie nannte, die sich in der Partei seit der Juli-Niederlage ausgebreitet hatte. Dadurch hatte Kamenew mehr Rückhalt als vor dem Juli. Vor allem nahm er Sinowjew für sich ein.

Sinowjew hing an der Idee, dass mit der Niederlage Kornilows Lenins Perspektive einer friedlichen Entwicklung zu „Alle Macht den Sowjets“ zeitlose Gültigkeit erhalten hatte. Im Fall, dass der bevorstehende 2. Nationalkongress der Sowjets stattfand, was beileibe nicht sicher war, würde der Einfluss des Bolschewismus immer mehr wachsen. Sinowjews Gradualismus, der sich mehr auf das politische Leben in den Sowjets orientierte als bei Kamenew, drückte sich in einem Artikel vom 27. September aus: „Nach unserer Meinung ist der am 20. Oktober beginnende Sowjetkongress die allmächtige Autorität über das russische Land. Wenn der Kongress zusammentritt, und falls es dazu kommt, wird die Erfahrung mit der neuen Koalition (unter Kerenski) gescheitert sein und zaudernde Elemente werden sich schließlich unserer Losung „Alle Macht den Sowjets“ anschließen. Von Tag zu Tag werden wir stärker werden.“ In dieser Perspektive werden tragende Entscheidungen dem Zufall oder Schicksal überlassen.

Einwände gegen den Aufstand

Sinowjew und Kamenew meinten, unterstützt von anderen prominenten Bolschewiki wie Nogin, Rykow und Rjasanow, dass Lenins Forderung nach einem Aufstand zu früh käme. Die Zeit wäre nicht reif dafür. Die Massen wären vermutlich noch nicht bereit. Besonders Kamenew glaubte, dass eine Koalition aus Sowjetparteien einschließlich Bolschewiki (was Lenin heftig befehdete) aus der demokratischen Konferenz entstehen könnte. Während Trotzki in jeder Wortmeldung bei der Konferenz auf die Notwendigkeit der Sowjetmacht pochte, meinte Kamenew: „Der einzig gangbare Weg besteht darin, dass die Staatsmacht in Demokratie übergeht, nicht in die Hände der Arbeiter- und Soldatendeputierten, sondern in jene Demokratie, die hier bestens vertreten ist. Wir müssen eine neue Regierung und eine Institution schaffen, der jene Regierung verantwortlich sein muss.“

Auf einer Konferenzpräsidiumssitzung fuhr er fort, die Menschewiki und SR des bolschewistischen Beistands für eine Regierung zu versichern, die ein „homogenes demokratisches Kabinett“ wäre. Er sagte: „Wir werden eine solche Regierung nicht stürzen. Wir werden sie insoweit unterstützen, wie sie eine rein demokratische Politik verfolgt und das Land zu einer konstituierenden Versammlung hinführt.“

„Unterstützung insoweit“ lautete die alte verrottete Formel, die er und Stalin im März verwendet hatten und gegen die Lenins Aprilthesen zielten. Auf der demokratischen Konferenz tauchte sie wieder auf. Selbst die Schlappe dieser Konferenz und des Vorparlaments konnte Kamenew nicht davon abbringen. Er sperrte sich bis zuletzt gegen einen Boykott.

Die entscheidende Auseinandersetzung mit Lenin und Trotzki kam eine Woche nach dem historischen Treffen vom 1o. Oktober. Eine stark erweiterte ZK-Sitzung fand am 16. Oktober unter Teilnahme auch von Vertretern verschiedener Komitees statt. Dort zeigte sich, dass die schwankenden Elemente eine starke Strömung in der Partei verkörperten. Obwohl Lenins Resolution für einen Aufstand erneut angenommen wurde (19 gegen 2 Stimmen), wurde ein Antrag von Sinowjew, bis zum 2. Sowjetkongreß zu warten, nur mit 15 gegen 6 abgelehnt. Bedenkt man, dass die Einberufung des Kongresses gar nicht sicher war, zeigte diese – Lenin schroff entgegenstehende – Resolution das Ausmaß des Rückhalts für Sinowjew. Diese Kräfte waren nur für einen Aufstand im abstrakten Sinne. Angesehene Persönlichkeiten wie Kalinin sprachen vom Aufstand wie von einem fernen Ereignis. Aber die Würfel waren dennoch gefallen.

