Modell Oktoberrevolution – Aktualität und Diskussion der bolschewistischen Revolutionskonzeption

Markus Lehner, Revolutionärer Marxismus 49, März 2017

„Wo geht’s denn hier zum Winterpalais?“, titelte eine Diskussionsrunde zu „Reform, Transformation, Revolution“ auf dem UZ-Pressefest von 2014 zwischen den Vordenkern Leo Mayer (DKP), Conrad Schuhler (isw) und Walter Baier (KPÖ). Der Titel trifft die Orientierungsprobleme der „etablierten“ Linken in Bezug auf die Oktoberrevolution ziemlich gut. Von isw bis zu den „Thinktanks“ der Linkspartei in der Rosa-Luxemburg-Stiftung, ganz zu schweigen vom „akademischen Marximus“, tut man sich mit dem Bezug auf die Oktoberrevolution schwer.

Sie wird im besten Fall noch als ein wichtiges historisches Ereignis genannt. Spätestens seit den 70er Jahren gibt es von der revisionistischen Linken eine Abkehr vom „Modell Oktoberrevolution“, die sich heute in Schlagwörtern wie „Transformation statt Revolution“ oder auch „revolutionäre Reformpolitik“ ausdrückt. Ob diese Konzepte den Marxismus bereichern oder mit ihm brechen, soll u. a. im Folgenden erörtert werden.

Wir wollen im folgenden Artikel die von Lenin besonders in „Staat und Revolution“ zusammengefasste bolschewistische Revolutionskonzeption als rätedemokratisch basierte Zerschlagung des bürgerlichen Staates herausarbeiten, indem wir sie mit ihren Relativierungen und Kritiken von Gramsci, Althusser, Poulantzas konfrontieren, auf die sich moderne AnhängerInnen der „Transformationstheorie“ (s. o.) oft berufen.

Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit den Grundprinzipien der marxistischen Staats- und Revolutionstheorie, die der strategischen Ausrichtung und den programmatischen Schlussfolgerungen Lenins zugrunde lagen.

In den folgenden Abschnitten setzten wir uns mit Autoren auseinander, die von den TransformationstheorikerInnen als theoretische Bezugspunkte genannt werden.

Dabei unterziehen wir zuerst die Konzeption Gramscis einer Kritik, untersuchen ihre Stärken und Schwächen. Wir werden dabei zeigen, dass die modernen RevisionistInnen diese Konzeption (ebenso wie die Rosa Luxemburgs) zwar entstellen, aber dabei auch wirkliche Anknüpfungspunkte in Gramscis Arbeiten finden.

Dem folgt eine Kritik der „Entmystifizierung“ der Oktoberrevolution durch Althusser und seiner „Enthegelianisierung“ des Marxismus. Schließlich unterziehen wir Poulantzas und seine anti-leninistische Staatstheorie einer Kritik. Während die theoretische Konzeption Gramscis in vielem widersprüchlich, gewissermaßen zentristisch bleibt, tritt der Revisionismus bei Althusser und Poulantzas offen zutage.

Nach dieser Darstellung und Kritik von Theoretikern, auf die sich „moderne“ Entstellungen der Oktoberrevolution stützen, beschäftigen wir uns mit Georg Lukács und auch Karl Korsch, zwei Theoretikern, die versuchen, die Lehren des Bolschewismus in den ersten Jahren nach der Revolution theoretisch zu verallgemeinern. Sie stellen daher einen Bezugspunkt für eine revolutionäre Betrachtung dar. In diesem Zusammenhang unterziehen wir auch Zizek und seine Interpretation der Russischen Revolution einer grundlegenden Kritik.

Den Abschluss des Artikels bildet die Diskussion über die Bedeutung der Räte in der sozialistischen Revolution und in der Übergangsperiode.

Damit wollen wir zeigen, dass das Verständnis der Räte untrennbar mit dem des Verhältnisses von revolutionärer Partei und Klasse wie auch der Umwälzung der Gesellschaft nach der Revolution verbunden ist. In diesem Sinne – nicht in der karikaturhaften Vorstellung einer „Wiederholung“ und mechanischen Übertragung – bleibt die Russische Revolution bis heute „modellhaft“.

Die Oktoberrevolution und „der Westen“

Einen guten Einstieg in die Problematik liefert die Lektüre des Artikels „Der Marxismus und das Ende des Kapitalismus“ von Conrad Schuhler (Leiter des isw, des Instituts für sozial- ökologische Wirtschaftsforschung, München e.V., 15. August 2013). Hierbei ist nicht so sehr der Teil des Artikels gemeint, der die Frage behandelt, ob die sozialistische Revolution in einem rückständigen Land wie dem zaristischen Russland nicht überhaupt der marxistischen Revolutionstheorie widerspricht – diese Frage wird auch in diesem Band an anderer Stelle behandelt. Hier ist besonders der Teil des Artikels gemeint, den Schuhler betitelt mit: „Warum die Arbeiterklasse im Westen dem Beispiel der KPdSU nicht folgen konnte – die Antworten von Antonio Gramsci“. Schuhler bezeichnet die angebliche Antwort Gramscis auf die Frage, warum die Revolutionen im Gefolge der Oktoberrevolution im Westen „scheitern mussten“ (!?), als „existenziellen Vorrat der heutigen Transformationstheorie“:

„Gramscis Grundthese besteht darin, dass in Russland die gewaltsame Übernahme der Staatsmacht in einer tiefen ökonomischen und politischen Krise hinreichen konnte, um die Gesellschaft in neue Bahnen zu lenken, dies jedoch niemals in den entwickelten kapitalistischen Ländern möglich wäre. In Russland war ,der Staat alles, die Zivilgesellschaft allerdings erst in ihren Anfängen und gallertenhaft‘. Ein ähnlicher Revolutionsversuch im Westen, wo ,zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis bestand und sich das System als robust erwies, konnte nur zu Niederlagen führen’“. (1)

Hinter dem repressiven Staatsapparat erhebe sich in entwickelten kapitalistischen Ländern eine viel mächtigere Verteidigungslinie: Die bürgerliche Zivilgesellschaft präge Denken und Verhalten der Menschen in einer Weise, die eine kulturelle Hegemonie der herrschenden Klasse begründe. Diese Hegemomie garantiere gerade in Krisenzeiten die Herrschaftskonformität der Unterdrückten, die das System jeweils in neuen Formen sich wieder regenerieren lasse. Das System erweise sich als fähig, immer wieder neue Formen zu finden, in denen der Protest der Ausgebeuteten scheinbar integriert und befriedet werde.

„Diese Sicht des Klassenkampfes, dass auf der Seite des Kapitals nicht nur ein staatlicher Zwangsapparat steht, sondern eine ideologisch dominante Kultur, die sich ständig über ihre Hegemonieapparate Schulen, Kirchen, Medien, Verbände des Denkens und Fühlens der Gesellschaftsmitglieder bemächtigt, führt zu einem Paradigmenwechsel in der marxistischen Revolutionsstrategie, zum Übergang „vom Bewegungs- zum Stellungskrieg“ (2). Daher schlussfolgert Schuhler, dass der alte Gegensatz von „Reform und Revolution“ überwunden werde müsse – eben in der „Systemtransformation“.

Warum also soll das Modell Oktoberrevolution auf „entwickelte kapitalistische Länder“ ab einer gewissen Stufe der Entwicklung der „Zivilgesellschaft“ nicht mehr anwendbar gewesen sein? Was ist überhaupt das Modell der bolschewistischen Revolution? Welche Grundlagen im Marxismus hat es, und was hätte besagte Transformationsstrategie dagegen noch mit marxistischer Systemüberwindung zu tun? Oder ist es nicht einfach ein Neuaufguss revisionistischer Theorie von Bernstein bis Kautsky?

Wir beginnen mit der Frage nach dem bolschewistischen Revolutionskonzept, wie es klassisch in „Staat und Revolution“ von Lenin dargestellt wurde.

Grundprinzipien der Lenin’schen Konzeption der Oktoberrevolution

Lenin schrieb „Staat und Revolution“ in der kurzen Atempause nach den Juli-Tagen 1917 in Vorbereitung auf den folgenden Oktobersturm. Es handelte sich um eine letzte Selbstvergewisserung in Bezug auf die bisherigen Lehren der Staats- und Revolutionstheorie, die Erfahrungen der Revolutionen von 1848/49 und 1871 und die Schlussfolgerungen daraus für den Charakter des kommenden Umsturzes. Herausgekommen ist eine klare Wegbeschreibung Richtung Winterpalais.

Lenin geht aus von Engels‘ (3) Ableitung des Staates als eines notwendigen Resultats der Entwicklung von Klassengesellschaften: als Struktur, die scheinbar zwischen den unversöhnlichen Klassenwidersprüchen vermittelt, tatsächlich aber der Aufrechterhaltung der Ausbeutungsbedingungen für die herrschende Klasse dient; zweitens als Struktur, die sich von Klassenherrschaft zu Klassenherrschaft immer mehr verfeinert und von der Gesellschaft, die sie hervorgebracht hat, entfremdet. Lenin folgert: „Wenn der Staat das Produkt der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze ist, wenn er eine über der Gesellschaft stehende und ,sich ihr mehr und mehr entfremdende‘ Macht ist, so ist es klar, dass die Befreiung der unterdrückten Klasse unmöglich ist, nicht nur ohne gewaltsame Revolution, sondern auch ohne Vernichtung des von der herrschenden Klasse geschaffenen Apparats der Staatsgewalt, in dem sich diese ‚Entfremdung‘ verkörpert“ (4).

Das erste Prinzip der marxistischen Revolutionstheorie ist also, dass sich die proletarische Revolution von allen vorangegangenen Revolutionen, die wieder nur andere Klassenherrschaften begründet haben, grundlegend dadurch unterscheiden muss, dass sie die bestehenden Unterdrückungsapparate in ihrer Essenz nicht übernehmen kann, sondern sie durch etwas ersetzen muss, das letztlich mit dem Verschwinden der Klassenherrschaft an sich auch jede Form von staatlicher Repression und administrativer Herrschaft zur Auflösung bringt.

Dabei ist auch bei Lenin klar, dass sich der Staat nur im Kern als „Organisation bewaffneter Menschen und ihrer sachlichen Anhängsel (Gefängnisse, Zwangsanstalten aller Art…)“ darstellt, darüber hinaus aber auch einen immer weiteren Kreis an Mechanismen zur Kontrolle und Steuerung der Unterdrückten umfasst – auch natürlich auf ideologischem Gebiet.

Die ArbeiterInnenklasse ist eben deswegen zu einer Revolution in der Lage, die den Weg zur klassenlosen, sozialistischen Gesellschaft öffnet, da in ihr (bzw. der Universalität der Lohnarbeit) die vergesellschaftende Tendenz der kapitalistischen Produktionsweise genauso verkörpert ist wie die auf die Spitze getriebene individuelle Ausbeutung von Mehrarbeit. Diese gleichzeitige Zuspitzung von Ausbeutung und Entfremdung einerseits sowie dem Fehlen von Privateigentum an den Produktionsmitteln andererseits in der Klassenlage des Proletariats befähigt dieses erst objektiv, durch die Vergesellschaftung der im Kapitalismus entwickelten Produktionsmittel die Grundlage aller Klassenspaltung (die Aneignung des Mehrprodukts durch eine herrschende Klasse) aufzuheben. Wie Engels im „Anti-Dühring“ festhält, bedeutet (was die Frage des Staates betrifft) damit schon der erste Akt der proletarischen Revolution einen qualitativen Sprung: „Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum. Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf, und damit auch den Staat als Staat“ (5).

Die Verstaatlichung, die zur tatsächlichen Vergesellschaftung durch ein sich selbst organisierendes Proletariat führen soll, verleiht zugleich dem Staat eine völlig andere Qualität: „Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht ‚abgeschafft‘, er stirbt ab“ (6). Für Lenin ist klar, dass sich „Aufhebung“ und „Absterben“ hier unbedingt auf unterschiedliche Staatscharaktere beziehen müssen. Die proletarische Machtergreifung, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Durchsetzung proletarischer Selbstorganisation etc. kann sich nicht unter Beibehaltung des bestehenden bürgerlichen Staatsapparates vollziehen – die „Aufhebung“ kann somit nichts anderes als eine Zerschlagung seiner Repressionsorgane und seiner Formen der Regierung über Personen sein. Das, was an die Stelle dieses alten Staatsapparates tritt, kann nur eine besondere, neue Form von Staat sein – ein Staat, der sein eigenes „Absterben“ eingebaut hat und betreibt, der sich mehr und mehr überflüssig macht.

Das zweite Prinzip der marxistischen Revolutionstheorie ist daher, dass zwar die proletarische Revolution zur Durchsetzung der Vergesellschaftung der Produktionsmittel in einer ersten Etappe weiterhin eines Staatsapparates bedarf, dieser aber in einem Bruch mit den bestehenden Unterdrückungsapparaten der Klassengesellschaften entstehen muss, und zwar durch ihre Zerschlagung bei gleichzeitiger Schaffung eines proletarischen Halbstaates, der auf sein Absterben hin ausgerichtet ist.

Marx bemerkte in diesem Sinn besonders aus der Erfahrung der Pariser Kommune von 1871: „Namentlich …hat die Kommune den Beweis geliefert, dass die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann“ ,und weiter, dass bei einem nächsten Versuch „nicht mehr wie bisher die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andere zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen, …die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution“ sei (7). Diese Erkenntnis sprach er bereits 1852 im Gefolge der Revolution von 1848 aus („Der 18. Brumaire des Louis Napoleon Bonaparte“), sie wurde aber durch die Pariser Kommune bestätigt und ergänzt „durch die endlich entdeckte Form“ des Staates, mittels derer das Proletariat seine Diktatur ausüben und zum Sozialismus vorwärtsschreiten könne.

Kern des neuen proletarischen Halbstaates ist damit wie bei jedem Staat, nach der Zerschlagung der stehenden Heere und der anderen bürgerlichen Repressionsorgane, die Frage der eigenen Bewaffnung. D. h., sowohl vor der Revolution als auch danach ist das bewaffnete Proletariat die Grundbedingung für die gesellschaftlich Umgestaltung, zur Verteidigung der neuen Eigentumsverhältnisse und Abwehr der Versuche der Restauration. Umgekehrt bemerkte Engels in einem Vorwort zum „Bürgerkrieg in Frankreich“, dass in jeder modernen Revolution die Hauptsorge der Bourgeoisie die Entwaffnung der ArbeiterInnenklasse sei. Lenin bemerkt dazu: „Diese Bilanz der Erfahrungen der bürgerlichen Revolutionen ist ebenso kurz wie bedeutungsvoll. Das Wesen der Sache – unter anderem auch in der Frage des Staates (ob die unterdrückte Klasse Waffen besitzt) – ist hier treffend erfasst“ (8). In diesem Zusammenhang erwähnt Lenin, dass die Menschewiki seit ihrem Regierungseintritt die Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopls und die Entwaffnung der Petrograder ArbeiterInnen zu ihrer politischen Hauptaufgabe erklärt hatten – ein klarer Beweis, wie Sozialdemokraten zu Hauptfunktionären der Konterrevolution werden.

Das dritte Prinzip ist daher, dass es keine proletarische Revolution ohne Zerschlagung der bestehenden bewaffneten Organe des bürgerlichen Staates und ohne eigene, vom Proletariat kontrollierte bewaffnete Organe geben kann, dass daher der revolutionäre Staat im Kern das bewaffnete Proletariat ist, das seine Bewaffnung zur Unterdrückung der bisher unterdrückerischen Klassen benutzt. Dies ist es, was die Klassiker „die Diktatur des Proletariats“ nennen – eine letzte Form der Klassenherrschaft, die notwendig ist bis zum endgültigen Absterben des Staates.

Was ist nun aber mit den administrativen und ökonomischen Funktionen des Staates? Gemeinsam mit Marx und Engels sah Lenin hier die Erfahrung der Kommune von Paris 1871 als die entscheidende geschichtliche Erfahrung des Proletariats in der Staatsfrage. Die aus allgemeinem Wahlrecht in Stadtteilen, Arbeitsstätten und bewaffneten Organen hervorgehenden Kollektivorgane ermöglichten es den bisher Unterdrückten, über ihre unmittelbaren Probleme selbst zu entscheiden und sich selbst zu verwalten. Diejenigen, die mit Verwaltungs- und Vertretungsaufgaben betraut sind, sollen jederzeit abrufbar, den Beschlüssen der Räte verpflichtet sein und ein normales ArbeiterInnengehalt erhalten. Schließlich sollen alle bewaffneten Organe aufgelöst werden außer denen, die unmittelbar unter der Kontrolle dieser Räte stehen (was sowohl Militär- als auch was Polizeifunktionen betrifft). Die unmittelbare Verbindung zur vergesellschafteten Produktion selbst (auf der Grundlage der Verstaatlichung der Produktionsmittel) ermöglicht es den Räten, wie Marx es nannte, „arbeitende Körperschaften“ zu sein, also entsprechend den prioritären Bedürfnissen praktische Entscheidungen über Produktion und Verteilung zu treffen. Angesichts der Ausdehnung, Zentralisation und komplexen Verbindungen der ökonomischen Basis erfordert dies damit auch eine entsprechende Assoziation und Zentralisation des Rätesystems in einem Delegiertensystem, das eine gesamte Räterepublik umspannen muss.

Gleichgültig ob die Begriffe „Kommune“, „Räte“ oder „Sowjets“ verwendet werden, von Marx bis Lenin ist klar, dass es keine erfolgreiche proletarische Revolution geben kann, ohne dass sich ein demokratisch-zentralistisches Netz von Selbstverwaltungsorganen des Proletariats bildet, das zum Motor der Umgestaltung von staatlichen und ökonomischen Strukturen wird, die mit der Errichtung der Diktatur des Proletariats an die Stelle von kapitalistischer Ökonomie und Staat treten. Nur das demokratisch sich selbst organisierende Proletariat kann letztlich die Nachwirkungen der kapitalistischen Arbeitsteilung, des Wertgesetzes, der Land-Stadt-Teilung, der sozialen Unterdrückung, der staatlichen Autoritäten und Repressionen etc. überwinden.

Das vierte Prinzip ist also, dass das rätedemokratisch organisierte Proletariat mit der Verstaatlichung der zentralen Produktionsmittel einen auf Rätebasis aufbauenden Halbstaat errichtet, der immer mehr die Aufgaben der Verwaltung und Leitung vereinfacht und – von Machtstrukturen befreit -somit das Absterben von Staat und staatlicher Repression einleitet.

Schließlich kommen wir zur Frage des Verhältnisses zur bürgerlichen Demokratie oder auch einer möglichen Koexistenz von Rätedemokratie mit der „bürgerlichen Zivilgesellschaft“ – einer Fragestellung, die viel mit der Eingangsfrage zu tun hat, wie wir später sehen werden. Einerseits ist es klar, dass bürgerliche Demokratie die bequemste Form der Herrschaft des Kapitals ist, da sie scheinbar auf Einbeziehung und Konsens der Unterdrückten und Ausgebeuteten zu ihrer Unterdrückung beruht. Als vereinzelte Einzelne, scheinbar freie Konsumenten und Verkäufer ihrer Arbeitskraft, sind auch die ArbeiterInnen bei „freien Wahlen“ der ungeheuren Marktmacht des Kapitals ausgesetzt und spielen Mitbestimmung, indem sie Regierungen alle paar Jahre mitwählen. Letztlich sind sie nur Erfüllungsorgane ganz anderer Interessen im Hintergrund, nämlich der Kapitalmächte, die bleiben, während Ministerdarsteller kommen und gehen. Aber gerade in Zeiten der Revolution, in denen sich gegenüber den bürgerlichen Machtorganen bewaffnete Räte als Gegenmacht etablieren und eine Situation der „Doppelmacht“ entsteht, werden jedoch die Institutionen Parlamente, „freie Wahlen“ und Ministerien zu entscheidenen Waffen der Konterrevolution. Diese Institutionen dienen zur Legitimation der bürgerlichen Gegenmacht, aus der im entsprechenden Moment der Schlag gegen die proletarische Demokratie im Namen des Kampfes gegen die „rote Diktatur“ geführt wird.

