Arbeiter:innenmacht

Anti-Sexismus: “Definitionsmacht” als Kampfmittel?

Susanne Kühn/Anne Moll, Neue Internationale 224, November 2017

Sexismus und sexuelle Grenzüberschreitungen gehören im Kapitalismus trotz aller Versprechen von Gleichberechtigung weiterhin zum Alltag von Frauen.

Bei sexueller Belästigung und Gewalt bis hin zur Vergewaltigung ist der bürgerliche Rechtsstaat weiterhin der Auffassung, dass die Frau in der Beweisschuld steht. Eine sexistische Justiz, die zunächst fragt, welche Kleidung die Frau trug, ist Normalität. Ein Drittel der Frauen erlebt sexuelle und/oder körperliche Gewalt, zwei Drittel haben schon sexuelle Belästigung über sich ergehen lassen müssen wie auch über 40 % psychische Gewalt. Nur ein Bruchteil davon kommt je zur Anzeige, geschweige denn zur Verurteilung.

Antwort?

Als Antwort auf diesen Sexismus erhoben daher Teile des Feminismus die Forderung, dass allein den betroffenen Frauen die „Definitionsmacht“ zustehe, ob ein sexueller Übergriff stattfand oder nicht. Die Rechte der Betroffen sollen gestärkt und die immanenten frauenunterdrückerischen Mechanismen der Gesellschaft außer Kraft gesetzt werden, so dass ein sexueller Übergriff oder im Extremfall eine Vergewaltigung durch die Beschuldigung selbst schon als erwiesen gilt. Die im Strafrecht in der Regel gültige Unschuldsvermutung eines/r Angeklagten wird außer Kraft gesetzt.

Diese Position hat den Vorzug, dass sie Frauen nicht den üblichen, einschüchternden und erniedrigenden polizeilichen, kriminaltechnischen oder richterlichen Befragungen aussetzt. Sie erscheint als die Lösung gegen das erniedrigende Verhör („Mir glaubt es keiner“), mit dem Frauen nach einem sexuellen Übergriff häufig konfrontiert werden. Die „übliche“ Herangehensweise des bürgerlichen Rechts wird gewissermaßen umgekehrt.

Unglücklicherweise wirft diese Methode jedoch ebenso viele Probleme auf, wie sie zu lösen verspricht.

Erstens ist die Unschuldsvermutung im bürgerlichen Recht ein Rechtsgrundsatz, der den/die BürgerIn vor staatlicher Willkür schützt. Ihn auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft für Vergewaltigungen, sexuelle Gewalt und Übergriffe aufzuheben, eröffnet entgegen den besten Absichten unvermeidlich auch die Gefahr des staatlichen Missbrauchs.

Zweitens hat dieser Vorschlag auch eine Kehrseite, die zur Entwertung einer Verurteilung wegen sexueller Gewalt führen würde. Jeder Täter wird darauf hinweisen, dass er sich gegen die Beschuldigung nicht verteidigen durfte, ihm ein ansonsten elementares Recht für jede/n andere/n Beschuldigte/n verwehrt wurde. Es führt daher auch zu einer Relativierung der Tat.

Was als Fortschritt über das bürgerliche Recht hinaus betrachtet wird, fällt sogar leider hinter dieses in bestimmten Punkten zurück. Ist die Beschuldigung erst mal ausgesprochen, wird dem Bezichtigten quasi keine Möglichkeit mehr gegeben, seine mögliche Unschuld zu beweisen.

Umkehr

Bei dieser Herangehensweise handelt es sich um eine Umkehr der juristischen Konsequenzen aus den patriarchal-bürgerlichen Verhältnissen, nicht um den Versuch, letztere aufzuheben. Anstelle der vielen Vorurteile und Rollenzuschreibungen von Frauen und Männern, die tatsächlich dazu führen, dass Frauen nach einem sexuellen Übergriff weniger geglaubt wird als männlichen Tätern, wird mit der Definitionsmacht ohne den Anspruch der Wahrheitsfindung das Ganze umgekehrt.

Es wird dabei jedoch außer Acht gelassen, dass die Ursache für die Unterdrückung der Frau nicht im Rechtssystem und auch nicht in sexistischer Ideologie liegt. Diese sind vielmehr Ausdruck einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung im Kapitalismus. Es wird so die Illusion genährt, dass Unterdrückung, Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen durch ein anderes – noch dazu keinesfalls unproblematisches – Verfahren auf dem Boden des bürgerlichen Systems aus der Welt geschafft werden könnten.

Damit wollen wir keineswegs einem passiven Abwarten das Wort reden. Wir sind jedoch der festen Überzeugung, dass Linke in der bestehenden wie auch in einer zukünftigen Gesellschaft das Recht jeder/s Beschuldigten verteidigen sollen, auch Beweise und Argumente für seine/ihre Unschuld vorzubringen.

Alternative

Die Lösung kann nicht in der „Definitionsmacht“ des/der Beschuldigenden liegen, wie es sie ausnahmsweise auch im bürgerlichen Recht (z. B. im Arbeitsrecht) gibt.

Vielmehr muss die Oberhoheit über das Verfahren durch Polizei und Gerichte als Institutionen des bürgerlichen Staates in Frage gestellt werden. Die Untersuchungen sollten von gewählten VertreterInnen der Bevölkerung, vor allem aus der ArbeiterInnenklasse, geleitet werden, die dabei auch auf den kriminaltechnischen und medizinischen Apparat zurückgreifen können. Dabei muss mindestens die Hälfte der Mitglieder solcher Kommissionen aus Frauen bestehen. Vor allem aber sollten nicht (meist männliche) BerufsrichterInnen Recht sprechen, sondern gewählte Vertreterinnen der Massen.

Solche Forderungen sollen einen doppelten Zweck erfüllen. Erstens sollen sie – soweit möglich – die erniedrigenden, sexistischen Formen der bürgerlichen Justiz zurückdrängen und so Frauen ermutigen und erleichtern, sich gegen sexuelle Übergriffe, Gewalt und Vergewaltigung zur Wehr zu setzen. Zweitens sollen sie auch einen Vorgeschmack auf ein anderes Rechtssystem geben, das von den Ausgebeuteten und Unterdrückten bestimmt wird, wo Frauen, die unter denselben Bedingungen wie die Opfer sexueller Gewalt und Übergriffe leben und leiden müssen, diejenigen sind, die Vorwürfe untersuchen und Recht sprechen – nicht ein abgehobener BeamtInnenapparat.

 

In einer der folgenden Ausgaben wollen wir uns mit der „Definitionsmacht“ und den Alternativen dazu hinsichtlich von Vorwürfen sexueller Übergriffe in der Linken und ArbeiterInnenbewegung beschäftigen.

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