Sinowjew und Kamenew verrieten angesichts dieses Beschlusses die Partei. Sie verbreiteten unverzüglich unter den Parteimitgliedern ein Schreiben gegen den Beschluss. Das enthüllte mehr denn je den opportunistischen Kern ihrer Perspektive. Sie fragten, ob Russland reif sei für den Aufstand und erwiderten: „Nein, tausendmal nein!“

Sie setzten all ihre Hoffnungen auf die „ausgezeichneten“ Chancen der Bolschewiki, die größte oppositionelle Kraft in der Konstituante zu werden. Sie argumentierten wie der Reformist Hilferding einige Jahre später, dass Sowjetmacht und bürgerliche Demokratie miteinander verbunden werden sollten: „Auch die konstituierende Versammlung kann sich nur auf die Sowjets in der revolutionären Arbeit verlassen. Die konstituierende Versammlung plus Sowjets, das ist der Mischtypus staatlicher Institution, auf die wir zusteuern.“

In der Konsequenz taten sie die Krise, die Russland überflutet hatte, als etwas ab, das eine noch einzuberufende konstituierende Versammlung lösen könnte. Trotzki schrieb später, dass diese Perspektive auf „schicksalsergebenem Optimismus“ beruhte, der „der Arbeitervorhut Hände und Füße bindet und sie mit Hilfe der ‚demokratischen‘ Staatsmaschinerie zu einem oppositionellen Schatten der Bourgeoisie namens Sozialdemokratie macht.“

Ihre Gegnerschaft zum Aufstand konnte noch als Fehler erklärt werden, und ihre Kampagne zur Rücknahme des Beschlusses vom 16. Oktober war ein Verstoß gegen den demokratischen Zentralismus; ihr nächster Schritt allerdings war, wie Lenin sagte, Streikbruch.

In einem Artikel für Gorkis unabhängige Zeitung „Nowaja Shisn“ erklärte Kamenew öffentlich seine Opposition gegen den ZK-Beschluss zum Aufstand – obwohl dieser Beschluss aus offenkundigen Sicherheitsgründen nicht veröffentlicht worden war. Kamenew gab also Kerenski praktisch eine Vorankündigung des Plans der Bolschewiki.

Streikbrecher

Lenin war entschlossen, den Kampf gegen die unsicheren Elemente, die nun zu Streikbrechern geworden waren, auszufechten. Sinowjew hatte Kamenews Verrat beigepflichtet und wurde daher von Lenin als mitverantwortlich gebrandmarkt. Lenin beantragte ihren Parteiausschluss und schrieb: „Es ist nicht leicht für mich, dies über Leute zu schreiben, die einst vertraute Genossen waren, aber ein Zögern würde mir hier wie ein Verbrechen vorkommen, denn eine Partei von Revolutionären, die nicht prominente Streikbrecher bestraft, würde untergehen.“

Das ist eine Lehre für alle RevolutionärInnen heute. Die Partei hatte Kurs auf den Aufstand genommen. Die Entscheidung darüber war demokratisch gefallen. Sinowjew und Kamenew hatten ihre Argumente vorgetragen und verloren. Daraufhin haben sie die Partei verraten. Für Lenin konnte an diesem Punkt der Kampf gegen den Wankelmut nicht auf halbem Weg stehen bleiben, nur weil diese Männer Freunde und Genossen waren. Das Gut der Revolution, der Wille zum Sieg forderte ihren Ausschluss.

Am Ende wurden sie aber doch nicht ausgeschlossen. Stalin veröffentlichte sogar zu dieser Angelegenheit eine redaktionelle Notiz, worin er Lenins Ton kritisierte und sich mit Sinowjew solidarisierte. Aber mit ihrer Aktion zerstörten Sinowjew und Kamenew die Aussicht, den Parteibeschluss umzustoßen.

Danach drängte Lenin, der immer ungeduldiger wurde, darauf, den Angriff zu unternehmen. Am Vorabend der Revolution, an dem er jeden Aufschub als mögliche neue Unschlüssigkeit interpretierte, sagte er über das ZK: „Ich versteh sie nicht. Wovor haben sie Angst (…) Man frage sie, ob sie hundert treue Soldaten oder Rotgardisten mit Gewehren haben. Mehr brauche ich nicht.“

Tatsächlich hatte er gewonnen. Die Verzögerungen Ende Oktober waren eher technisch als durch politische Schwierigkeiten bedingt. Als er dann – ohne ZK-Erlaubnis – am Spätabend des 24. Oktober im Hauptquartier Smolny ankam, standen die Dinge gut. Lenin hatte den entscheidenden subjektiven Faktor, die revolutionäre bolschewistische Partei auf die Höhe der Aufgaben und des Potentials der objektiven Situation gebracht.

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