Gerade in der deutschen Novemberrevolution von 1918/1919 wurde eine lange Debatte um die Frage eines „reinen Rätesystems“ oder einer Mischung von Rätesystem und parlamentarischem System geführt – mit bekanntem Ausgang.

In Zusammenhang mit der Frage der Zerschlagung des bestehenden bürgerlichen Staatsapparates ist hier besonders die Einlassung von Lenin in Bezug auf die Debatte zwischen Kautsky und der Linken 1912 in „Staat und Revolution“ interessant. Gegenüber Pannekoeks Forderung, dass die Revolution Eroberung der Staatsgewalt sowie Zerschlagung des bestehenden Apparates bedeute, betonte Kautsky, dass es utopisch sei, die bestehenden Verwaltungen, Ministerien etc. aufzulösen. Dies sei Sache „des Zukunftsstaates“. Es komme vielmehr darauf an, durch Massendruck „Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb der Staatsgewalt“ zu erreichen und dadurch schrittweise zur „Eroberung der Staatsgewalt durch Gewinnung der Mehrheit im Parlament und Erhebung des Parlaments zum Herrn der Regierung“ zu erreichen (9). Kautsky erweist sich hier – wie wir noch öfter bemerken werden – als Urahne von „Stellungskrieg“ und „Transformation“.

Das fünfte Prinzip besagt also, dass die proletarische Revolution nicht siegen kann, wenn nicht die Doppelmacht zwischen bewaffneten, in Räten organisiertem Proletariat und den bürgerlichen Institutionen, auch den sogenannten parlamentarisch-demokratischen, aufgelöst wird. Der entscheidende Akt der sozialistischen Revolution wird immer eine Form der bewaffneten Machtergreifung, der Auflösung der restlichen bürgerlichen Machtorgane und die Etablierung einer Form der Räterepublik sein.

Gramsci und die Räte in der Revolution

Unstreitig sind die Erwartungen der Bolschewiki und ihrer internationalen Verbündeten, dass die Oktoberrevolution nur der Auftakt der Weltrevolution sein werde, nicht in Erfüllung gegangen. Die Frage ist nun, ob das Scheitern der Anwendung der oben genannten Prinzipien „im Westen“ nun tatsächlich etwas mit grundlegend anderen Bedingungen dort, mit Mängeln in diesen Prinzipien oder mit anderen Gründen zu tun hat?

Gegen die Behauptung Schuhlers, Gramsci hätte im Hegemonie-Problem eine grundlegende Schwäche von Lenins Revolutionsprinzipien für Revolutionen in „entwickelten kapitalistischen Ländern“ entdeckt, lässt sich ein interessanter Zeuge anführen: Antonio Gramsci selbst! 1919 und 1920 inmitten der revolutionären ArbeiterInnenkämpfe im Italien des „biennio rosso“ (der „zwei roten Jahre“) hat Gramsci, als ein auf das Engste mit der Turiner Rätebewegung verbundener Kommunist ganz andere Ursachen für das Scheitern der Revolution in Italien benannt.

Wie in vielen anderen kriegführenden Ländern war die Russische Revolution 1917 auch in Italien Ermutigung für Streiks und Aktionen gegen den Krieg. Im August 1917 war Turin in der Hand bewaffneter streikender ArbeiterInnen. Die Erfahrung der brutalen militärischen Niederschlagung der August-Streiks durch die italienische Republik führte dazu, dass die ArbeiterInnen nach dem Waffenstillstand Ende 1918 neue Kampf- und Organisationsformen suchten, sodass in den italienischen Industriezentren Räte gebildet wurden. Die Entstehung von ArbeiterInnenräten während und nach dem Ersten Weltkrieg war ein vielschichtiges Phänomen: Einerseits hatte es simple ökonomische Funktionen in einer von Versorgungskrisen und Stockungen in der Produktion gekennzeichneten Situation. Dazu kamen Räte als Steigerungsform der Klassenauseinandersetzung auf der Grundlage von Streikversammlungen, übergreifenden Komitees und Verteidigungsmaßnahmen gegen staatliche bzw. unternehmerische Zwangsmaßnahmen. Darüber hinaus war die Bildung von Räten ein Ausdruck der Unzulänglichkeit oder Gespaltenheit der bestehenden ArbeiterInnenorganisationen: In den zugespitzten Auseinandersetzungen mit Staat und Kapital bemerkten die ArbeiterInnen „naturwüchsig“, dass sie über die sozialdemokratischen Apparate in Partei, Parlament und Gewerkschaften hinausgehen mussten, dass sie umfassendere Organe für die Vorbereitung, Diskussion und Durchführung ihrer Aktionen brauchten. Räte wurden so zu einem zentralen Instrument proletarischer Gegenöffentlichkeit wie auch zur ideologischen Klärung innerhalb der Klasse.

Antionio Gramsci beschreibt in einem rückblickenden Artikel vom August 1920, wie er mit einer kleinen Gruppe von vier anderen Intellektuellen im April 1919 den Entschluss fasste, mit der „L’Ordine Nuovo“ eine Zeitschrift herauszubringen, die Fragen der „proletarischen Kultur“ und der Entwicklung der Betriebsräte besprechen und kommentieren sollte. Der Kopf der Gruppe, Angelo Tasca (später einer der Führer der rechten Opposition in der PCI) sah die Räte als etwas, das sich letztlich der PSI- und der Gewerkschaftsführung unterordnen, und die Zeitschrift als ein Organ, das der Erziehung der Räte in Richtung Sozialdemokratie dienen sollte. In der Redaktionssitzung der siebten Nummer der Zeitschrift „putschte“ Gramsci zusammen mit Togliatti und Terracini (beide später die zentralen Führungsfiguren der Nachkriegs-PCI), um die „L’Ordine Nuovo“ zum Organ der Räte zu machen:

„… und es geschah, was wir vorausgesehen hatten: Togliatti, Terracini und ich wurden aufgefordert, in Unterrichtsgruppen und Fabrikversammlungen zu sprechen und zu diskutieren, wir wurden von den Betriebsräten eingeladen, im engen Kreis der Vertrauensleute zu diskutieren. Wir machten weiter; das Problem der Entwicklung des Betriebsrats wurde zum Zentralproblem, wurde zur Idee des „L’Ordine Nuovo“; es wurde zum Grundproblem der Arbeiterrevolution erhoben, es war das Problem der proletarischen ‚Freiheit‘. Der „L’Ordine Nuovo“ wurde für uns und alle, die uns folgten, zur ‚Zeitung der Fabrikräte‘; die Arbeiter liebten den „L’Ordine Nuovo“ … und warum liebten sie ihn? Weil sie in den Artikeln der Zeitung einen Teil ihrer selbst wiederfanden, weil sie spürten, dass die Artikel vom Geist ihrer eigenen Suche durchdrungen waren“ (10).

Dieses Zitat gibt gut wieder, wie sehr die Rätebewegung auch ein Formations- und Bildungsprozess war, in dem sich das revolutionäre Bewusstsein genauso wie der revolutionäre Aktionsplan erst gegen die alten Apparate und Vorstellungen herausbilden musste. Doch was war der Inhalt, mit dem der „L’Ordine Nuovo“ in diesen Bildungsprozess intervenierte?

„Wir sind überzeugt, dass nach den revolutionären Erfahrungen in Russland, Deutschland und Ungarn der sozialistische Staat sich nicht in den Institutionen des kapitalistischen Staates verkörpern kann, sondern… in einer grundlegend neuen Schöpfung. Die Institutionen des kapitalistischen Staates sind zum Zweck der freien Konkurrenz organisiert; es genügt nicht, das Personal auszutauschen, um ihm eine andere Richtung zu geben. Der sozialistische Staat ist noch nicht der Kommunismus… er ist vielmehr ein Übergangsstaat, der die Aufgabe hat, mit der Aufhebung des Privateigentums, der Klassen und der nationalen Wirtschaft, die freie Konkurrenz aufzuheben: diese Aufgabe kann die parlamentarische Demokratie nicht lösen. Die Formel ‚Eroberung des Staates‘ muss in dem Sinn verstanden werden: es muss ein Staatstypus geschaffen werden, der aus den Erfahrungen der Vergesellschaftung der proletarischen Klasse hervorgeht und den demokratisch-parlamentarischen Staat ersetzt“ (11). Dies geht also in die Richtung des oben dargestellten Konzepts der bolschewistischen Revolution – auch wenn es noch vage in Bezug auf die Frage der Machtergreifungsstrategie bleibt.

Um so ausführlicher geht Gramsci auf die Frage der Ausgestaltung der Räte ein: „Die Organisation der Fabrikräte beruht auf folgenden Prinzipien: in jeder Fabrik, in jeder Werkstatt wird eine Organisation auf Vertretungsbasis gebildet…, das die Macht des Proletariats verwirklicht, gegen die kapitalistische Ordnung oder die Kontrolle über die Produktion ausübt und die ganze Arbeitermasse für den revolutionären Kampf und für die Gründung des Arbeiterstaates erzieht. … Jeder Betrieb ist in Abteilungen gegliedert und jede Abteilung in Arbeitsgruppen: jede verrichtet einen bestimmten Teil der Arbeit; jede Gruppe wählt einen Arbeiter mit imperativem und begrenztem Mandat. Die Delegiertenversammlungen der ganzen Betriebe bilden einen Rat, der aus seiner Mitte ein Exekutivkomitee wählt. Die Versammlung der politischen Sekretäre der Exekutivkomitees bildet das Zentralkomitee der Räte“ (12).

Gramsci betont den verallgemeinerten, „öffentlichen Charakter“ der Räte gegenüber Arbeiterparteien oder Gewerkschaften, die auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhen – ArbeiterInnenräte organisieren die gesamte Klasse in ihren umittelbaren Arbeitsstellen. Von der kapitalistischen Ökonomie zu einem entfremdeten Teilglied eines riesenhaften, unüberschaubaren Apparates gemacht, kehrt die auf Räten basierte Kontrolle über die Produktion dieses Verhältnis um: „Indem sie diesen repräsentativen Apparat aufbaut, enteignet die Arbeiterklasse in Wirklichkeit die erste aller Maschinen, das wichtigste Produktionsinstrument: die Arbeiterklasse selbst nämlich, die zu sich selbst gefunden, das Bewusstsein ihrer organischen Einheit erlangt hat und sich geschlossen dem Kapitalismus widersetzt. Die Arbeiterklasse beweist damit, dass der Ausgangspunkt der industriellen Macht wieder die Fabrik sein muss, sie setzt vom Standpunkt des Arbeiters aus erneut die Fabrik als die Form, in der sich die Arbeiterklasse als determinierter, organischer Körper konstituiert, sie macht die Fabrik zur Zelle eines neuen Systems, des Rätesystems. Der Arbeiterstaat, der eine produktive Struktur hat, schafft bereits die Bedingungen für seine weitere Entwicklung, für seine Auflösung als Staat…“ (13).

Hier sind zentrale Fragestellungen der Theorie der Räte zusammengefasst: die bewusste Zusammenfassung der gesamten, bisher zerstückelten ArbeiterInnenschaft; die Neuformung des Produktionsprozesses, der Beziehungen der Produktions-, Verteilungs- und Komsumzentren auf der Basis eines repräsentativen, demokratischen Rätesystems; der Charakter des entstehenden neuen ArbeiterInnenstaates als produktiver Staat, der Staat als „arbeitende Körperschaft“.

Gleichzeitig betont Gramsci den enormen Fortschritt in der Organisation der Massenkämpfe, der durch die Festigung der Räte ermöglicht wird: „Die Tätigkeit der Fabrikräte und der Betriebsräte und ihre Aktionsfähigkeit trat während der Streiks noch mehr hervor; die Streiks verloren ihren impulsiven, zufälligen Charakter und wurden zum Ausdruck der bewussten Aktivität der revolutionären Massen. Die technische Organisation der Fabrikräte und der Betriebsräte und ihre Aktionsfähigkeit war derart perfekt, dass sie innerhalb von fünf Minuten sechstausend ArbeiterInnen, die über zweiundvierzig Abteilungen der Fiat-Werke verteilt sind, ihre Arbeit einstellen lassen konnten. Am 3. Dezember 1919 bewiesen die Fabrikräte greifbar ihre Fähigkeit, Massenbewegungen großen Stils zu leiten: auf Anordnung der sozialistischen Sektion, die den gesamten Mechanismus der Massenbewegung leitete, mobilisierten die Fabrikräte ohne jegliche Vorbereitung innerhalb einer Stunde hunderzwanzigtausend, nach Betrieben aufgeteilt. Eine Stunde später ergoß sich die proletarische Armee wie eine Lawine bis ins Stadtzentrum und fegte die ganze nationalistische und militaristische Kanaille von den Straßen und Plätzen“ (14).

Gramsci war auch klar, dass diese organisatorische Kampfstärke, die sich entwickelnde Doppelmacht, die Machtfrage stellte, die schnell zu beantworten war: „Niemals ist der revolutionäre Enthusiasmus im Proletariat Westeuropas glühender gewesen als heute. Aber es scheint uns, dass im Augenblick das klare Bewusstsein vom Ziel nicht von einem genauso klaren Bewusstsein der Mittel, wie das Ziel zu erreichen ist, begleitet wird. In den Massen hat die Überzeugung Fuß gefasst, dass der proletarische Staat sich im System der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte verkörpert. Jedoch ist noch keine taktische Konzeption entwickelt worden, die die Gründung eines solchen Staates objektiv sichert.. Die Macht des demokratischen Staates und der Kapitalisten ist noch sehr groß“ (15).

Gramsci und die Frage der revolutionären Partei

Sicherlich gibt es bei Gramsci auch in dieser Periode bestimmte, später von seinen EpigonInnen zum System ausgebaute Schwächen oder Unklarheiten: Es gibt eine Tendenz von einer sehr langen Periode der Räte-basierten Doppelmacht auszugehen, in der sich langsam überall in Stadt und Land die Keime des proletarischen Staates herausbilden: eines Doppelstaates, der von KommunistInnen geführt werden muss, die die erreichten Stellungen der ArbeiterInnenklasse gegen die Angriffe der parlamentarischen Irreführung, der pro-kapitalistischen SozialistInnen und GewerkschaftsführerInnen und der bewaffneten Bourgeoisie verteidigen müssen – bis schließlich das Proletariat für den entscheidenden Schlag bereit ist. Man kann beim Gramsci der „L’Ordine Nuovo“ eine Tendenz sehen, die Geschwindigkeit, mit der der Kampf um die Diktatur des Proletariats zu führen ist, zu unterschätzen. Was man aber beim Gramsci dieser Periode klar finden kann, ist, welche Gefahr er für die Revolution in den reformistischen ArbeiterInneninstitutionen, der Führung der SozialistInnen (die PSI befand sich zwar im Beitrittsprozess zur Komintern, war aber in parlamentaristische Rechte, ZentristInnen und einen revolutionären Flügel tief gespalten) und im Gewerkschaftsapparat sah:

„Den Kräften der Arbeiter und Bauern fehlt die Koordinierung und die revolutionäre Konzentration, weil die führenden Organe der Sozialistischen Partei gezeigt haben, dass sie die augenblickliche Phase der nationalen und internationalen Geschichte absolut nicht verstehen und die Mission nicht begreifen, die die Kampforgane des revolutionären Proletariats zu erfüllen haben. Die Sozialistische Partei folgt dem Lauf der Ereignisse als Zuschauerin, … sie gibt keine Losungen aus, die von den Massen aufgegriffen werden, eine allgemeine Richtung bezeichnen und die revolutionäre Aktion zusammenfassen könnten. … Auch nach ihrem Kongress in Bologna [Oktober 1919; endete mit der Niederlage des refomistischen Flügels und dem Beschluss zum Beitritt zur Komintern] ist die Sozialistische Partei eine rein parlamentarische Partei geblieben, die sich starr innerhalb der engen Grenzen der bürgerlichen Demokratie bewegt, die sich nur um die oberflächlichen politischen Bekundungen der Regierungskaste kümmert“ (16).

Trotz des vorgeblichen Siegs des linken Parteiflügels dominierte das Gewicht des parlamentaristischen und gewerkschaftlichen Apparats die Politik der PSI in der Praxis weiter: „Die Polemik mit den Reformisten und Opportunisten wurde nicht einmal aufgegriffen; weder die Parteiführung noch der ,Avanti‘ setzten der unaufhörlichen Propaganda, die die Reformisten und Opportunisten im Parlament und in den gewerkschaftlichen Organisationen betrieben, eine eigene revolutionäre Konzeption entgegen“ (17).

Gramsci analysierte mehrmals in „L’Ordine Nuovo“, dass sich der Reformismus in der ArbeiterInnenklasse sowohl auf gewerkschaftlichem Terrain (durch die Systemimmanenz des bloßen Kampfes um die Bedingungen des Verkaufs der Ware Arbeitskraft) als auch auf politischem Gebiet verfestigte, dadurch, dass die Auseinandersetzungen im Rahmen des bürgerlich-parlamentarischen Systems Bezugspunkte und materielle Basis des Parteiapparats wurden. Anders als die „kommunistische Fraktion“ unter Amadeo Bordiga (die „AbstentionistInnen“) lehnten die OrdinistInnen die Beteiligung am Parlament nicht ab. Nicht nur, da das Parlament als wichtige politische Bühne gerade auch in Krisenzeiten genutzt werden müsse, sondern auch, weil Parlamentsfraktion und Gewerkschaftsapparate nicht einfach dem rechten Flügel überlassen werden sollten. Bei aller Konsequenz und Radikalität der BordigistInnen, als Ergebnis gab das „Links-liegen-lassen“der reformistischen Bastionen den Apparaten in den entscheidenden Momenten 1920 die Macht zum Abwürgen der Revolution.

Sowohl im April als auch im September 1920 waren die Turiner Räte Ausgangspunkt mehrtägiger Massenstreiks, die das ganze Land paralysierten. Auch wenn es zunächst um klassische Forderungen wie den 8-Stundentag ging, war klar, dass derartige unbefristete Generalstreiks die Machtfrage stellten. Da die Gewerkschaftsführungen den Streik nicht unterstützten, wich auch die zentristische PSI-Führung um Serrati zurück und rief nicht zum landesweiten Generalstreik auf. Gramsci stellte im Protest dagegen ein 9-Punkte-Programm mit dem Kernpunkt „Alle Macht den Räten“ auf und erklärte der Parteiführung ausdrücklich, dass „entweder die Eroberung der politischen Macht durch das revolutionäre Proletariat folge oder eine furchtbare Reaktion durch die besitzende Klasse“ (womit er leider sehr Recht behalten sollte). Nachdem im September der Militäreinsatz gegen die Turiner Rätebewegung drohte, handelten PSI- und Gewerkschaftsführung. Aber statt die ArbeiterInnenklasse zu mobilisieren und zu bewaffnen, kungelten sie einen Kompromiss mit der Bourgeoisie aus. Angesichts der drohenden Niederlage waren Kapital und Regierung natürlich bereit, z. B. auf die Forderung des 8-Stundentages (vorübergehend) einzugehen. Doch die Macht, die praktisch auf der Straße gelegen hat, wurde so von der PSI-Führung für billige Reform-Münze verkauft.

Aus diesen historischen Zusammenhängen wird klar, dass, wenn Gramsci später von „Hegemonie“, „vorgeschobenen Bastionen“, „Befestigungen des bürgerlichen Systems“ jenseits des bloßen Staatsapparates spricht, er im Hinblick auf die eigene italienische Erfahrung nicht so sehr das weite Feld von zivilen Institutionen, Presse, Vereinen etc. vor Augen hatte, sondern vielmehr die reformistischen Apparate, die reformistische Ideologie, das rein gewerkschaftliche Bewusstsein etc., das sich auch in Italien als die entscheidende Bastion gegen die Machtergreifung des Proletariats erwies. Denn auch was die bürgerlichen Teile der „Zivilgesellschaft“ in dieser Periode betraf, war Gramsci 1920 sehr klar: „Als politische Kraft reduziert sich der Kapitalismus auf einen Interessenverband der Fabrikbesitzer; er verfügt nicht mehr über eine politische Partei, deren Ideologie auch die kleinbürgerlichen städtischen und ländlichen Schichten ergreift und somit das Weiterleben eines legalen Staates auf breiter Basis erlauben würde… Deshalb neigt die politische Kraft des Kapitalismus dazu, sich immer mehr mit der oberen Militärhierarchie, mit der Gardia Regia, mit den vielen nach dem Waffenstillstand umherschwirrenden Abenteurern zu identifizieren, die, sich untereinander befehdend, der Kornilow oder Bonaparte Italiens werden möchten“ (18).

Auch hier ist keine Rede davon, dass umfangreiche „Hegemonie-Institutionen“ und zivilgesellschaftliche Rückhalte die Kapitalherrschaft sicherten – dies waren vielmehr bewaffnete Teile des Staatsapparates zusammen mit den bewaffneten Horden der Faschisten. Wie Gramsci es richtig vorhergesagt hatte, folgten auf die verpasste Chance des „biennio rosso“ die zwei „schwarzen Jahre“ 1921/22, die mit der Machtergreifung der Faschisten endeten. Das Kapital wurde gerettet durch die Demoralisierung der Arbeiterklasse nach der vertanen revolutionären Chance und die Mobilisierung der kleinbürgerlich-faschistischen Reaktion mit massiver Finanzhilfe durch die Industriellen- und Agrarier-Vereinigungen.

Die Spaltung der PSI, die schließlich 1921 zur Gründung der PCI führte, kam letztlich zu spät. Unter Führung des ultralinken Flügels um Amadeo Bordiga war die PCI auch nicht in der Lage, die Wende von der revolutionären Offensive hin zur Verteidigung gegen die faschistische Gefahr zu vollziehen. Ausgerechnet Bordiga als PCI-Generalsekretär, die Verkörperung der Ablehnung der Einheitsfronttaktik, war natürlich nicht in der Lage, den jetzt notwendigen Schwenk hin zur Einheitsfront mit SozialistInnen, GewerkschafterInnen etc. gegen die faschistische Machtergreifung umzusetzen. Als Gramsci 1923 nach der Verhaftung Bordigas zum Generalsekretär der PCI gewählt wurde und von der Komintern mit dem Mandat zur Umsetzung der Einheitsfronttaktik ausgestattet wurde, fand er unter den Bedingungen der sich festigenden faschistischen Herrschaft keine erfolgreiche Gegenstrategie. Tatsächlich revidierte Gramsci die Einheitsfronttaktik nach rechts, in Richtung Volksfront. Besonders nach der Ermordung des sozialistischen Abgeordneten Matteotti im Juni 1924, die zu einem Auszug der „antifaschistischen“ DemokratInnen (einschließlich Liberaler und KatholikInnen) aus dem Parlament führte, sah Gramsci die Gelegenheit von einer „breiten Opposition“. Gramsci versuchte die folgende schwere innenpolitische Krise für die Bildung eines Gegenparlaments mit den bürgerlichen „AntifaschistInnen“ zu nutzen. Letztlich scheiterte diese Volksfront wie viele danach am unvermeidlichen Verrat der umworbenen bürgerlichen Kräfte, die sich letztlich vor einer Rückkehr der „roten Jahre“ mehr fürchteten als vor der Konsolidierung der Herrschaft Mussolinis. 1926 ließ Mussolini denn auch alle demokratischen Hüllen fallen – mit vielen seiner GenossInnen wurde auch Gramsci verhaftet und jahrelang unter schwerer Kerkerhaft gesundheitlich und psychisch zugrunde gerichtet. Er starb an den Folgen der Haftbedingungen im April 1937.

Gramscis „Gefängnishefte“ – ein Alternativkonzept?

In der Zeit nach 1929 war es Gramsci möglich, einige seiner Gedanken und politischen Reflexionen in einer ungeordneten Folge von Heften aufzuzeichnen. Aus Angst vor Entdeckung und Vernichtung wurden diese „Gefängnishefte“ in eine Fülle von philosophisch-historischen Studien verpackt, wobei offene Bezugnahme auf Marxismus und die kommunistische Bewegung vermieden wurde. So verwendete Gramsci statt „Marxismus“ die Phrase „Philosophie der Praxis“ u. v. m. Trotz vieler Unklarheiten des Zusammenhangs und der tatsächlichen Absichten Gramscis – der natürlich nichts davon mit anderen GenossInnen diskutieren konnte -, wurden diese „Gefängnishefte“ zu einem zentralen Anknüpfungspunkt für spätere „Neuinterpretationen des Marxismus“ – unter völliger Ausblendung des eigentlichen politischen Wirkens von Gramsci vor 1926.

Für den Kontext der Gefängnishefte ist auch noch ein anderer Faktor entscheidend: die Veränderung der politischen Verhältnisse in der Komintern. Spätestens seit 1923 war die Komintern vom Fraktionskampf und dem Aufstieg des bürokratischen Zentrums unter Stalins Führung geprägt. Einerseits führte dies zu einem wirren Zickzack in den taktisch-strategischen Direktiven der Komintern, andererseits führte die revisionistische Perspektive des „Aufbaus des Sozialismus in einem Land“ immer mehr zur Unterordnung der Kominterntaktik unter das Primat des außenpolitischen Nutzens für die Sowjetunion. Bordiga, der in einer kurzen Phase ohne faschistische Haft nochmal als der Vertreter der PCI am fünften Kominternkongress in Moskau 1924 auftrat, war wohl einer der letzten, der Stalin öffentlich und von Angesicht zu Angesicht als einen Verräter an der Sache der proletarischen Revolution bezeichnete. Gramsci rang sich im Namen des Zentralkomitees der PCI 1926 noch einen Brief ab, in dem er zwar auf Seiten der Mehrheit Position ergriff, jedoch zugleich gegen eine Spaltung und für die weitere Integration von Trotzki und den anderen linken Oppositionellen eintrat. Dieser Brief wurde allerdings durch Togliatti in Moskau „nicht zugestellt“ – was zu einem Zerwürfnis zwischen Gramsci und der späteren PCI-Führung unter Togliatti (der ihm als Generalsekretär folgte) führte.

Insbesondere war es wohl die Politik der „3. Periode“, der „Offensivstrategie“ gegen den Faschismus und die Gleichsetzung von Sozialdemokratie und Faschismus in der „Sozialfaschimus“-Theorie, die Gramsci nicht befürwortete. Insbesondere in Italien unter dem faschistischen Regime musste die stalinistische „Offensivstrategie“ zu einer Selbstmordoperation werden, die die mühsam aufgebaute illegale Struktur der Partei zerstörte. Der später immer wieder aus dem Zusammenhang gerissene Teil der Gefängishefte zu „Stellungs- und Bewegungskrieg“ kann nur in diesem Zusammenhang einer vorsichtigen und verklausulierten Stellungnahme zur aktuellen Kominternstrategie gelesen werden. Auch wenn Gramsci hier besonders Trotzki als den Vertreter des „Frontalangriffs“ kritisiert, ist wohl etwas ganz anderes gemeint – möglicherweise konnte Gramsci in der Haft auch gar nichts davon wissen, dass Trotzki zur selben Zeit einer der schärfsten Kritiker der Offensivstrategie und Verteidiger der Arbeitereinheitsfront auch mit den Sozialdemokraten gegen den Faschismus war.

Es wird hierbei auch unterschlagen, dass Gramsci im besagten Abschnitt „Politischer Kampf und militärischer Krieg“ in seine Analogiebetrachtung nicht nur Stellungs- und Bewegungskrieg, sondern auch den Untergrund/Partisanenkrieg mit einbezieht – eine Kriegsform, die insbesondere bei schwer militärisch überlegenem Gegner es ermöglicht, ihm sporadisch an wichtigen Stellen Niederlagen beizufügen, bis ein Übergang zu einer der anderen Kriegsformen möglich wird. Gramscis Hinweis, dass ein verfrühtes Losschlagen dem Gegener im Untergrundkrieg die Positionen und Stärke der eigenen Kräfte verrät, ist eine klare Anspielung auf Auswirkungen der Offensivstrategie auf die illegalisierte PCI im faschistischen Italien.

Bewegungs- und Stellungskrieg bei Gramsci

Tatsächlich findet sich in diesem Abschnitt aber auch der Ansatz einer Revision der bolschewistischen Revolutionstheorie. Das erklärt sich bei Gramsci vornehmlich aus der Demoralisierung durch die Niederlage gegenüber dem Faschismus, der sich insgesamt nach rechts bewegenden Situation in ganz Europa und der deprimierenden Entwicklung der Komintern. Kernpunkt ist die Analogie des Wandels vom Bewegungskrieg zur Dominanz des Stellungskrieges in der Kriegstaktik mit dem angeblich historischen Abschied von der Epoche der „permantenten Revolution“ hin zur Epoche des politischen Stellungskrieges. Im Ersten Weltkrieg bestanden die Frontstellungen nicht einfach aus Schützengräben – die Front war vielmehr ein kilometerweites System von vorgezogenen und nachgelagerten Grabensystemen, mit komplexen Verbindungssystemen, durchzogen von Befestigunganlagen und eigens gesicherten, weit zurückliegenden Artilleriestellungen. Die Eroberung vorgelagerter Schützengräben brachte kaum Geländegewinne und wurde durch Verschiebungen im Gräbensystem schnell wieder aufgefangen. Auf diese Weise bewegte sich auch bei großen Materialschlachten die Front oft nur wenige Meter hin und her.

In Analogie dazu bezeichnet Gramsci „in entwickelten kapitalistischen Staaten“ die bewaffneten Staatsorgane als nur noch „vorgeschobene Stellungen“. Dahinter stehe eine „bürgerliche Gesellschaft“, die rasch neue Verteidigungslinien aufbauen könne und die ersten Anfangserfolge des Proletariats als nutzlose Geländegewinne entlarve: „die Überbauten der bürgerlichen Gesellschaft sind wie das Grabensystem des modernen Krieges. Wie es hier vorkam, dass ein erbitterter Artillerieangriff das ganze gegnerische Verteidigungssystem zerstört zu haben schien, in Wirklichkeit aber nur dessen äußere Oberfläche zertrümmert hatte und im Augenblick des Angriffs und des Vordringens die Angreifer sich einer noch wirksameren Verteidigungslinie gegenübersahen, so geschieht es in der Politik während großer ökonomischer Krisen; durch die Auswirkungen der Krise werden weder die angreifenden Truppen blitzschnell in Raum und Zeit organisiert, und noch weniger machen sie sich einen aggressiven Geist zu eigen; umgekehrt werden die Angegriffenen nicht demoralisiert, noch verlassen sie die Verteidigungslinie, selbst wenn diese völlig zertrümmert ist, noch verlieren sie das Vertrauen in die eigene Kraft und in die eigene Zukunft“ (19). Gramsci fährt fort, dass das letzte Gegenbeispiel eines möglichen politischen Bewegungkrieges die Oktoberrevolution von 1917 war.

Zunächst fällt einmal auf, wie schwach schon die Analogie mit der Militärstrategie selbst ist. Gramsci erwähnt den italienischen General Cadorna als Beispiel einer verfehlten Frontalangriffsstrategie während der „Dominanz des Stellungskrieges“ (Warnung vor dem „politischen Cadornismus“). Tatsächlich war Cadorna ein Opfer der Fixierung auf den Stellungskrieg. In 11 blutigen Isonzoschlachten hatte er mehrere Armeen in sinnlosen Materialschlachten, konzentriert auf wenige Abschnitte dem Kriegsziel Triest gegenüber, im Stellungskrieg verbluten lassen. Nachdem die deutschen und österreichischen Gegner nach Ende des Kriegs im Osten zum Jahresende 1917 mehrere Reservearmeen zur Verfügung hatten, konzentrierten sie diese im Abschnitt zwischen Dolomiten- und Isonzo-Front. Der folgende Durchbruch im Karstgebirge führte zur Umfassung der gesamten befestigten italienischen Front, verwandelte den Stellungskrieg innerhalb eines Tages in einen rasenden Bewegungskrieg und führte zum Untergang der Isonzo-Armeen Cadornas. Die Analogie legt hier eher die taktische Weisheit Lenins nahe, dass die stärkste Kette nur so stark wie ihr schwächstes Glied sein kann. Noch so gut ausgeklügelte Verteidigungssysteme brechen zusammen, sobald der Gegner eben dieses schwächste Glied zum Einsturz gebracht hat. Übrigens bezeichnete Erwin Rommel, der am Durchbruch im Karst als Kompanieoffizier teilgenommen hatte, diese Erfahrung als Grunderkenntnis für die taktische Neuorientierung, wie sie im Zweiten Weltkrieg angewendet wurde – anders als Gramsci annahm, war der Stellungskrieg nicht das letzte Wort des „modernen Krieges“, vielmehr dominierte in den motorisierten und luftwaffenunterstützten Armeen des Zweiten Weltkrieges wiederum der Bewegungkrieg. Während Gramsci annahm, dass in Kriegen mit modernen industrialisierten Tötungsmaschinerien und Massenarmeen der Stellungskrieg die vorherrschende Erscheinung sei, führten Motorisierung und Luftkrieg dazu, dass sich umgekehrt dieser als taktische Ausnahme und zeitweise Atempause im Bewegungkrieg ergab.

Gramsci und der Begriff der Hegemonie

Genauso, wie die von der Entwicklung der Produktivkräfte bedingten Veränderungen in der Kriegsführung keineswegs den Stellungskrieg zur bestimmenden Form des modernen Krieges machen, ist zu hinterfragen, ob Gramscis Ausführungen zu den „Verteidigungsstellungen in entwickelten bürgerlichen Gesellschaften“ eine materielle Grundlage haben. Zentral verwendet Gramsci hierzu bekanntlich den Begriff der „Hegemonie“. Darunter versteht Gramsci in Anlehnung an Marx‘ Ideologiebegriff die Fähigkeit einer Klasse, ihre partikularen Interessen zurücktreten zu lassen hinter eine vorgebliche Vertretung gesellschaftlicher Gesamtinteressen. Hegemonie besteht vornehmlich in der Anerkennung der subalternen Klassen für den behaupteten Anspruch der herrschenden Klasse, die wesentlichen gesamtgesellschaftlichen Probleme und Fragen lösen zu können. Gramsci bezeichnet diesen Übergang von den Partikularinteressen zum gesamtgesellschaftlichen Anspruch als den Übergang zum Politischen: „[Es] bezeichnet den glatten Übergang von der Basis zur Sphäre des komplexen Überbaus. In dieser Phase werden die aufkommenden Ideologien ‚Partei‘, sie konfrontieren einander und bekämpfen sich, bis eine einzige Partei oder eine Parteienkombination die Vorherrschaft auf dem gesamten gesellschaftlichen Gebiet anstrebt. Diese Partei bestimmt außer der Einzigartigkeit der ökonomischen und politischen Ziele auch die geistige und moralische Einheit, indem sie alle Fragen, um die der Kampf entbrannt ist, nicht auf kooperativer, sondern auf ‚universaler‘ Ebene stellt und begründet dergestalt die Hegemonie einer fundamentalen gesellschaftlichen Klasse über andere untergeordnete Gruppen“ (20).

Hegemonie ist also einerseits durch ökonomische Klasseninteressen mit der gesellschaftlichen Basis verbunden, erhebt sich aber andererseits als universalistischer Anspruch anscheinend über den Klassenwiderspruch, entwickelt ein organisiertes, parteimäßiges System von scheinbar objektiven gesellschaftlichen Mechanismen für „gerechten Ausgleich“ und „Regieren im Sinne der Allgemeinheit“. Insofern bedeutet Gramscis Programm der Entwicklung von „Gegenhegemonie“ nichts anderes, als dass die proletarische Klasse und ihre Partei diese allgemeingesellschaftliche Problemlösungskompetenz der bürgerlichen Institutionen und Parteien erschüttern und das Proletariat sich selbst als die Klasse für die Lösung der zentralen gesellschaftlichen Fragen mehr und mehr durchsetzt.

Auch wenn die positive Darstellung der herrschenden Ideologie als befestigter Glaube der Subalternen an die Lösungskompetenz der Herrschenden für alle gesellschaftlichen Probleme und die so befestigte Einreihung aller in die „Einheit der Gesellschaft oder Nation“ eine Hilfe in der Analyse bestimmter historischer Situationen sein kann, ist wichtig zu sehen, was diese „Ideologiekritik“ nicht enthält: Die positive Darstellung als „Hegemonie“ lehnt sich zwar an Marx‘ Ideologiekritik an, verwendet aber nicht die Charakterisierung als „falsches Bewusstsein“, wie dies Marx in der „Deutschen Ideologie“ entwickelt hat. Was immer der Grund bei Gramsci gewesen sein mag (wie gesagt verwendete er in den „Gefängnisheften“ eine Art Code-Begrifflichkeit) – in der neo-marxistischen und post-modernen Rezeption wurde dieser Verzicht auf die Bezugnahme von „Wahrheit“ und „Falschheit“ geradezu Programm. Denn Marx‘ Begrifflichkeit impliziert natürlich, dass es einen dem verkehrten bürgerlichen Bewusstsein gegenüberstehenden, das Ganze der bürgerlichen Gesellschaft begreifenden und umstürzenden proletarischen Klassenstandpunkt gibt. Im „Hegemonie“-Begriff werden die grundlegende Widersprüchlichkeit des bürgerlichen Bewusstseins, seine Unfähigkeit, das Ganze der Gesellschaft zu erfassen, und die Aussichtslosigkeit seiner eigenen humanitär-freiheitlichen Ansprüche nicht deutlich – eine Widersprüchlichkeit, die sich von der wissenschaftlich-ideologischen Ebene bis auf die Ebene der Gesetze und Institutionen durchziehen muss. Damit kann es natürlich auch keine durchgreifende und in jedem Fall krisenfeste „Hegemonie“ geben, sondern nur zeitweise scheinbare Ruhigstellung und Vermittlung der Widersprüche, nur um sie in einer nächsten Entwicklungsphase wieder umso heftiger aufbrechen zu lassen.

Natürlich betont auch Gramsci die Bedeutung von „Hegemonie-Krisen“. Krisen im Kapitalismus, politische Führungskrisen (aufgrund verlorener Kriege oder unerwarteten sozialen Aufruhrs, Aufkommens spontaner Bewegungen) können eine „Autoritätskrise“ bis hin zu revolutionären Situationen ergeben (21). Die modernen bürgerlichen Staaten hätten jedoch, so Gramsci, die Fähigkeit entwickelt, in solchen Krisen rasch die politischen Strukturen und Führungseliten zu wechseln, neue Hegemonie-Insitutionen zu schaffen, in denen die „Revolutionäre“ oder Kritiker als integraler Bestandteil mit eingebaut werden (dies nennt Gramsci „passive Revolutionen“). Da diese Fähigkeit zur Integration für ihn ein wesentliches Moment der Hegemonie darstellt, bringt Gramsci die moderne bürgerliche Herrschaft auf die Kurzformel „Diktatur plus Hegemonie“ (22).

Sicherlich hat das bürgerliche System eine gewaltige Flexibilität in seiner Integrationsfähigkeit für oppositionelle Bewegungen und soziale Proteste entwickelt, ebenso wie es immer wieder gelingt, dass große Teile der Unterdrückten, von neuen bürgerlichen Scheinlösungen getäuscht, die Herrschaft des Kapitals in veränderter Form verteidigen. Trotzdem zeigte ja auch Gramscis eigene Erfahrung im Italien der „roten Jahre“, wie weit eine von der ArbeiterInnenklasse vorangetragene Hegemoniekrise das Problem der proletarischen Revolution auf die Tagesordnung setzen kann und sich die Rätebewegung zu großen Teilen nicht ins bürgerliche Sysem integrieren ließ. Die Verteidigungsstellungen der Bourgeoisie waren zunächst vor allem die alten Arbeiterorganisationen, der rechte Flügel der sozialistischen Partei und die Führung der Gewerkschaften. Natürlich zeigt dies an, wie zentral gerade der Reformismus zu einem integralen Bestandteil und Stablisierungsfaktor nicht nur der bürgerlichen „Hegemonie“, sondern auch der bürgerlichen Diktatur geworden ist. Die Integration der tatsächlichen revolutionären ArbeiterInnenbewegung war dem Kapital offenbar weder möglich, noch war es willens dazu – vielmehr ging es nach dem Verpassen des Moments der Revolution seinerseits zum Frontalangriff über, indem es bürgerliche und kleinbürgerliche Massen um die neuformierte faschistische Form der „Hegemonie der bürgerlichen Klasse“ sammelte. Offensichtlich taugt für diese rasche Aufeinanderfolge von revolutionärem Aufschwung und konterrevolutionärem Gegenschlag weder das Hegemonie/Integrations-Konzept noch dasjenige von der Dominanz des Stellungskrieges.

Bilanz

Es fragt sich auch, was die Konsequenz eines jahrelangen „politischen Stellungkrieges“ für die den „proletarischen Hegemonieanspruch“ verkörpernde kommunistische Partei und die Räte bedeuten soll. Gramsci betont ja mehrmals, dass der Stellungskrieg und seine zermürbende Wirkung eine streng disziplinierte und zentralisierte Organisation mit eisernen Disziplinierungs- und Kaderisierungsmaßnahmen gegenüber der eigenen „Front“ erfordere. Gramsci selbst mag sich hierbei eine konsequent kommunistische Partei, die in diesem oder jenem Gebiet Teilerfolge erringt, aber vornehmlich ihre Größe kontinuierlich steigert, gedacht haben, die eine Art Gegengesellschaft in Teilbereichen errichtet, um irgendwann ihre Hegemonie über die Gesamtgesellschaft herstellen zu können. Als die PCI im Nachkriegsitalien Gramscis Gefängnishefte veröffentlichte, war die Interpretation dagegen ganz klar: im Rahmen eines bürgerlichen Italiens mehr und mehr Positionen in Regionalregierungen zu erobern, bis hin zu Regierungsbeteiligun-gen mit den bürgerlichen Parteien, um so die bürgerliche Gesellschaft graduell in eine sozialistische zu transformieren. Dieser „Gradualismus“ wurde geradezu direkt mithilfe Gramscis führenden Theoretikern der PCI gerechtfertigt (insbesondere von Luciano Gruppi, dem „Chefideologen“ des „Eurokommunismus“). Es ist schon ein Hohn, dass Gramsci, der vor den antirevolutionären Wirkungen einer ArbeiterInnenbürokratie im Prozess der revolutionären Krise gewarnt hatte, letztlich zur Rechtfertigung einer bürokratischen Integration des italienischen Stalinismus in das bürgerliche System dienen sollte. Andererseits ist bereits sein Konzept des „politischen Stellungskrieges“ selbst fragwürdig – denn wer führt hier die „proletarische Stellung“ und was soll diese im politischen Sinn überhaupt darstellen? Die Schlussfolgerung, dass es sich bei der Stellung um einen stalinistischen Parteiapparat mit vielfältigen Vorfeld- und Frontorganisationen handeln könnte und bei den „Erfolgen im Stellungskrieg“ um Institutionen und Posten im bürgerlichen System, liegt eben einfach zu nahe, als dass man Gramsci davon freisprechen kann.

Bleibt letztlich die Frage, ob Gramsci damit recht hat, dass die ökonomisch-politische Krise in entwickelten kapitalistischen Staaten nie so tief sein kann, dass etwas wie der Oktoberumsturz von 1917 noch einmal möglich wäre. Hiermit wird behauptet, dass es in entwickelteren kapitalistischen Staaten, als es Russland 1917 war, Systeme der bürgerlichen Herrschaft gäbe, die in ökonomisch-politischen Krisen weitreichendere Abfangmechanismen bereithalten, als es das Russland des Zarismus bzw. der Kerenski-Regierungen zur Verfügung hatten. Wie schon gezeigt, bleibt Gramscis Analyse in Bezug auf diese angeblichen Mechanismen mit seinem Hegemoniebegriff äußerst vage und unfruchtbar in Bezug auf reale revolutionäre Situationen, in denen sich der Konflikt zwischen Reform oder Revolution historisch offenbar gemacht hat.

Althusser und die neo-marxistische „Entmystifizierung“ der Oktoberrevolution

Eine tatsächliche, wenn auch noch revisionistischere Begründung für diese Stabilität des bürgerlichen Systems und die Einmaligkeit der Oktoberrevolution lieferten erst die „neo-marxistischen“ Nachfolger von Gramsci in den 1960er/70er Jahren. Eine herausragende Rolle dabei spielte – zumindest im methodischen Sinn – Luis Althusser.

Der Artikel „Widerspruch und Überdetermination“ aus der bekannten „Für Marx“-Anthologie kann als Ausgangspunkt für die methodische Wende herangezogen werden, die Althusser dem „Wissenschaftsbegriff“ im Rahmen des Marxismus gab. Kernpunkt dieser Wende ist die Ablehnung oder Neuinterpretation des Marx’schen Diktums, dass die Hegel’sche Dialektik als Schlüssel für gesellschaftliche und historische Analyse „umgestülpt“, „vom Kopf auf die Füße gestellt“ werden müsse. Althusser beharrt dagegen darauf, dass nicht nur der idealistische Inhalt problematisch sei, sondern dass auch die dialektische Methode selbst von idealistischem Zukunftsglauben und vereinfachter historischer Logik, die zu einem „Zielpunkt der Geschichte“ hinführen sollen, durchtränkt sei. Althussers Programm ist daher, die marxistische Gesellschaftsanalyse auf „wissenschaftliche“ Grundlage zu stellen, auf einer Dialektik von Strukturanalysen zu begründen. Ein Muster dafür entwickelt er im Begriff der „Überdetermination“, den er im besagten Artikel an einem Beispiel erläutert: der Oktoberrevolution 1917.

Er beginnt die Analyse mit der Fragestellung, warum die Oktoberrevolution in Russland („ausgerechnet Russland“) möglich war und warum sie dort und nur dort erfolgreich gewesen sei.

In Bezug auf die Möglichkeit der Oktoberrevolution gibt Althusser eine klassische Antwort (gegenüber einem „Theoretiker“ des isw-Flügels der DKP, Conrad Schuhler, der im anfangs zitierten Artikel einen Widerspruch zur Marx’schen Revolutionstheorie sieht, hat der Revisionist Althusser hier eine durchaus klare und korrekte Sicht): „Sie war in Russland aus einem Grund möglich, der weit über Russland hinausging – weil nämlich mit der Entfesselung des imperialistischen Krieges die Menschheit in eine objektiv revolutionäre Situation eingetreten war. Der Imperialismus hatte das ‚friedliche‘ Gesicht des alten Kapitalismus erschüttert. Die Konzentration der Industriemonopole und die Unterwerfung der Industriemonopole unter die Finanzmonopole hatte die Ausbeutung der Arbeiter und der Kolonien gesteigert. Die Konkurrenz der Monople machte den Krieg unvermeidlich. Aber dieser gleiche Krieg, der bis zu den Kolonialvölkern, aus denen man Truppen bezog, ungeheure Massen in seine endlosen Leiden hineinzog, warf sein ungeheures Fußvolk nicht nur in die Massaker, sondern auch in die Geschichte. Das Erlebnis des Krieges sollte in allen Ländern dem langen Protest eines ganzen Jahrhunderts gegen die kapitalistische Ausbeutung als Transportgehilfe und als Enthüllungsmittel dienen; schließlich auch als ein Punkt, an dem sich dieser Protest festmachen konnte, indem er eine ganz überwältigende Evidenz und damit auch wirksame Mittel des Handelns gewonnen hat“ (23).

Warum wurde aus dieser Möglichkeit nur in Russland nachhaltig ein sozialistischer Umsturz (die Versuche in Deutschland und Ungarn scheiterten ja in relativ kurzer Zeit)? Althusser geht aus von Lenins Erklärung, dass Russland das „schwächste Glied“ im Staatensystem des Imperialismus war. Diese Schwäche habe sich aus der „Anhäufung und Zuspitzung aller damals möglichen Widersprüche in einem einzigen Staat“ (24) ergeben. Dies betraf die Verschärfung der weiter bestehenden feudalen Ausbeutung, die zu einer Zuspitzung der ländlichen Revolten führen musste und so, anders als 1905, ArbeiterInnen und Ba(e)uerInnen in eine Front gegen den Zarismus bringen sollte; verschärfte Konflikte durch die rasche Industrialisierung, die zu Erfahrungen harter Klassenkämpfe in allen großen Städten und Industriezentren geführt hatte; scharfe nationale Konflikte durch den inneren und äußeren Kolonialismus im „Völkergefängnis“ des Zarismus; „ein gigantischer Widerspruch“ zwischen dem Grad der Entwicklung kapitalistischer Produktionsmethoden (z. B. Konzentration von ArbeiterInnenmassen wie die 40.000 in den Putilowwerken in Petersburg) und der mittelalterlichen Rückständigkeit auf dem Land; Zuspitzung der politischen Konflikte nicht nur mit der ArbeiterInnenklasse, sondern auch in den herrschenden Klassen selbst (insbesonder auch was die bürgerliche und kleinbürgerliche Opposition gegen den „Despotismus“ betraf). „Dazu traten in den Einzelheiten der Ereignisse noch andere Umstände mit ‚Ausnahmecharakter‘, die ohne diese ‚Überlagerung‘ der inneren und äußeren Widersprüche unverständlich geblieben wären“ (25): Althusser nennt hier den „fortgeschrittenen Charakter der russischen revolutionären Elite“, die sich z. B. vor allem im Exil bildete, „das ganze Erbe der politischen Erfahrung der Arbeiterklassen des westlichen Europas (und vor allem: den Marxismus)“ aufsog – nicht zuletzt mit den Bolschewiki eine Partei entwickelte, „die an Bewusstsein und Organisation alle westlichen ‚sozialistischen‘ Parteien bei weitem übertraf“; die Generalprobe von 1905, die unter anderem das wesentliche Organisationsmoment der Sowjets hervorbrachte; schließlich das Moment der Erschöpfung der alten Mächte im dritten Jahr des verheerenden Krieges, die es den Bolschewiki ermöglichte, ihre Bresche in die Geschichte zu schlagen (die Politik der Alliierten, die den Zaren loswerden, aber mit der „demokratischen Regierung“ den Krieg fortsetzen wollten, ebenso wie die zumindest indirekte Unterstützung des deutschen Generalstabs für die Rückkehr der exilierten Revolutionäre, um gerade dies zu untergraben…).

Daraus schlussfolgert Althusser: „Die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung des Kapitalismus mündete über den Krieg von 1914 in die Russische Revolution, weil Russland in der vor der Menschheit eröffneten revolutionären Periode das schwächste Glied in der Kette der imperialistischen Staaten war: weil es die größte Summe damals möglicher Widersprüche anhäufte; weil es zugleich die am meisten verspätete und die am meisten fortgeschrittene Nation war, ein ungeheurer Widerspruch, den ihre unter sich uneinigen herrschenden Klassen weder umgehen noch auch lösen konnten“ (26).

Dies konfrontiert Althusser nun mit der Revolutionserwartung der SozialdemokratInnen in Deutschland des 19. Jahrhunderts: „Sie glaubten offensichtlich, dass die Geschichte über die andere … Seite fortschreitet, die der größten ökonomischen Entwicklung, der größten Expansion, des auf seinen allerreinsten Aufriss reduzierten Widerspruchs (zwischen Kapital und Arbeit) – wobei sie aber vergaßen, dass sich dies alles im vorliegenden Fall in einem mit einem mächtigen Staatsapparat ausgestatteten Deutschland abspielte, das mit einer Bourgeoisie ausgestattet war, die schon seit geraumer Zeit ‚ihre‘ politische Revolution im Austausch für den polizeilichen, bürokratischen und militärischen Schutz erst Bismarcks, dann Wilhelms, ‚heruntergeschluckt‘ hatte, sowie für die ungeheuren Profite der kapitalistischen und kolonialen Ausbeutung, zudem ausstaffiert mit einem chauvinistischen und reaktionären Kleinbürgertum – wobei sie auch noch vergaßen, dass im vorliegenden Fall dieser so simple Aufriss des Widerspruchs ganz einfach abstrakt war: der wirkliche Widerspruch war so sehr mit diesen ‚Umständen‘ eins geworden, dass er nur durch sie hindurch und in ihnen überhaupt noch zu erkennen, zu identifizieren und zu handhaben war“ (27). Sicherlich ist diese Darstellung der deutschen Vorkriegs-Sozialdemokratie nicht gerecht, was viele ihrer führenden TheoretikerInnen betrifft – dies ist aber an dieser Stelle irrelevant.

Was sicher stimmt, ist, dass über die Frage der Bedingungen und des Charakters der proletarischen Revolution eine sehr unklare Vorstellung herrschte, wie sich speziell an der Staatsfrage zeigt (siehe den Abschnitt zu Kautsky im ersten Teil dieses Artikels). Sicher ist auch richtig, dass es eineTendenz zur mechanischen Ableitung des „Sieges der Revolution“ aus der Entwicklung des ökonomischen Klassenkampfes gab. Die Bemerkung Althussers, dass sich der ökonomische Klassenkampf in entwickelten kapitalistischen Ländern immer mehr mit Elementen der politischen Auseinandersetzungen verschränkt und Klassenkonflikte sich dort in „normalen Zeiten“ kaum in den rein ökonomischen Kämpfen widerspiegeln, ist sicher eine richtige Spitze gegen den Ökonomismus.

Bemerkenswert an dem Abschnitt ist zweierlei:

1) Althusser betont den „Ausnahmecharakter“ der Oktoberrevoluton anhand der genannten Anhäufung von Umständen und kontrastiert diese Umstände mit der ungünstigen Situation der deutschen Sozialisten in Bezug auf die Stärke von Staatsapparat und reaktionären politischen Kräften. Er führt aber dann nicht mehr aus, dass trotzdem nach dem November 1918 in Deutschland eine Situation entstehen konnte, die derjenigen in Russland 1917 an Schärfe in nichts nachstand, auch wenn im Vergleich zu Russland das Militär und der alte Staatsapparat noch weit intakter waren und die Hegemonie der sozialdemokratischen VerräterInnen weit weniger herausgefordert wurde.. In Deutschland entwickelte sich nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und seines Generalstabs eine der umfassendsten Rätebewegungen dieser von Althusser richtig beschriebenen revolutionären Menscheitsperiode. Die Erschütterung des Machtapparats war derart, dass das kapitalistische Sytem 1918/1919 nur durch die Sozialdemokratie selbst (d. h. ihren rechten Flügel) gerettet werden konnte. Diese Situation war außerdem nicht auf Deutschland beschränkt, sondern entwickelte sich auch in den Nachfolgestaaten der Habsburger Monarchie, in denen entweder Räterepubliken errichtet wurden (Ungarn, Slowakei) oder nur die konterrevolutionäre Politik der Sozialdemokratie die Herrschaft der Bourgeoisie retten konnte (Österreich). Auf Italien haben wir schon weiter oben verwiesen. Selbst in Ländern wie Britannien zeigten sich in der Shop Steward-Bewegung und in der politischen Entwicklung bis zum Generalstreik 1926 massenhaft Formen proletarischer Selbstorganisation. Hinzu kommen die Entwicklungen der Revolutionen in den vom Imperialismus beherrschten Ländern, die auch die Frage der permanenten Revolution auf die Tagesordung stellten (China).

Althusser unterstellt einen „Ausnahmecharakter“ der Russischen Revolution, der von der realen historischen Entwicklung nicht gestützt wird. Wie schon beim späten Gramsci wird die Rolle der ReformistInnen zu einem nebengeordneten „Umstand“, als sei der Verrat der Sozialdemokratie im Westen eine Art objektive Notwendigkeit, ein Element der bürgerlichen Herrschaft wie alle anderen gewesen. Wie bei Gramsci verschwindet auch die subjektive Schwäche der RevolutionärInnen im Westen, rechtzeitig nach dem Vorbild der Bolschewiki eine aktionsfähige Einheit gebildet zu haben, die auf der Grundlage von Herrschaftskrise, Rätebewegung und Doppelmacht ähnlich wie in Russland in die „Bresche der Geschichte“ hätte schlagen können. Unerwähnt bleibt auch, dass Lenins Bemerkung, dass mit Russland „das schwächste Glied im System der imperialistischen Staaten“ gerissen sei, ja auch der Umstand gemeint war, dass diese Revolution natürlich ungeheure Stoßkraft auf alle Klassenkämpfe im Westen hatte – damit ja auch tatsächlich eine Kette internationaler Revolutionen möglich geworden war.

2) Methodisch entwickelt Althusser in der Gegenüberstellung „Anhäufung der Widersprüche“, „abstrakter Glaube an den Widerspruch von Kapital und Arbeit“ allerdings eine prinzipielle Relativierung der Bedeutung des ökonomischen Grundwiderspruchs. Althusser sieht es als das „mystisch-unwissenschaftliche“ Erbe des Hegelianismus, von zentralen, wesentlichen Widersprüchen, die in einem hierarchischen Gefüge zusammenwirken und letztlich von der Bewegungsrichtung der zentralen Widersprüche bestimmt seien und auf deren „Aufhebung“ (auch ein angeblich unwissenschaftliches Konzept) zustreben. Am klarsten: Wenn in der Althusser’schen Analyse die Oktoberrevolution so sehr als „Ausnahme“ erscheint, dann fragt sich: als Ausnahme von was?

„Etwa in Bezug auf eine gewisse ganz abstrakte, aber doch bequeme und beruhigende Vorstellung eines ‚dialektischen‘, bereinigten, einfachen Schemas, das in seiner Einfachheit gewissermaßen die Erinnerung des Hegel’schen Modells bewahrte oder aber einfach dessen Gangart wieder aufnahm – und zwar den Glauben an die lösende ‚Kraft‘ des abstrakten Widerspruchs als solchen. Im vorliegenden Fall ging es um den ‚schönen‘ Widerspruch von KAPITAL und ARBEIT. Ich leugne gewiss nicht, dass die Einfachheit des ‚bereinigten‘ Schemas gewissen subjektiven Notwendigkeiten der Massenmobilisierung entsprechen konnte“ (28).

Vielmehr würde sich in allen konkreten politischen Analysen von Marx und Engels etwas über das dialektische Schema Hinausreichendes finden: „Es zeichnet sich in ihnen ab, dass der Widerspruch Kapital-Arbeit niemals einfach ist, sondern dass er immer durch die Formen und die konkreten historischen Umstände spezifiziert ist, unter denen er wirkt. Spezifiziert durch die Formen des Überbaus (der Staat, die herrschende Ideologie, die Religion, die organisierten politischen Bewegungen etc.); spezifiziert durch die äußere und innere historische Situation,… nationale Vergangenheit (vollzogene oder zurückgenommene bürgerliche Revolution, völlig, teilweise, oder gar nicht beseitigte feudale Ausbeutung, lokale Sitten, spezifische nationale Überlieferungen beziehungsweise ein ‚eigentümlicher Stil‘ der politischen Kämpfe oder Verhaltensweisen etc.) … des jeweils bestehenden globalen Zusammenhangs… Kann das überhaupt etwas anderes bedeuten, als dass der scheinbar einfache Widerspruch immer überdeterminiert ist?“ (29)

Dies bedeutet, dass jede gesellschaftliche Situation jeweils durch ein Geflecht von Strukturen, mit jeweils eigenen Widersprüchen/Konflikten/Bewegungsformen ausgezeichnet ist, die sich jeweils gegenseitig beeinflussen/determinieren. Insofern ist auch der Kapital/Arbeit-Widerspruch bei Althusser seinerseits nur über das Geflecht der anderen Strukturwiderprüche gegeben bzw. selbst bestimmt, tritt nie in einer „reinen Form“ auf, sondern ist immer z. B. mit Widersprüchen in Überbau, Staat, Institutionen verknüpft bzw. äußert sich zugespitzt dort und nur untergeordnet in den unmittelbaren Produktionsstätten. Die Konstellation des Verhältnisses der verschiedenen Strukturen und ihrer Widersprüche führt entweder dazu, dass trotz derselben „Schärfe des Kapital-Arbeit-Widerspruchs“ die gesellschaftliche Entwicklung gehemmt ist oder aber zu einem „revolutionären Bruch“ (ein zentraler Begriff für Althusser) führen kann: „… dass der überdeterminierte Widerspruch überdeterminiert entweder im Sinne eines historischen Hemmnisses sein kann, einer echten Blockierung des Widerspruchs (Beispiel: das wilhelminische Deutschland) oder aber im Sinne des historischen Bruchs (das Russland von 1917)…“ (30).

Umkehrung der Hegel’schen Geschichtsphilosophie im dialektischen Materialismus

In Hegels Geschichtsdialektik muss sich die „sittliche Idee“ durch die Ebene der bürgerlichen Gesellschaft (der interessengeleiteten, ökonomisch handelnden Menschen) hindurchbewegen, um im Staat/Geistesleben zu sich selbst zu kommen – als „Wirklichkeit der sittlichen Idee“. Die „Idee“ wird zum bewegenden Faktor der Geschichte, indem sie sich in ihren verschiedenen Momenten durch die gesellschaftliche Wirklichkeit entfaltet, als „Wahrheit“ einer Epoche „erscheint“. Dabei scheitere diese Verwirklichung immer wieder am eigenen Anspruch, das „Sein“ entspricht nicht dem „Begriff“, werde damit zu „unwahrem Sein“. Daher strebe die gesellschaftliche Wirklichkeit über die jeweils erreichte Erscheinungsform, die bestehende staatliche Ordnung hinaus – wenn es sein muss. Sie verwende die „List der Vernunft“ dabei auch die ihr scheinbar widersprechenden gewalttätigen Perioden des Niedergangs. Doch nach jedem Umbruch, in jeder neuen Epoche, seien die bisher erreichten Momente der Idee in der neuen Stufe der Entwicklung aufgehoben, bis am „Ende der Geschichte“ die Idee der Vernunft in ihrer reichen und durch all die vorangegangen Stufen vervollkommneten Form im Zukunftsstaat erscheine.

Um die Wirkungskraft dieser Hegel’schen Fortschrittsmythologie zu demonstrieren, ist es eine gute Veranschaulichung, hier kurz auf den italienischen Neuhegelianer Benedetto Croce einzugehen, dessen historische Studien ein wichtiger Anknüpfungspunkt für Gramsci waren (die Hegemonietheorie entstand in einer Auseinandersetzung Gramscis mit Croces Machiavelli-Studien). Croces geschichtsphilosophisches Hauptwerk ist sicherlich seine „Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert“ (31).

Darin führt er aus, dass mit der Französischen Revolution die „Idee der Freiheit“, die in vielen Jahrhunderten davor im Untergrund der Geschichte heranwuchs, unwiderruflich an die Oberfläche der Geschichte durchgebrochen sei. In allen Ereignissen bis zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, schildert nun Croce, wie bei allen Rückschläge der Drang nach Durchsetzung von Freiheit das nach vorne drängende Moment der europäischen Geschichte gewesen sei. Selbst den Faschismus, der ihn sein Buch unter Hausarrest schreiben ließ (wenn auch nicht unter ebensolch schlimmen Bedingungen wie denen des von ihm geschätzte Gramsci), sah Croce als einen extremen „Ausreißer“, der letztlich in einer Art „List der Vernunft“ die Völker Europas zur Besinnung bringen würde, so dass sie nach dem Zeitalter der Extreme unweigerlich eine Form der demokratischen und liberalen Vereinigung Europas anstreben würden. Nachdem die Entwicklung dann nach der Niederschrift seines Werkes in Europa unmittelbar doch „etwas“ anders verlief, schrieb Croce im Nachwort von 1947: „Für den Verfasser wie für andere Männer seiner Generation ist es gewiss schmerzhaft, dass der Lauf der Geschichte nach 1931 andere Wege eingeschlagen und dass keine Wiederentdeckung des Freiheitsideals stattgefunden hat. Einigen Trost kann man jedoch aus den Worten Hegels gewinnen: dass die Idee keine Eile hat“ (32).

Althussers Punkt ist, dass die übliche, vereinfachte Form der materialistischen Uminterpretation der Hegel’schen Geschichtsphilosophie, in der statt der Idee nunmehr die Entwicklung der Produktivkräfte im Verhältnis zu den Produktionsverhältnissen und der darauf beruhende Klassenkampf zum Motor der Geschichte würden, nichts anderes als eine neu eingekleidete Heilserwartung à la Hegel sei. In „materialistischer Paraphrase“ von Croce könnte man sagen: Mit der Oktoberrevolution ist die Periode der Weltrevolution, das letzte Gefecht gegen das todgeweihte kapitalistische System auf die Bühne getreten. Es mag diese oder jene Rückschläge geben, aber der Sieg der Weltrevolution ist nun nicht mehr aufzuhalten. Tausende Militante gingen beruhigt in den Tod, mit der Gewissheit, dass die Weltrevolution auf dem Marsch ist…

Althussers „wissenschaftliche Alternative“

Was ist nun Althussers „wissenschaftliche Alternative“ zu dieser angeblich materialistisch verkleideten „Heilslehre“?

Bekanntlich verlegt die marxistische Gesellschaftsanalyse die geschichtlich vorantreibenden Widersprüche nicht einfach (was eine einfache „Umstülpung“ Hegels wäre) von der politischen Bühne des Staates auf „die Gesellschaft“. Die unhistorische Auffassung Hegels von der „bürgerlichen Gesellschaft“ als eine durch den „ökonomisch handelnden Menschen“ geschaffene Welt der Interaktion zwischen egoistischen Individuen abstrahiert eben gerade von den zentralen materiellen Bedingungen der handelnden Menschen. Die „Idee der Freiheit“ kann nicht verwirklicht werden, wenn der Großteil der Gesellschaft die Bedingungen ihrer Verwirklichung nicht kontrollieren kann und vor allem um seinen Anteil an der Verteilung auch der grundlegend zum Überleben benötigten Güter erstmal kämpfen muss. In der marxistischen Gesellschaftsanalyse wird Hegels „bürgerliche Gesellschaft“ durch die jeweils herrschende Produktionsweise ersetzt.

Hier beginnt Althusser nun eine neue Terminologie einzuführen: Die mit der Produktionsweise gegebenen Eigentumsverhältnisse als Produktionsverhältnisse bestimmen laut Althusser eine ökonomische Struktur, der auf einer anderen Ebene, der Ebene des sozialen Handelns, Klassenverhältnisse entsprechen. Der Staat wiederum wird auf der Ebene des politischen Handelns angesiedelt, im Zusammenhang mit der Sicherung bestehender Klassenherrschaft. Wichtig ist hier, dass Althusser nicht nur wie Marx die Relationsglieder in den gesellschaftlichen Bestimmungsverhältnissen gegenüber der Hegel’schen Dialektik ändert, er ändert auch das, was „Bestimmung“ bzw. „Determination“ bedeuten. Was „unwissenschaftlich“ bei Hegel sei, soll das einfache, hierarchische Determinationsverhältnis sein: Die ökonomischen, sozialen, politischen, ideologischen Strukturen müssten vielmehr jeweils zunächst einzeln betrachtet, um dann in ihrer wechselseitigen Beeinflussung erfasst zu werden.

Die einfache Bestimmung des staatlichen Überbaus durch die ökonomische Basis wird bei Althusser zu einer „letztlichen Bestimmung“, die aber auch in umgekehrte Richtung wirkt. Dazu kommt, dass es in einer konkreten Gesellschaft jeweils zur Verschränkung verschiedener Strukturen auch auf denselben Ebenen kommt: Z.B. mögen neben der dominierenden kapitalistischen Produktionsweise Reste der feudalen noch eine gewichtige Rolle spielen, eine Gesellschaftsformation umfasse viele Produktionsweisen und Klassenverhältnisse, es wirkten vormoderne Ideologien nach, auf politischer Ebene könne die Feudalaristokratie weiterhin zentrale Positionen im Staatsapparat besetzen usw. usf. Insofern bestimmt laut Althusser der Kapital-Lohnarbeits-Widerspruch nur „im Letzten“ die historische Tendenz. Tatsächlich würde sie jedoch überdeterminiert durch das komplexe Zusammenwirken der verschiedenen, zum Teil sehr widersprüchlichen Teilstrukturen, aus denen sich in nicht-harmonischer Weise das Gesellschaftsganze zusammensetze.

Nicht durch den „Basiswiderspruch“, sondern auch durch die Widersprüche und Differenzen in der Gesamtheit der für die Situation wesentlichen Strukturen ergebe sich die Möglichkeit des „revolutionären Bruchs“. Das bedeutet das Auftreten einer Situation, in der eine revolutionäre Praxis auf allen Ebenen (der Ökonomie, der Politik, der sozialen Verhältnisse, der Ideologie…)von der Umwälzung der Produktionsweise ausgehend die Gesellschaft auf eine neue Grundlage stellen kann. Wie schon bei seiner Analyse der Oktoberrevolution ist dabei auch die revolutionäre Praxis selbst, hier in Gestalt der bolschewistischen Partei, ein Resultat einer „besonderen“ Entwicklung, ein weiteres hinzukommendes (kontingentes) Strukturelement. Auch der „subjektive Faktor“ wird bei Althusser zu einem Moment der objektiven Überdetermination.

Im Zusammenhang mit der Revolutionstheorie kommt dazu, dass Althusser davon ausgeht, dass sich, je mehr sich der Kapitalismus entwickelt, sich die Widersprüche und Auseinandersetzungen von der unmittelbaren ökonomischen Ebene umso mehr auf die von Politik und Überbau verlagern. In diesem Zusamenhang behauptet er (33), dass in der marxistischen Gesellschaftsanalyse die Analyse der Wirkungen des Überbaus und vor allem seiner Rückwirkung auf die ökonomischen Widersprüche unterbelichtet sei. Als rühmliche Ausnahme bezieht er sich auf Gramsci, der mit dem Begriff der Hegemonie „ein bemerkenswertes Beispiel für die Skizze einer theoretischen Lösung des Problems der wechselseitigen Durchdringung der Ökonomie und der Politik“ (34) aufgezeigt habe.

Mit seiner späteren „Theorie der ideologischen Staatsapparate“ begründete Althusser denn auch, warum die Subjektbildung im entwickelten Kapitalismus immer nur im Rahmen der beschriebenen überdeterminierten Widersprüche erfolge, eine selbstbestimmte Subjektivität nur selbst wieder ideologische Konstruktion sein könne. Im entwickelten Kapitalismus könne es nur in außergewöhnlichen Situationen von Brüchen zwischen diesen Strukturen dazu kommen, dass revolutionäre Praxis in jeweils ganz besonderer gesellschaftsspezifischer Form in jeweils zu analysierenden besonderen Kräften auf die Bühne tritt – ein allgemeines Modell wie die Errichtung der proletarischen Diktatur auf der Basis von Räteherrschaft à la Oktoberrevolution gebe es dann natürlich nicht.

Althussers „Austreibung von Hegel“ aus dem dialektischen Materialismus endet also eigentlich bei Kant: Die gesellschaftliche Wirklichkeit sei nur in Teilstrukturen erkennbar. Dahinterstehende, übergreifende Tendenzen zu ergründen wäre „unwissenschaftlich“, ein allgemeines Subjekt der Geschichte gebe es nicht, sondern in Ereignissen des revolutionären Bruchs, die aufgrund der kontingenten Anhäufung einer Vielzahl von Strukturproblemen möglich würden, seien jeweils spezifische soziale und politische Kräfte zu revolutionärer Praxis fähig.

Es ist hier nicht der Platz, eine ausführlichere Kritik dieser strukturalistischen Revision des dialektischen Materialismus auszuführen. Es sollen hier die wichtigsten Kritikpunkte, wie sie für das Verständnis einer auf die Oktoberrevolution bezogenen marxistischen Revolutionsauffassung zentral sind, angeführt werden:

  • Indem Althusser den „Widerspruch“ aus dem Kernbereich der Ökonomie in Gegensätze der verschiedenen Teilsysteme einer Gesellschaftsformation verlegt, die sich zum Widerspruch verschärfen können, verkennt er die grundlegende Dynamik des in den Grundlagen des Kapitals selbst angelegten Widerspruchs. Im Nachwort zur zweiten Auflage von „Das Kapital“, in dem Marx seinen Bezug auf die Hegel’sche Dialektik begründet, betont Marx gerade, dass sich „die widerspruchsvolle Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft“ am schlagendsten in der Tendenz zur verallgemeinerten Krise zeige (35). Diese Tendenz sei die konkrete Form der Revolte der sich im Kapitalismus entwickelnden Produktivkräfte gegen die Fesseln der bürgerlichen Produktionsverhältnisse. Damit ist allerdings ein umfassender Rahmen gegeben, der alle Teilwidersprüche – unmittelbare ökonomische Klassenkämpfe, politische und soziale Auseinandersetzungen im Inneren und Äußeren, ideologische und institutionelle Erschütterungen etc. – zu einer „Totalität“ verbindet. Eine fundamentale Krisenperiode, wie sie der Oktoberrevolution vorausgegangen ist, ist keine „Einmaligkeit“ mit ganz „besonderer historischer Spezifik“. Krisenperioden, in denen von der Ökonomie bis zu den politischen und ideologischen Strukturen alles Bestehende grundsätzlich in Frage gestellt ist, sind für die bürgerliche Gesellschaft vielmehr notwendig wiederkehrende Bedrohung.
  • Die Behauptung, eine von den ökonomischen Grundwidersprüchen ausgehende allgemeine historische Dynamik anzunehmen, sei bloßer Hegel’scher „Geschichtsmystizimus“, verkennt, dass der dialektische Materialismus gerade die revolutionäre, subjektive Seite der Hegel’schen Dialektik in seinem System aufgehoben hat: Das Scheitern der Ideen und Ansprüche (z. B. des Freiheitsideals) an der Wirklichkeit führt gerade zur Frage eines Subjekts, eines Standpunktes, von dem aus dieses Scheitern nicht nur verstanden, sondern auch überwunden werden kann. Die materialistische Geschichtsauffassung gipfelt gerade darin, dass die objektiven historischen Voraussetzungen für einen solchen Standpunkt mit der Entwicklung der entscheidendsten Produktivkraft im Kapitalismus gegeben sind: im Klassenstandpunkt des Proletariats. Dies ist kein „Geschichtsmystizismus“, sondern darin begründet, dass mit dem Proletariat zum ersten Mal in der Geschichte eine Klasse die Herrschaft erobern kann, die die Grundlagen aller gesellschaftlichen Praxis selbst produziert und somit deren selbstbestimmte Gestaltung bewusst angehen kann.
  • Kern der materialistischen Umkehrung Hegels ist nicht wie bei Althusser eine neuerliche Trennung von Theorie und Praxis, eine bei Althusser wiederum vollzogene bloß betrachtende, analysierende Gesellschaftskritik. Die Alternative ist nicht, dass ein mystischer „Geist der Weltrevolution“ die Geschichte antreibe, sondern dass das Proletariat als revolutionäre Klasse tatsächlich zum bewussten Subjekt des geschichtlichen Handelns werden kann. Das ist die revolutionäre Praxis, in der sich der Klassenstandpunkt des Proletariats verwirklichen kann. D. h., das Proletariat ist nicht mehr nur Resultat verschiedenster objektiver Prägungen, ist nicht nur Resultat seiner ihm selbst entfremdeten Produkte seiner Arbeit, sondern zugleich in der Lage, eine Gesellschaft hervorzubringen, in der es seine Zwecke selbst bestimmen und die Folgen seiner Entscheidungen auch vorhersehen kann. In seiner revolutionären Praxis drückt sich daher das Verständnis sowohl der Grundlagen der bestehenden kapitalistischen Gesellschaft, der notwendigen Handlungen zu ihrer Überwindung als auch die Möglichkeit einer selbstbestimmten sozialistischen Gesellschaft aus.
  • Die Behauptung, der Kapitalismus in entwickelten kapitalistischen Ländern würde Hegemonie-Mechanismen entwickeln, die ihn widerstandsfähig gegen allgemeine Krisenperioden und fähig zur Integration aller Oppositionskräfte machen würden, ist nicht nur eine Revision der marxistischen Krisentheorie. Sie verkennt auch die Bedeutung des subjektiven Faktors: Ob das Proletariat tatsächlich in der Lage ist, die von seinem Klassenstandunkt aus mögliche revolutionäre Praxis erfolgreich umzusetzen, hängt davon ab, ob es in der Lage ist, tatsächlich in der Praxis die Frage von „Staat und Revolution“ zu lösen, also die Krise für die Umwälzung der Produktionsverhältnisse, die Zerschlagung der bürgerlichen Staatsmacht, die Durchsetzung der eigenen politischen Hegemonie gegenüber den Integrations- und Repressionsmöglichkeiten der Bourgeoisie zu nutzen. Gerade die Frage, warum die Ausdehnung der Revolution über Russland hinaus nach 1917 nicht gelang, zeigt eher nicht, dass es sich hier um eine Frage von „Bewegungs- oder Stellungskrieg“ handelte – sondern vor allem um eine Frage der Entwicklung des subjektiven Faktors, der revolutionären Praxis und Führung der ArbeiterInnenbewegung in Westeuropa.

Poulantzas als der Anti-Lenin – Transformation als „dritter Weg“

Die „Transformationstheorie“ sucht heute einen „dritten Weg“ zwischen Reform und Revolution. Nachdem unter Berufung auf Gramsci behauptet wird, dass die „Bewegungskriegstaktik“ der Oktoberrevolution für die entwickelten kapitalistischen Länder mit ihren komplexen Zivilgesellschaften und der durchgreifenden bürgerlichen Hegemonie nicht geeignet sei, wird als eine Taktik des Stellungskrieges die langwierige „Transformation“ des Kapitalismus vorgeschlagen, die durch immer radikalere Reformen und Aufbau von „Gegen-Hegemonie“ irgendwann in eine sozialistische Demokratie umschlagen werde.

Die theoretische Gründungsfigur dieses Transformationskonzeptes ist sicherlich Nicos Poulantzas, der auch explizit die VordenkerInnen in Linkspartei und DKP von Demirovic, Candeias bis Mayer und Schuhler methodisch geprägt hat.

Tatsächlich läßt sich Poulantzas‘ „Staatstheorie“ geradezu als Anti-Buch zu Lenins „Staat und Revolution“ lesen.

Poulantzas‘ Analyse des Staates im Kapitalismus steht in der Tradition der „Verwissenschaftlichung“ und „Entmystifizierung“ des Marxismus, wie sie hier schon am Beispiel von Althusser dargestellt wurde. So lehnt Poulantzas die „historisierende“ Herleitung des Staates aus der Entstehung von Klassengesellschaften und der daraus folgenden Notwendigkeit der politischen Absicherung von Klassenherrschaft ab. Die Reduktion des Staates auf dessen Klassen-Herrschaftsfunktion, die sich um den Kern des Gewaltapparates gruppiert, wie sie der „traditionelle Marxismus“ lehre, verkenne die verschiedenen Staatsfunktionen und die komplexe Überlagerung verschiedener Strukturen, die den Staat ausmachten. Der Staat basiere zwar auf den kapitalistischen Produktionsverhältnissen, habe aber unterschiedliche materielle Apparate und geistige Potenzen, die sich in jeweils besonderer Weise mit diesen Produktionsverhältnissen verbänden. So erklärt Poulantzas etwa, dass sich aus der verstärkten Trennung von Hand- und Kopfarbeit im Kapitalismus ergebe, dass sich immer mehr Funktionen der Wissenschaftsproduktion, -vermittlung, der intellektuellen Verarbeitung, der Informations- und Analysefunktionen etc. in den öffentlichen Raum verschöben und daher in staatliche oder halbstaatliche Apparate hineinwüchsen. Genauso würden immer mehr Bereiche des unmittelbaren Alltagslebens, auch durch Institutionalisierung von z. B. kommunalen oder regionalen Konfliktlösungsprozeduren, vom Mitwirken im Staat durchzogen. Dazu komme im entwickelten, immer mehr der Krisenbewältigung dienenden Staat eine größer werdende unmittelbare ökonomische Funktion des Staates, ob in staatlichen Industrien oder im Finanzbereich.

Alle diese Faktoren (Poulantzas entwickelt natürlich noch viel mehr) sollen zeigen, dass der Repressionskern des Staates bloß einer unter vielen Strukturelementen ist. Wie auch schon bei Althusser kommt dazu, dass der Staat selbst auch wieder zu einem Moment der Bestimmung der Basis, also der Produktionsverältnisse selbst werde: „Der Staat spielt also eine entscheidende Rolle in den Produktionsverhältnissen und im Klassenkampf, insofern er von Anfang an in ihrer Konstitution und Reproduktion präsent ist“ (36).

Die Betonung der „konstitutiven Rolle“ des Staates für die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse wie auch für die Mechanismen der Austragung von Klassenkämpfen bedeuten, dass die ökonomischen Machtverhältnisse und Konfliktaustragungen im Kapitalismus immer einen bestimmten staatlichen Rahmen voraussetzten, der mit dieser Rahmensetzung zugleich sowohl das Bestehen als auch die systemkonforme Transformation dieser Verhältnisse garantiere. Poulantzas lehnt daher das „übliche marxistische“ Vorgehen ab, den Staat und die „eigentliche dahinter stehende Macht“ zu trennen. Der Staat sei kein reines „Instrument“, sondern in seiner Verschränkung mit dem Prozess der Kapitalreproduktion zugleich eine der Materialisierungen von „Macht“ im Kapitalismus: „Jede Macht … existiert nur in materiellen Apparaten… Diese Apparate sind nicht einfach Anhängsel der Macht, sondern beeinflussen sie in konstitutiver Weise: Der Staat selbst spielt eine organische Rolle in der Machtbeziehung von Klassen“ (37). Hier kommen wir also bei der Umkehrung von Engels‘ materialistischer Herleitung der Entfremdung staatlicher Machtstrukturen aus Eigentums- und Ausbeutungsverhältnissen an: Die immer komplexere Entwicklung von staatlichen Strukturen und die sich in ihnen ausdrückenden Konflikte würden zur Grundlage der Entwicklung von Klassenherrschaft.

Insofern wird auch klar, dass Poulantzas die Strategie der Zerschlagung des Staates (des Kapitals) und seine Ersetzung durch eine neue Form von rätedemokratischem Halbstaat nicht teilen kann: „Die Analyse und die Praxis von Lenin durchzieht eine prizipielle Linie: Der Staat muss en bloc durch einen frontalen Kampf in einer Situation der Doppelmacht zerstört, und durch eine zweite Macht, die Sowjets, ersetzt werden, deren Herrschaft kein Staat im eigentlichen Sinn mehr wäre, weil er bereits ein absterbender Staat sei“ (38). Dabei „reduziere“ Lenin den Staat in der Gleichsetzung von repräsentativer Demokratie und Macht des Kapitals auf die „Diktatur der Bourgeoisie“. Dagegen behauptet Poulantzas: „Der kapitalistische Staat wird dabei als bloßes Objekt oder Instrument betrachtet, das von der Bourgeoisie, deren Produkt er ist, nach Belieben manipuliert werden kann – man gesteht ihm keine inneren Widersprüche zu. Ebenso wenig wie die Kämpfe der Volksmassen in ihrer Opposition gegenüber der Bourgeoisie einer der Faktoren der Konstitution dieses Staates sein könnten (z. B. im Fall der Durchsetzung repräsentativer Demokratie), könnten sie den Staat selbst durchziehen, der als monolithischer Block ohne Risse begriffen wird. Die Klassenwidersprüche liegen zwischen dem Staat und den dem Staat von außen gegenüberstehenden Volksmassen – bis zu jenem Krisenpunkt der Doppelherrschaft, jenem Moment, in dem der Staat de facto durch die Zentralisierung von Paralellmächten, die zur realen Macht werden (die Sowjets), vernichtet worden ist“ (39).

Konsequenzen der Revision

Hier wird kristallklar, wohin die Revision der marxistischen Staatstheorie und die strukturalistische Widerspruchstheorie führen: Statt die gesellschaftlichen Widersprüche als Grundlage des Klassenstaates zu verstehen und den Klassenstaat im Kern als ein durch alle Klassenherrschaften hindurch immer mehr verfeinertes Herrschaftsinstrument zu sehen, wird der Staat selbst zu einem aus vielen, in Widersprüchen miteinander stehenden Strukturen, die konstitutiv für die Austragung gesellschaftlicher Konflikte sind. Damit lässt sich der Staat, der alle gesellschaftlichen Ebenen durchzieht und wesentlicher Bestandteil der erreichten gesellschaftlichen Arbeitsteilung ist, für Poulantzas auch nicht einfach durch etwas ganz Neues ersetzen. Der Versuch, die erreichte staatlich vermittelte Vergesellschaftung durch Sowjets zu ersetzen, müsse in der mangelhaften Widerspiegelung der gesellschaftlichen Komplexität und der damit verbundenen Auseinandersetzungen enden – womit die Basisdemokratie dann zwangsläufig durch autoritären Etatismus überholt werden müsse, da ja repräsentative Demokratie zerschlagen wird. Poulantzas nimmt Luxemburgs Kritik an der Zerschlagung der konstituierenden Versammlung durch die Bolschewiki wieder auf: Da die Sowjets nicht wirklich zur sozialistischen Transformation in der Lage gewesen wären, hätten Elemente der repräsentativen Demokratie die daraus notwendig gewordene Rückkehr zu administrativer Staatlichkeit ergänzen müssen.

Hier sind zwei wesentliche Revisionen des Leninismus enthalten: Erstens wird davon ausgegangen, dass „komplexe, entwickelte kapitalistische Staaten“ gar nicht wirklich durch Räteherrschaft in eine neue Staats-Funktionsweise umgewandelt werden können. Es wird entsprechend behauptet, Ziel sei weniger die tatsächliche Hervorbringung des proletarischen Rätehalbstaates, als vielmehr die Machteroberung im Staat selbst: „Es geht im Grunde gar nicht um eine Transformation des Staatsapparates: Zuerst ergreift man die Staatsmacht, sodann stellt man eine andere Macht an ihre Stelle“ (40).

Zweitens wird damit das Verhältnis von „Umwandlung des Staatsapparates“ und Machteroberung umgekehrt: Poulantzas spricht von einem „langen Prozess“ der Veränderung der Klassenverhältnisse innerhalb des Staates, der „eine gleichzeitige Transformation seiner Apparate“ umfasse: „Die radikale Transformation des Staatsapparates auf einem demokratischen Weg zum Sozialismus impliziert, dass es nun nicht mehr um das gehen kann, was man traditionellerweise als ‚Zerschlagung‘ oder ‚Zerstören‘ dieses Apparates bezeichnet“ (41). Denn dies würde eine vorschnelle Beseitigung von Mechanismen wie z. B. der repräsentativen Demokratie bewirken, die jedoch für die Umgestaltung noch wesentlich seien. Andererseits müssten immer mehr Elemente des entfremdeten Parlamentarismus durch unmittelbare Beteiligung der Massen und basisdemokratische Strukturen ersetzt werden. Man müsse also noch im Rahmen der Kapitalherrschaft mit der Perspektive der Vergesellschaftung und des Absterbens des Staates beginnen.

Poulantzas ist sich dabei durchaus bewusst, dass die Vermeidung der Machtfrage die Gefahr des Reformismus bzw. der raschen Repression und Vernichtung aller „Transformationen“ durch die gegnerischen Klassenkräfte in sich birgt. Im Unterschied zu anderen „TransformationistInnen“ sieht Poulantzas daher die Veränderungen im Repressivapparat selbst als zentrales Element der „Bildung von Widerstandszentren im Staatsapparat“ an (und im Mangel davon den Grund des Scheiterns der Volksfront in Chile 1974).

Letztlich werde die „radikale Transformation“ zu einem langwierigen Prozess der „Kräfteverschiebung“ im Zwischenraum Staat-Klassenkämpfe, der über verschiedene „Linksregierungen“ durch viele Rückschläge hindurch zu einer immer breiteren Verankerung für die sozialistische Umgestaltung führe. Dies setzt Poulantzas der „Strategie der Ergreifung der Staatsmacht“ entgegen, die angesichts der fehlenden Umwandlung der gesellschaftlichen Strukturen nur entweder im sozialdemokratischen Reformismus oder im stalinistischen Etatismus enden könne. Bei der kontinuierlichen Transformation handle es sich dabei nicht um eine Anhäufung von Reformen, sondern um Reformen, die über das System hinausgingen.

„Das innere Kräfteverhältnis des Staates zu ändern, meint nicht aufeinanderfolgende Reformen als kontinuierlicher Fortschritt, die schrittweise Einnahme der staatlichen Maschinerie oder die Eroberung der höchsten Regierungsposten. Diese Veränderung besteht in der Ausweitung ‚effektiver Brüche‘, deren kulminierender Punkt – und es wird zwangsläufig ein solcher Punkt existieren – im Umschlagen der Kräfteverhältnisse auf dem Terrain des Staates zugunsten der Volksmassen liegt“ (42).

Dies sei dann der Punkt, an dem tatsächlich Organe der proletarischen Selbstorganisation den alten Staat durch einen proletarischen Halbstaat ersetzen – wobei Poulantzas nicht davon ausgeht, dass dieser Prozess „friedlich“ abläuft: „Es wäre falsch… aus der Präsenz der Volksklassen im Staat zu schließen, dass sie ohne eine radikale Transformation dieses Staates dort Macht besitzen oder auf lange Sicht behalten können. Die internen Widersprüche des Staates implizieren kein ‚widersprüchliches Wesen’…. nicht… eine Situation von Doppelherrschaft in seinem Inneren …. Selbst wenn sich das Kräfteverhältnis und die Staatsmacht zugunsten der Volksklassen verändern sollten, tendiert der Staat mehr oder weniger langristig dahin, das Kräfteverhältnis, manchmal in anderer Form, zugunsten der Bourgeoisie wiederherzustellen“ (43). Somit sieht Poulantzas die Aktionen und Reformen innerhalb des Staates nur als „hinreichende Bedingung“ der Transformation, die Selbstorganisation und Entwicklung rätedemokratischer Alternativen als notwendige Bedingung, die wohl oder übel an einem Punkt in gewaltsamen Konflikt mit den herrschaftssichernden Mechanismen des bestehenden Staates kommen würden: „Der Prozess bietet auch dem Gegner mehr Möglichkeiten, entweder das Experiment des demokratischen Sozialismus zu boykottieren oder aber brutal zu intervenieren, um ihm ein Ende zu setzen. Der demokratische Weg zum Sozialismus wird sicherlich kein friedlicher Weg sein“ (44).

In Verteidigung des Modells Oktoberrevolution

Wie leicht zu sehen ist, greift Poulantzas in neuem theoretischen Begründungszusammenhang die alten Diskussionen um die Fragen von Räteherrschaft, repräsentativer Demokratie und Diktatur des Proletariats wieder auf, wie sie angesichts der Oktoberrevolution innerhalb der Tradition der Zweiten Internationale geführt wurden: Natürlich erinnert die „Transformationsstrategie“ an Kautskys Vorstellung in „Der Weg zur Macht“, wo er die Koexistenz von Rätestrukturen und einer weiterhin parlamentarisch bestimmten Regierung, die langsame Umformung des Staatsapparates bis zum Umschlag der Kräfteverhältnisse skizziert. Erst dann könnten die unmittelbare Herrschaft des Proletariats und das Absterben des Staates beginnen. Auch hier war Kautsky nur Theoretiker einer vielfältigen, in verschiedenen Fraktionen der Rätebewegung vorherrschenden Vorstellung von einer langfristigen Transformationsperiode, in der die Rätebewegung mit fortbestehendem Kapitalismus und mit bloßer Kontrolle über fortbestehende Administrationen des alten Staatsapparates voranschreiten könne.

Die Problematik der Poulantzas’schen Theorie liegt nicht nur in einer undialektischen Analyse der gesellschaftlichen Grundlagen des Staates, die nicht erkennt, dass die zugrundeliegende gesellschaftliche Dynamik des Kapitalwiderspruchs eine wesentliche Machtverschiebung und Transformation innerhalb des bestehenden Staatsapparates natürlich nicht zulässt und jegliche solche Ansätze in kurzer Zeit in ihr Gegenteil verkehren muss. Sie verkennt auch die Frage des Subjekts der „Transformation“, die weitgehend als objektiver Prozess einer parallelen Reformpolitik und spontaner Selbstorganisation angesehen wird. Die Frage, wie schon dargestellt, ist aber: Mit welchem Bewusstsein, mit welchem Verständnis des Prozesses und seiner Zielsetzung wird dies von den beteiligten Massen vorangetrieben? Wie am Beispiel der Novemberrevolution oder der italienischen Rätebewegung dargestellt, war selbst das Bewusstsein der fortgeschrittensten ArbeiterInnen bzw. von subjektiv gutwilligen RevolutionärInnen der politisch agierenden ArbeiterInnenorganisationen weit entfernt von Klarheit über die Notwendigkeiten des Moments der gesellschaftlichen Zuspitzung, und das bedeutet in der Konsequenz den sicheren Weg in die Niederlage.

Das weiterhin von den kapitalistischen Zuständen geformte Bewusstsein der Unterdrückten, die Herrschaftsinstrumente zu dessen Befestigung, letztlich die Entschlossenheit der Bourgeoisie, „stabile Verhältnisse“ so schnell wie möglich wiederherzustellen, geben dem Proletariat ohne Machteroberung keine „lange Periode“, in der es langsam selbstorganisierte Vergesellschaftung, Entwicklung von Produktionskontrolle etc. ausprobieren und dabei dann langsam sich auch in Denken und Handeln von der kapitalistischen Prägung befreien könnte. Weitaus mehr und öfter als die „Strategie der Machteroberung“ zur Ermöglichung von Räteherrschaft hat sich bisher die „Strategie der Transformation“ als Utopie und sicherer Weg in die Niederlage erwiesen. Und ein Sieg der Konterrevolution, eine Niederlage von Hoffnungen, auf selbstbestimmte Weise seine Probleme lösen zu können – das führt nicht einfach zu einem Einfrieren des Kräfteverhältnisses im Sinne des Stellungskrieges. Solche Niederlagen sind zumeist auch Wendepunkte die, kombiniert mit reaktionären, konterrevolutionären Bewegungen, auch die Unterdrückten spalten und Nährboden für reaktionäre subjektive Lösungen wie Chauvinismus und Faschismus sind.

Poulantzas‘ Warnung davor, dass die Machteroberungsperspektive die Tendenz zu autoritärem Etatismus enthält, verkürzt seinerseits die „Transformationsperspektive“ der Diktatur des Proletariats. Es ist gerade die Erkenntnis, dass die wirkliche Umgestaltung von Ökonomie und gesellschaftlichen Verhältnissen von den bestehenden staatlichen Apparaten mit aller Macht hintertrieben wird. Dies muss dazu führen, ihnen einen radikal neuen Typ von Demokratie entgegenzusetzen: eine Demokratie, die auf Grund ihrer Verbindung zu den unmittelbaren Produktionsagenten tatsächlich gesellschaftliche Veränderungsmacht hat. Gleichzeitig ist sich die Perspektive der Rätemacht, wie auch gezeigt wurde, durchaus bewusst, dass die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung der Räte und die Vielfalt der staatlichen Aufgaben, die nicht unmittelbar und sofort überall durch Räte administriert werden können, dazu führen, dass der Rätestaat zunächst sogar zu einer Vergrößerung staatlicher Apparate führen kann. Die Frage des Abbaus und der Kontrolle dieser staatlichen Apparate ist sicherlich das Hauptproblem einer Übergangsgesellschaft zum Sozialismus. Und sicherlich ist die Sowjetunion mit der baldigen Degeneration ihres Rätesystems an dieser Aufgabe vollständig gescheitert. Dies heißt nicht, dass durch ein z. B. parlamentarisches Korrektiv zur „Sowjetmacht“ dieses staatlich-bürokratische Übergewicht wahrscheinlich vermieden worden wäre. Die schwierige Situation der Sowjetunion mit Bürgerkrieg, Blockaden und Hungersnöten hätte unter Fortbestestand einer Doppelmacht mit parlamentarischer Vertretung der Bourgeoisie wahrscheinlich bald zu einer Konterrevolution geführt, die in einer schrecklichen faschistischen Diktatur geendet hätte, sicher keine positivere Alternative.

Tatsächlich haben z. B. die Diskussionen in der Novemberrevolution gezeigt, dass es sehr wohl auch arbeiterInnendemokratische Alternativen gab: so etwa die Konzeption, die auf betrieblichen Räten basierende ökonomische Gesamtplanung zu ergänzen durch ein System politischer Räte, das die bürgerlichen Repräsentativorgane ersetzt als auch politische Kontrolle über die Wirtschaft im ArbeiterInnenstaat ausübt. Auch wenn die Perioden erfolgreicher Räteherrschaft bisher nicht sehr lange dauerten, so sind doch die geschichtlichen Erfahrungen eindeutig: Ohne Machteroberungsstrategie, ohne Diktatur des Proletariats keine wirkliche Räteherrschaft. Ohne sich entwickelnde Räteherrschaft, ohne immer umfassender werdende ArbeiterInnendemokratie keine nachhaltige sozialistische Umgestaltung, kein Übergang zum Sozialismus. Insofern bleibt die Oktoberrevolution von 1917 das bisher einzige erfolgreiche Modell einer sozialistischen Revolution. Durch das Scheitern der Sowjetunion nach ihrer bürokratischen Degeneration und der schließlich erfolgten Restauration des Kapitalismus bleibt sie für uns heute, ähnlich wie die Pariser Kommune von 1870/71, eine unumstößliche theoretische Errungenschaft der ArbeiterInnenbewegung: Jede zukünftige proletarische Revolution wird auf dem grundlegenden Konzept von Machteroberung und Räteherrschaft von 1917 aufbauen müssen und den unermesslichen Erfahrungsschatz dieser Revolution und der folgenden weltweiten Bewegung als Grundlage der Fortentwicklung des revolutionären Marxismus nutzen.

Die Oktoberrevolution als neue Entwicklungsetappe des Marxismus – Lukács und Korsch

Im Sinn der letzten Bemerkung haben zwei andere intellektuell sehr wirksame marxistische Theoretiker die Oktoerrevolution und das Scheitern ihrer Ausdehnung nach Westeuropa interpretiert: György Lukács und Karl Korsch. Althusser erwähnt sie an der Stelle, an der er sich lobend über Gramsci äußert, mit dem „Gott sei bei uns -Hegelianer!“-Schuldspruch. Dabei haben beide wesentlich treffendere theoretische Analysen der Problematik geliefert als Gramsci – zum Teil wohl auch deshalb, weil ihre wesentlichen Beiträge dazu schon 1923 veröffentlicht wurden, als die kommunistische Bewegung noch nicht derart degeneriert war wie zu dem Zeitpunkt von Gramscis Gefängnisheften.

Auch wenn Lukács und Korsch von ihren Gegnern (z. B. Sinowjew) gerne als „rote Professoren“ abgetan wurden (Korsch war Arbeitsrechtsprofessor, Lukács ein bekannter Literaturkritiker), so waren sie durchaus auch revolutionäre Praktiker: Lukács war nicht nur Volkskommissar für Erziehung und Kultur in der kurzlebigen ungarischen Räterepublik von 1919 – er befehligte als Politkommissar außerdem eine Division der ungarischen Roten Armee gegen die Invasion aus Rumänien und der Tschechoslowakei, die von den Entente-Mächten zur Niederschlagung der Räterepublik benutzt wurde. Korsch war ein Sprecher des ArbeiterInnen- und Soldatenrates seiner Heimatstadt und gehörte der Sozialisierungskommission für den deutschen Bergbau während der Novemberrevolution an; später wurde er in der kurzlebigen ArbeiterInnenregierung in Thüringen 1923 Justizminister für die KPD und war Mitorganisator für die proletarischen Hundertschaften. Die beiden zentralen Werke „Geschichte und Klassenbewusstsein“ (45) von Lukács und „Marxismus und Philosophie“ (46) von Korsch betonten vor allem eines: wie sich mit der Oktoberrevolution und der folgenden revolutionären Welle das Proletariat als revolutionäres Subjekt der Geschichte herausgebildet hat, wie der Leninismus zum Ausdruck dieser neuen Subjektivität geworden ist – und dass das Scheitern der Revolution außerhalb Russlands vor allem Resultat des Versagens der Führungen in entscheidenen historischen Momenten war. Korsch entwickelt in „Marxismus und Philosophie“, dass mit der Oktoberrevolution eine „dritte Entwicklungsperiode“ des Marxismus (nach der Gründungsperiode und der Periode der Zweiten Internationale) eingesetzt habe. Während sich der vorherrschende Marxismus der Zweiten Internationale dem Problem von Staat und Revolution nur abstrakt genähert habe, kündigt Lenins „Staat und Revolution“ nicht einfach eine „Wiederbesinnung“ auf die Klassik an, sondern die Konkretisierung der Frage von Zerschlagung des bürgerlichen Staates und Errichtung der proletarischen Diktatur. Mit der Einbeziehung dieser Fragen in die revolutionäre Praxis des Proletariats erweisen sich die aus der Vorperiode überkommenen staatssozialistischen Vorstellungen von Kautsky bis weit auch in die Reihen der Komintern hinein als wesentliches subjektives Hindernis. Lenins Polemik dagegen war auch in ihrer Schärfe berechtigt, um den richtigen Weg aufzuzeigen.

Nachdem die Betonung auf subjektive Fehler und die vielfache Übernahme alter Lehren der Zweiten Internationale auch ganz offen als Kritik an Fehlern der Komintern-Führung zu verstehen war, wurden beide Werke speziell von Sinowjew und im Gefolge dann von mehreren subalternen bezahlten Theorie-Bürokraten als „Subjektivismus“ verurteilt bzw. ins „ultralinke“ Eck gestellt.

Lukács hat auf die Kritik in einer Verteidigungsschrift mit dem Titel „Chvostismus und Dialektik“ geantwortet, die hier von besonderem Interesse ist. Als Kritiker von „Geschichte und Klassenbewusstsein“ fuhr die Komintern Deborin und Rudas auf. Insbesondere László Rudas war ein Kampfgenosse von Lukács aus der Räterepublik in Budapest, war aber inzwischen in Moskau zu einem Vertreter der sich etablierenden stalinistischen Schulphilosophie geworden. Deborin und Rudas gehörten zu den Vorläufern der Verflachung des Marxismus mit den bekannt-berüchtigten Schemata des DiaMat, auch wenn Deborin selbst ab 1930 zum Opfer stalinistischer Säuberungen wurde, als er sich weigerte, Stalins Autorität in philosophischen Fragen anzuerkennen (47).

Ähnlich wie die Adepten von Gramsci und Co. begründete auch schon Rudas, warum die ungarische Räterepublik unbedingt scheitern „musste“. Hier war es aber nicht die „Hegemonie“ oder die „Unterschätzung der Tiefe der Verteidigungslinien der Bourgeoisie“, hier waren es die „ungünstigen objektiven Bedingungen“ (die Lieblingsbegründung aller stalinistischen Bürokraten für „Rückschläge“). Dies wurde gegen Lukács angeführt, der darauf beharrte, dass die Verteidigung der Revolution 1919 auch in Ungarn möglich gewesen wäre.

Rudas führt insbesondere drei Faktoren an, an denen die Revolution scheitern musste: die Blockade durch die umliegenden kapitalistischen Staaten, der Verrat der Offiziere und die Ungunst des Territoriums, das eine Verteidigung gegen die Invasion schwierig machte. Lukács erwidert darauf: Ja, die Blockade führte zu Versorungsproblemen – aber die Situation erreichte nicht im Entferntesten die Hungerkatastrophe, die sich im russischen Bürgerkrieg ergab. Problematischer habe sich erwiesen, dass die Versorgungsprobleme auch in den Räten zu einer Verstärkung der sozialdemokratischen Propaganda führten, die versprach, „dass alle Probleme verschwänden, wenn man nur zur Demokratie zurrückkehrt“. Und hier erwies sich auch in Ungarn wieder das Problem, dass sich die KommunistInnen organisatorisch noch nicht von der Sozialdemokratie getrennt hatten.

„Was fatal in der Situation war, war, dass die Arbeiter der Demagogie glaubten – gerade weil ihr keine kommunistische Partei entgegentrat!“ (48). Auch der Verrat der Offiziere war natürlich fatal. „Aber Genosse Rudas als führender Kader musste wissen, dass überall, wo wir verlässliche und fähige Genossen in den Reihen der Armee hatten, die Divisionen standhaft blieben und zum Kampf bis zum Ende bereit waren. War es tatsächlich ‚objektiv‘ unmöglich, für unsere 8 Divisionen (und die entsprechenden Untereinheiten) kommunistische Kommissare und Kommandanten zu finden? Es war unmöglich, weil es keine kommunistische Partei gab, die die Auswahl traf, die Ernennungen durchführte und den richtigen Handlungsplan bestimmte“ (49).

Und zu den ungünstigen militärischen Voraussetzungen bemerkt Lukács: „Ich möchte Rudas daran erinnern, dass der Fall der Räteherrschaft nicht einfach eine militärische Angelegenheit war. Am 1. August befand sich die Rote Armee in einer vielversprechenden Gegenoffensive mit einigen militärischen Erfolgen (…), gerade als die Führung der Räterepublik zurücktrat – eben weil eine kommunistische Partei fehlte“.

Lukács bemerkt dazu, dass natürlich auch das Fehlen einer kommunistischen Partei zum damaligen Zeitpunkt in Ungarn objektive Gründe gehabt habe, aber diese „Objektivität“ habe auch mit einer Reihe subjektiver Momente zusammengehangen, die zu dieser Entwicklung geführt hätten. Die dialektische Herangehensweise verbietet eben gerade die mechanische Trennung von Subjekt und Objekt, muss ihre widersprüchliche Verbindung betrachten. In diesem Zusammenhang entwickelt Lukcas die Dialektik von „Prozess“ und „Moment“.

Der subjektive Faktor

Welche Rolle spielt in den durch objektive Faktoren der ökonomischen und sozialen Entwicklung bestimmten gesellschaftlichen Prozessen das Bewusstsein der in ihnen Handelnden? Abgesehen davon, dass die Absichten und Gedanken der Handelnden durch diese objektiven Faktoren nur zu oft hintertrieben oder umgekehrt werden, so ist jedenfalls die Widerspiegelung des Prozesses im Bewusstsein ein wesentlicher Faktor in der Entwicklung des Prozesses. Mit dem Standpunkt des Proletariats als dem des allgemeinen unmittelbaren Produzenten wird es zusätzlich möglich, diese objektiven Faktoren auch tatsächlich zu durchschauen und selbst zu verändern. Gesellschaftliche Prozesse, die auf der Grundlage widersprüchlicher Bedingungen sich entfalten, stellen nun im Allgemeinen nie einfach immer eine „stetige Steigerung“ der Bedingungen bis zu einem objektiven Umschlag in einen neuen Prozess dar:

“Was ist ein Moment? Eine Situation, die länger oder kürzer sein mag, die aber von dem Prozess, der zu ihm geführt hat, sich darin unterscheidet, dass er alle wesentlichen Tendenzen dieses Prozesses zusammenballt und eine Entscheidung verlangt über die zukünftige Entwicklung des Prozesses. Das heißt, dass die Tendenzen einen gewissen Zenit erreichen, und entsprechend dem, wie die Situation gelöst wurde, nimmt der Prozess nach dem Moment eine andere Richtung. Die Entwicklung läuft nicht in der Art einer ständigen Intensivierung, in der die Situation dann mal günstig ist für das Proletariat, und morgen ist sie dann sogar noch günstiger und so weiter. Es bedeutet dagegen, dass an einem bestimmten Punkt die Situation eine Entscheidung verlangt, und morgen mag es schon zu spät sein, noch eine Entscheidung treffen zu können“ (50).

Lukács führt hier verschiedene Aussagen Lenins zur Frage des Aufstands an. So, als Lenin im Oktober 1917 feststellte: „Die Tage, in denen friedliche Kompromisse geschlossen werden konnten, sind vorbei… Die Geschichte wird den Revolutionären nicht verzeihen, wenn sie heute gewinnen können (und natürlich werden wir siegen), und sie morgen schon so viel verlieren können, alles verlieren können“ (51). Mit dem Proletariat als Subjekt-Objekt der Geschichte sei es notwendig, dass solche Wendepunkte, solche Momente, in denen es auf das bewusste, subjektive Eingreifen ankomme, immer wieder in zugespitzten Situationen aufträten. Die kommunistische Partei, als „Form des proletarischen Klassenbewusstseins“ sei der entscheidende Faktor in solchen Momenten, wenn entschlossenes Handeln notwendig ist oder die Konsolidierung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse droht. Alles andere wäre Nachtrabpolitik hinter der Erwartung, dass „die Bewegung“ schon kommen werde, dass die Situation jetzt möglicherweise „noch nicht reif ist“, dass man „alles Aufgebaute jetzt nicht gefährden soll“. Lukács kritisiert an dieser Stelle auch Rosa Luxemburgs Vertrauen in die „Spontaneität der Massen“, die kein „bolschewistisches Kommando“ bräuchten – auch dies habe sich als verhängnisvolle Nachtrabpolitik hinter der Hoffnung auf den „objektiven Prozess“ herausgestellt.

Natürlich sei auch die Erwartung, dass der „subjektive Moment“ immer gegeben sei, falsch: Dies führe zu ultralinkem Abenteurertum, bei dem die Frage des Aufstands immer auf der Tagesordnung stehe und eigentlich nur eine Frage der technischen Vorbereitung sei. Lukács verweist hier auf die Entwicklung der Frage des Aufstands bei Lenin: Während die Revolution nach dem Februar beständig auf den Aufstand zugearbeitet habe (Krieg, Hunger, Bauernbewegung, das Schwanken der Herrschenden zwischen Kompromiss und Sammeln der Kräfte für das Zurückschlagen, die Verschiebung der Kräfteverhältnisse in den Sowjets etc.), sei es entscheidend gewesen, wie sich diese Frage in der ArbeiterInnenklasse entwickelt – im Juli seien die Arbeiter und Soldaten noch nicht bereit gewesen, für den Umsturz „zu kämpfen und zu sterben“. Bis zum Oktober veränderte sich die Situation im Hinblick auf den Aufstand der Klasse : „Nun das stille Verzweifeln der Massen, die fühlen, dass weitere Halbmaßnahmen nichts mehr helfen, dass die Regierung nicht mehr beeinflussbar ist, dass der Hunger alles wegfegen wird, alles anarchistisch zusammenbricht – wenn die Bolschewiki nicht wissen, wie sie uns in den entscheidenden Kampf führen“.

Die Frage der Bewältigung der revolutionären Krisensituation, der sozialistischen Lösung des objektiven gesellschaftlichen Krisenprozesses kulminiert letztlich darin, ob es eine bewusste, politisch organisierte Kraft mit sozialistischem Programm gibt, die auf die entscheidenden Momente des gesellschaftlichen Umschwungs vorbereitet ist oder nicht. Offensichtlich war es das Fehlen einer starken kommunistischen Avantgarde, das in den entscheidenden Momenten in der Novemberrevolution in Deutschland, in den „2 roten Jahren in Italien“ oder in der ungarischen Räterepublik wesentlicher Faktor für die letztliche Niederlage war. Lukács führt als aktuelles Beispiel (sein Text erschien 1923) das Versagen der KPD-Führung im Oktober 1923 an – ein weitaus katastrophaleres subjektives Versagen als 1919. Trotz schwerer politischer und ökonomischer Krise UND einer diesmal vorhandenen revolutionären kommunistischen Partei wurde die Frage des Aufstandes von vorne bis hinten in den Sand gesetzt.

Der subjektive Faktor ist natürlich nicht nur in den entscheidenden Momenten der Zuspitzung von Bedeutung. Viele kleinere Momente zuvor können entscheidende Weichenstellungen dafür sein, ob es denn dann, wenn es darauf ankommt, eine organisierte Avantgarde gibt. Lukács zitiert aus den Thesen zur Organisation des dritten Komintern-Kongresses: „Es gibt keinen Moment, in dem eine kommunistische Partei nicht aktiv ist“, d.h., es gebe eben keinen Moment, in dem der subjektive Charakter des gesellschaftlichen Prozesses völlig fehlt, es daher nicht möglich wäre, aktiv die subjektiven Momente im Prozess zu beeinflussen. Schließlich komme es nach der Machtübernahme noch viel mehr auf das subjektive Moment der kommunistischen Partei an: nicht nur in Fragen des Kampfes gegen die Wiederherstellung der alten Ordnung, sondern auch an entscheidenden Punkten, in denen es um Weichenstellungen zur Überwindung der Überreste der kapitalistischen Ökonomie geht.

Insofern ist es klar, dass die Erfahrung der Oktoberrevolution die marxistische Revolutionstheorie erweitern muss. Nicht nur die Zerschlagung des bürgerlichen Staates, die Bildung von Räten und die Durchsetzung von Räteherrschaft sind unumgänglich – eine erfolgreiche proletarische Revoltution bedarf auch einer kommunistischen Partei, die sich der revolutionären Aufgaben bewusst ist, die in der Avantgarde der Klasse verankert ist und der es gelingt, im entscheidenden Moment die Mehrheit der Klasse für den Aufstand zu gewinnen.

Natürlich ist Lukács Theorie des Moments das glatte Gegenteil von Gramscis „Stellungskriegsformel“ (zumindest wie dies Gramscis heutige Epigonen verstehen). Die Vorstellung, man könne durch radikale Reformpolitik die bürgerliche Hegemonie graduell schwächen und eigene Bastionen Stück für Stück ausbauen, verkennt nämlich, wie schnell beim Verpassen bestimmter Momente das allgemeine Rollback auch sicher geglaubte „Bastionen“ wieder wegräumt. Man denke nur an den Moment nach dem siegreichen OXI-Referendum in Griechenland 2015 und den Niedergang des Widerstands gegen das EU-Diktat nach dem Einknicken der Syriza-Regierung. Statt dass der „Machterhalt“ der Syriza-Regierung, wie es von den Transformisten erhofft wurde, zu einer „Kräfteverschiebung“ im EU-Krisenregime geführt hat, hat der Verzicht auf das Risiko des zugespitzten Zusammenstoßes mit den EU-Institutionen und die Perspektivlosikeit solcher „linken Alternativen“ inzwischen europaweit eine Kräfteverschiebung nach rechts vorbereitet.

Die Partei und das Klassenbewusstsein des Proletariats

Lukács begründet die zentrale Bedeutung der Partei für die Frage der proletarischen Revolution noch aus einem anderen Aspekt: der Entwicklung des proletarischen Klassenbewusstseins selbst. Es braucht nicht wiederholt zu werden, dass schon Marx und Engels eine Unterscheidung vornehmen zwischen dem tatsächlichen, empirisch vorhandenen Bewusstsein der einzelnen ArbeiterInnen, „dem, was dieser oder jener Proletarier denkt“, und dem Bewusstsein, das dem Klassenstandpunkt des Proletariats gemäß wäre, „dem, was das Proletariat aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung zu tun gezwungen ist“. Lukács selbst hat in „Geschichte und Klassenbewusstsein“ eine ausführliche Analyse für die materielle Befestigung bürgerlicher Ideologie in der Klasse geliefert, und zwar durch das Konzept der „Verdinglichung“ – also der mit dem Waren- und Geldfetisch in der kapitalistischen Ökonomie eingeübten Verhaltensweisen, die die Gesetzmäßigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft genauso verschleiern, wie sie das gewöhnliche Arbeiterbewusstsein auf Lohnfetisch und den „gerechten“ Staat beschränken.

Dieses Bewusstsein wird nur durch einschneidende historische Erfahrungen, durch Zuspitzung von Kämpfen etc. so erschüttert, dass es aufnahmebereit für eine auf dem eigenen gesellschaftlichen Sein beruhende Gesamtsicht auf die bürgerliche Gesellschaft ist. „Das gesellschaftliche Sein stellt den einzelnen Arbeiter unmittelbar nur in den Kampf mit einem gewissen Kapital, während das proletarische Klassenbewusstsein erst Bewusstsein für sich wird, wenn es das Wissen um die bürgerliche Gesellschaft in ihrer Totalität einschließt“ (52).

Dies schließt also die Fragen der Politik und des Staates genauso ein wie die Frage der Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft. Insofern wiederholt auch Lukács die Lenin’sche Formel von der Notwendigkeit, das Klassenbewusstsein „in die Klasse zu tragen“ als zentrale Aufgabe der kommunistischen Partei. Natürlich stellt Lukács dazu die Frage, wie die Partei selbst dieses Bewusstsein erlange. Dazu macht er klar, dass die Entwicklung von Klassenbewusstsein ein Prozess ist, in dem Partei und Klasse die bewegenden Momente sind. D. h., dass natürlich auch die Partei nicht von Anfang an „vollständig entwickeltes“ Klassenbewusstsein haben kann, dass es immer wieder Momente gibt, in denen Klassenaktionen weit über das Parteibewusstsein hinausgehen. Dass es also auch hier „Momente“ gibt, in denen wesentliche Entwicklungsschritte sehr schnell vorangehen, während es nach Zeiten der Rückschläge oft nur auf die Bewahrung der Erfahrungen in der kommunistischen Organisation ankommt. Oft sind auch Rückschläge und Niederlagen wesentlich für das Vorantreiben des Klassenbewusstseins, wenn die Ursachen der Niederlage schonungslos erfasst werden (siehe z. B. die große Weiterentwicklung der kommunistischen Auffassungen vom Staat nach der Niederlage der Pariser Kommune).

Als zentrale Errungenschaft des Leninismus erkennt Lukács die Bedeutung von „organisatorischen Formen“ als Vermittlungsformen zwischen dem in aktuellen Arbeiterkämpfen entwickelten Bewusstsein und dem notwendigen Klassenbewusstsein. „Die organisatorischen Formen des Proletariats, allen voran die Partei, sind die tatsächlichen Vermittlungsformen, in denen und durch die sich das Bewusstsein entwickelt, das seinem gesellschaftlichen Sein entspricht“ (53).

Die organisatorischen Formen sind es, in denen sich die vergangene Erfahrung der Klasse genauso verkörpert wie die Entwicklung der eigenen Stärke in aktuellen Kämpfen. Durch das Aufstellen von Forderungen, die den unmittelbaren Klasseninteressen entsprechen, kann sich das Proletariat in der Erfahrung der Kampfergebnisse ein immer besseres Verständnis der eigenen Lage und der notwendigen nächsten Schritte erarbeiten. Letztlich ist es das Programm der Partei, das für den gegenwärtigen Moment die zentralen Forderungen, Lehren und organisatorischen Aktivitäten zusammenfasst, das den höchsten Entwicklungsstand des Klassenbewusstseins zum Ausdruck bringen muss. Lukács zitiert hier Lenin: „Wir Kommunisten sind ein Tropfen im Ozean des Volkes. Wir können nur führen, wenn wir ihm den richtigen Weg aufzeigen“.

Die erste Antwort auf die Frage nach der Aktualität des „Modells Oktoberrevolution“ ist also: Es ist nicht eine Frage der besonderen objektiven Bedingungen oder der außerhalb des zaristischen Russlands schon viel entwickelteren „Zivilgesellschaft“ und der in „entwickelten Kapitalismen“ ungeheuer ausgebauten Hegemonie-Mechanismen, die seither eine Wiederholung des „Oktober-Ereignisses“ so schwierig gemacht haben – es ist vor allem eine Frage des subjektiven Faktors, d.h. die Frage einer den objektiv krisenhaften Bedingungen gewachsenen revolutionären kommunistischen Partei, die in der Lage wäre, die revolutionären Massen auch zu führen. Diese Betonung der Bedeutung einer das proletarische Klassenbewusstsein in entschlossener, revolutionärer Praxis zum Ausdruck bringenden Partei ist der entscheidende Bruch mit der Tradition des Marxismus der Zweiten Internationale.

Auch die linkesten TheoretikerInnen aus letzterer Tradition wie Rosa Luxemburg waren zwar keine VertreterInnen einer „Spontaneitätstheorie“, die ihnen später untergeschoben wurde. Sie vertrauten aber darauf, dass der Druck der objektiven Entwicklung und die spontane Radikalisierung der Massen die gesamte ArbeiterInnenbewegung nach links, zur Revolution stoßen würde – entweder indem sie die zögerlichen FührerInnen zu mehr Entschlossenheit treiben oder rasch durch geeignetere ersetzen würde. Das erklärt auch, warum bei Luxemburg einerseits sehr früh überaus weitsichtige und pointierte Kritiken am Revisionismus wie auch am „marxistischen Zentrum“ Kautskys zu finden sind, andererseits aber viel später und inkonsequenter ein Bruch mit dem sich formierenden Reformismus erfolgt.

Im 1909 erschienenen „Der Weg zur Macht“, also beim „orthodoxen“ Kautsky, bleibt die Frage offen, auf welche Organe sich die Regierung in einer Revolution und beim Übergang zum Sozialismus stützen solle. Den größten Teil des Buches widmet Kautsky vielmehr der Darstellung der objektiven Entwicklungstendenzen, die den Eintritt in eine neue Periode der revolutionären Umwälzung verkünden würden. Programmatisch bleibt der Text aber gerade angesichts dieser Prognose äußerst vage. Als einziges klares Ziel wird die „demokratische Republik“ formuliert, für das in der kommenden Periode auch mit revolutionären Mitteln (Generalstreik) gekämpft werden müsse, was schon allein heftige Ablehnung von Seiten des Parteivorstandes und der Gewerkschaftsführungen hervorrief.

Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kausky selbst eine Regierung auf parlamentarischer Ebene nicht ausgeschlossen hat, sondern im Grunde auch als Ergebnis einer „Revolution“ nahegelegt. Die Lehren der Kommune spielen in „Der Weg zur Macht“ eigentlich keine Rolle. Die Revolution und der Übergang zum Sozialimus werden vielmehr als eine langgezogene Periode gradueller Machtverschiebungen im Staat vorgestellt: „Anfangs der neunziger Jahre habe ich anerkannt, dass eine ruhige Weiterentwicklung der proletarischen Organisationen und des proletarischen Klassenkampfes auf den gegebenen staatlichen Grundlagen das Proletariat in der Situation jener Zeit am weitesten vorwärts bringe. Man wird mir also nicht vorwerfen können, es sei das Bedürfnis, mich in Rrrevolution und Rrradikalismus zu berauschen, wenn mich die Beobachtung der heutigen Situation zu der Anschauung führt, dass die Verhältnisse seit dem Anfang der neunziger Jahre gründlich geändert sind, dass wir alle Ursache haben, anzunehmen, wir seien jetzt in eine Periode von Kämpfen um die Staatseinrichtungen und die Staatsmacht eingetreten, Kämpfen, die sich unter mannigfachen Wechselfällen durch Jahrzehnte hinziehen können, deren Formen und Dauer vorläufig noch unabsehbar sind, die aber höchst wahrscheinlich bereits in absehbarer Zeit erhebliche Machtverschiebungen zugunsten des Proletariats, wenn nicht schon seine Alleinherrschaft in Westeuropa herbeiführen.” (54)

Im Gegensatz zu späteren Schriften schließt Kautsky 1909 noch jede Koalition mit bürgerlichen Parteien kategorisch aus, aber auch in seiner „orthodoxen Phase“ wird die Revolution als eine lang gezogene Reihe von „Kräfteverschiebungen“ gedacht, in der es dem Proletariat vor allem darum gehen müsse, immer organisierter zu werden, den Staat immer mehr zu demokratisieren und „verfrühte“ Zusammenstöße zu vermeiden. Im Wesentlichen kehrt der „Transformationismus“ zu diesen Ideen Kautskys zurück.

Lenin und die Bolschewiki haben auf dem Weg zur Oktoberrevolution radikal mit diesem Gradualismus, dieser Nachtrabpolitik, dem bloßen Warten auf das spontane Voranschreiten des Proletariats, dem Warten auf das Werk des „Prozesses“ gebrochen. Insofern hat Korsch vollkommen Recht, dass damit eine „neue Entwicklungsstufe“ des Marxismus erreicht wurde. Dies war nicht einfach nur der organisatorische Bruch mit dem Reformismus, wie er sich im Verrat von 1914 gezeigt hatte – es war ein viel fundamentalerer Bruch in der marxistischen Methode selbst. Die revolutionäre ArbeiterInnenorganisation kann nicht mehr eine Vereinigung verschiedener „mehr oder weniger marxistischer“ Funktionäre und Strömungen sein, sie muss eine geschlossene Einheit mit klarem methodisch begründeten Programm sein, das sie zur Führung der Revolution, zum entscheidenden Faktor in den Wendepunkten der revolutionären Entwicklungen macht.

Exkurs: Zizek  – Vom Ergreifen des Moments zum Rückfall in die Nachtrabpolitik

Slavoj Zizek macht in seinen „Dreizehn Versuche über Lenin“ (55) die Radikalität des Bruchs deutlich, der auch viele der Bolschewiki, die noch in der Tradition der Zweiten Internationale dachten, noch im April 1917 völlig vor den Kopf stieß: „Man kann das explosive Potential von ‚Staat und Revolution‘ gar nicht hoch genug einschätzen. In diesem Buch wurde das Vokabular und die Grammatik der westlichen Politiktradition abrupt dispensiert“ (56) – wobei mit „westlicher Politiktradition“ die gesamte, in der parlamentarischen und gewerkschaftlichen bürgerlichen Normalität denkende Adaption des Marximus der Zweiten Internationale gemeint ist. Dieser Bruch war nicht nur in Westeuropa heftig gewesen – auch für russische „Sozialdemokraten“ war es verblüffend:

„Als Lenin 1917 in seinen ‚Aprilthesen‘ den Augenblick erkannte, die einmalige Chance für die Revolution, wurden seine Vorschläge von der großen Mehrheit seiner Parteigenossen mit Fassungslosigkeit und Verachtung aufgenommen. Innerhalb der bolschewistischen Partei unterstützte keiner der Führer seinen Aufruf zur Revolution, und die Prawda tat den ungewöhnlichen Schritt, dass sich die Partei und die Herausgeber insgesamt von Lenins ‚Aprilthesen‘ distanzierten. … Bogdanow charakterisierte die ‚Aprilthesen‘ als das ‚Delirium eines Wahnsinnigen‘ und Nadeschda Krupskaja selbst kam zu dem Schluss: ‚Ich fürchte es sieht so aus, als sei Lenin verrückt geworden’“ (57).

Wie Zizek ausführt, war diese radikale Wendung Lenins offenbar auf eine lange Auseinandersetzung mit dem Charakter der Epoche (Imperialismustheorie) und dem darin begründeten Wesen des reformistischen Verrats zurückzuführen, aber auch auf die Erkenntnis, welcher entscheidende Moment mit der Februarrevolution aufzog, der zu einer Wende der Ereignisse nicht nur in Russland, sondern in der imperialistischen „Gesamtkette“ führen konnte.

Auch wenn in der Partei selbst viele noch nicht so weit waren – es war gerade das massenhafte Aufbrechen der sich selbst organisierenden Proletarier und Bauern, das Misstrauen gegenüber den halbgaren Antworten auch der „Marxisten“, was Lenins Thesen außerhalb der Partei so ungeheur populär machte. Hier funktionierte also die revolutionäre Dialektik von den Momenten der Entwicklung des Klassenbewusstseins über die Wechselwirkung zwischen den Polen Partei und Massenbewegung. Erst dieser Konflikt machte die bolschewistische Partei zu dem entschlossenen, bewussten Subjekt, das für den Weg zum Roten Oktober bereit war. Die Althusser’sche Behauptung aus „Für Marx“, die weiter oben zitiert wurde, dass zu den vielen „Überdeterminiertheiten“ der Oktoberrevolution auch gehöre, dass in dieser Periode die Bolschewiki als „stählerne Kette ohne schwaches Glied“ aufgetreten seien, ist also reiner Geschichtsmythos (aus der stalinistischen Mottenkiste).

Dies ist nochmal umso bedeutsamer, als diese Fähigkeit der Entwicklung der revolutionären Subjektivität ja offenbar nach Lenins Tod, nach der Degeneration der Kommunistischen Partei Russlands ab 1923 Schritt für Schritt verloren ging. Die Bürokratisierung des Parteiapparates, die faktische Diktatur über die Sowjets, die Zentralisierung von immer mehr Macht in den Händen des Generalsekretariats etc. führten auch dazu, dass immer weniger Impulse von außen das immer geistlosere Gefüge im Inneren erreichen konnten.

Mit dem Niedergang der revolutionären Praxis der Sowjetführung, ihrem Versagen in der Kominternführung wurde auch das Konzept der „marxistischen“ Politik wieder immer mehr ins Denken der Tradition der Zweiten Internationale zurückgeführt. Letztlich ist der Kampf gegen die „Theorie der permanenten Revolution“ Trotzkis, die eigentlich eine Systematisierung der „Aprilthesen“ in globalem Maßstab darstellte, nichts anderes als die letzte ideologische Schlacht um die Reetablierung der Nachtrabpolitik, mit der das Warten auf die stetig und unaufhaltsam wachsende „Sowjetmacht“, die strategische Beschränkung auf die gerade objektiv mögliche „Etappe“ etc. wieder zum Grundprinzip des Denkens der „Kader“ und der „Führung“ wird. Tragischerweise wurden die Form und die Sprechweise von „Sowjets“ bis hin zum „Marxismus-Leninismus“ beibehalten – der Inhalt war jedoch formelhaft entkernt und auf das Niveau der Diktatur der Stalin-Bürokratie abgesunken.

Diese Degeneration des subjektiven Faktors, die seit 1923 nicht wirklich überwunden werden konnte – auch nicht durch die nie zur Massenkraft gewordenen Versuche Trotzkis und seiner Nachfolger, eine Vierte Internationale zu begründen -, ist das Hauptproblem, dass trotz immer wieder gegebener Krisenperioden und möglicher Wendepunkte der Geschichte ein erneutes „Oktober-Ereignis“ nicht mehr möglich war. Insofern kann nur auf das Eingangsstatement des „Übergangsprogramms der Vierten Internationale“ von 1938 aus der Feder Leo Trotzkis verwiesen werden: „Die objektiven Voraussetzungen der proletarischen Revolution sind nicht nur schon ‚reif‘, sie haben sogar bereits begonnen zu verfaulen. Ohne sozialistische Revolution… droht die ganze menschliche Kultur in einer Katastrophe unterzugehen. Alles hängt ab vom Proletariat, d. h. in erster Linie von seiner revolutionären Vorhut. Die historische Krise der Menschheit ist zurückzuführen auf die Krise der revolutionären Führung“ (58).

Insoferne sind auch die „unorthodoxen“, scheinbar mit dem stalinistischen Schematismus brechenden Ansätze von Althusser oder die auf Gramsci sich beziehenden Theorien im besten Fall eine Rückkehr zu einer „linken“ Methode aus der Periode der Zweiten Internationale. Obwohl sie offenbar die Verfaultheit und Inhaltsleere der „marxistisch-leninistischen Orthodoxie“ zu überwinden scheinen, scheuen sie vor dem radikalen Bruch mit den Methoden des „beschaulichen Marxismus“ – hin zu einer radikalen revolutionären Subjektivität zurück, ein Bruch, der heute sicher nicht weniger „verrückt“ oder „dem Delirium entsprungen“ erscheint als das, was Lenin im April 1917 vertrat. Was bei diesen scheinbar „neuen Ansätzen“ herauskommt, ist bestenfalls eine Variante von Kautskys Transformationsillusionen, vor allem aber eine methodische Entkernung des Marxismus, die ihn jeder revolutionären Dialektik beraubt. Indem sie die Leiche des degenerierten Kommunismus auch noch zum modischen Zombiewesen machen, sind sie jedoch nur ein weiteres Hindernis dafür, dass eine wirklich revolutionäre Alternative aufgebaut werden kann.

Zur Diskussion über Räteherrschaft und die Bedeutung von Sowjets in der sozialistischen Revolution

Die zweite wesentliche Frage für die Aktualität des Modells Oktoberrevolution lautet, wie sehr die Erscheinungen von Rätebewegungen, Rätedemokratie als Alternative zur bürgerlichen Demokratie und die Möglichkeit der Räteherrschaft über die Periode der Oktoberrevolution hinaus in jeder revolutionären Periode grundlegend für eine sozialistische Umwälzung der Gesellschaft sind. Besonders ausführlich diskutiert und dokumentiert wurden diese Fragen in der Periode der Novemberrevolution in Deutschland. Der Grund: Hier gab es das außerhalb Russlands wohl entwickeltste und massenhaft verbreiteteste Beispiel von Rätedemokratie – und aufgrund des höheren ökonomischen Entwicklungsstandes Deutschlands auch mit einem größeren Modellcharakter für entwickelte kapitalistische Länder.

Bekanntlich ging die Hauptauseinandersetzung um die Frage der Doppelmacht zwischen Arbeiterräten und bestehendem bürgerlichen Staatsapparat: ein Punkt, dessen Nicht-Lösung (auch aufgrund der geringen Kraft der noch kleinen KPD) die Rätemacht letztlich in Deutschland scheitern ließ. Für die Fragestellung hier ist aber zunächst interessanter, wie sich insbesondere in der linken Avantgarde die Diskussion über die Realisierung der Rätemacht nach einer Errichtung der proletarischen Diktatur entwickelt hat. Denn auch innerhalb der Vertreter des „reinen Rätesystems“, also derjenigen, die das Rätesystem als unabhängiges Mittel zum Kampf für die Diktatur des Proletariats und zur Zerschlagung der bürgerlichen Herrschaftsapparate sahen, sowie zwischen ihnen und der KPD gab es unterschiedliche Auffassungen vom Weg zur Macht, der Ausgestaltung von Rätedemokratie und dem, wie Räteherrschaft nach der Machtübernahme aufgebaut werden müsse.

Die Entwicklung der Rätebewegung während der Novemberrevolution

Die frühe KPD hatte bis zur Erfahrung der Niederschlagung der Januarkämpfe eine eher spontaneistische Haltung zur Rätefrage – d. h., sie stellte zwar die Losung „Alle Macht den Räten“ in den Mittelpunkt ihrer Agitation, vernachlässigte jedoch den Kampf um die Führung in den Räten bzw. nahm an, dass der sozialdemokratische Einfluss in den Räten durch den Gang der Ereignisse wie von selbst überwunden werden könne. Danach kämpfte sie für „echte“, revolutionäre Räte, die rein auf der Basis von Betrieben gewählt werden, die Produktionskontrolle ausüben, sich gegen jede kapitalistische Regierung wehren sollten. „Alle Gegner der Räte, insbesondere die SPD-Anhänger“ sollten hinausgeworfen werden (59).

Tatsächlich waren die Rätewegungen sehr heterogen. In vielen Gegenden wurden Räte nicht nach dem Betriebsprinzip gewählt, sondern einfach aus SPD- oder/und USPD-AktivistInnen zusammengesetzt. In radikalen, proletarischen Zentren waren sie oft von linken USPD-AktivistInnen und revolutionären Obleuten (dem radikalen Kern der Rätebewegung, der sich aus den Streikleitungen während des Ersten Weltkrieges gebildet hatte) geführt. Auf nationaler Ebene ergab sich jedoch eine SPD-Mehrheit, die sich insbesondere beim ersten Reichs-Rätekongress (16.-21.12.1918) fatal auswirkte. Statt die mit dem Novemberumsturz errichtete Doppelmacht von Zentralrat und Reichsregierung aufzulösen, beschloss er, vor allem durch die Mehrheit in den Soldatenräten, dass die Räte nur als Übergang zu einer nach allgemeinem Wahlrecht bestimmten Nationalversammlung dienen sollten. Die Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung am 19.1.1919 und die Niederschlagung des Januaraufstandes (5. bis 12. Januar) waren entscheidende Momente für die Wiederetablierung der bürgerlichen Ordnung. Der Januaraufstand war sicher wie die Juli-Kämpfe 1917 in Russland das Beispiel, wie ein revolutionärer Aufstand zur Unzeit auf die Tagesordnung gesetzt werden kann. Der politische Rückhalt fehlte noch für eine solch weitreichende Aktion in den Räten. Im Unterschied zu den Bolschewiki vermochte es die gerade erst gegründete KPD jedoch nicht, sich an die Spitze der zum Losschlagen bereiten ArbeiterInnenavantgarde zu stellen und sie davon zu überzeugen, dass die Situation für den Aufstand noch zu unreif war, zu sagen, dass ein eventueller Erfolg des Aufstandes nicht zu verteidigen gewesen wäre, ohne sich zuvor den Rückhalt dafür in den Räten durch die Erlangung von deren Mehrheit verschafft zu haben. Dieser Fehler der KPD hatte nicht nur verheerende Folgen für die Stärkung der bürgerlichen Repressionsorgane. Es kostete auch auf tragische Weise das Leben der wichtigsten FührerInnen, Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts.

Der nach diesen Ereignissen begonnene Kampf um die Revolutionierung der Räte mit den oben genannten Programmpunkten, zusammen mit der USPD-Linken (den Vertretern des „reinen Rätesystems“), war bereits fast zu spät. Es gelang zwar, wichtige Positionen zu erkämpfen und nach langem Hinhalten auch einen zweiten Reichsrätekongress (8.-14.4.1919) zu erzwingen und dort zu verhindern, dass sich die politischen Räte zugunsten der Nationalversammlung auflösten. Doch die Mehrheit der SPD im Zentralrat konnte nicht gebrochen werden, so dass die politischen Räte als Doppelmachtorgane langsam abstarben. Nur während des Kapp-Putsches und in den folgenden Kämpfen erhielten sie noch einmal kurz (bis April 1920) eine wichtige Kampffunktion. Dagegen wirkten die wirtschaftlichen Räte im Sinne der Produktionskontrolle in wichtigen Industriebereichen noch das ganze Jahr 1919 unvermindert fort. Erst im Februar 1920 wurden sie durch die Etablierung des Betriebsrätegesetzes in den Rahmen der bürgerlichen Ordnung zurückgestutzt – auch dies erst nach einem langen politischen Kampf, in dem USPD und KPD zumeist zusammenwirkten (im Januar 1920 bei einer Massendemonstration von USPD und KPD mit über 100.000 TeilnehmerInnen vor dem Reichstag wurde das Feuer eröffnet und Ebert ließ den Ausnahmezustand ausrufen). Trotzdem konnte sich die KPD, besonders nach ihrer Vereinigung mit der linken USPD im Dezember 1920, auch über die Arbeit in diesen zurechtgestutzten Betriebsräten bis 1923 stark verankern, so dass bei der neuerlichen revolutionären Zuspitzung Mitte 1923 tatsächlich wieder die Möglichkeit einer auf Räten (diesmal mit starkem kommunistischen Einfluss) beruhenden ArbeiterInnenregierung gegeben war.

Aus der Geschichte der Rätebewegung in der Novemberrevolution und der Intervention der KPD in diese Bewegung lassen sich Diskussionen um folgende drei zentrale Fragestellungen veranschaulichen:

  • Sind Räte notwendigerweise (anfänglich oder in ihrer Entwicklung) revolutionär, muss um die politische Führung gekämpft werden, wie steht es mit Parteien innerhalb der Räte vor und nach der Revolution?
  • Was sind überhaupt Räte, wie sehr verändern sie sich selbst in ihrer Form im Verlaufe einer revolutionären Situation?
  • Welche Strukturen braucht ein Rätesystem sowohl im geographischen Sinn wie auch in Bezug auf politische und wirtschaftliche Fragen; war die Trennung in der deutschen Rätebewegung zwischen politischen ArbeiterInnenräten und wirtschaftlichen Betriebsräten notwendig?

Der Kampf um die revolutionäre Führung in den Räten

Ein großer Teil der Linken in der Novemberrevolution, anfänglich selbst in Spartakus/KPD, sah zuerst in den Räten selbst die Antwort auf die Frage der Revolution. In der spontaneistischen Tradition von Luxemburg und Pannekoek erwartete man aus der Erfahrung der wirklichen Demokratie der Räte gegenüber der entfremdeten bürgerlich-parlamentarischen Demokratie und der Konfrontation, die den ArbeiterInnen von der Reaktion aufgezwungen werden würde, dass die Proletarier in den Räten die Notwendigkeit der vollständigen Machteroberung und der Errichtung der Diktatur des Proletariats als Räteherrschaft schon von selbst erkennen würden. Luxemburg beharrte auch in der KPD-Programmdebatte zur Frage der Räte darauf, dass die KommunistInnen nur das „Sprachrohr der Massen“ in diesem Prozess sein könnten (60) und die Errichtung der Diktatur des Proletariats nur „das Werk der Klasse und nicht einer kleinen, führenden Minderheit im Namen der Klasse“ sein dürfe (61). Es überrascht daher nicht, dass viel zu spät erkannt wurde, dass sich die Räte im Wesentlichen weiterhin im Rahmen der sozialdemokratischen Hegemonie entwickelten und von sich aus zwar einzelne Schritte vorwärts, aber letztlich qualitativ keinen Sprung zu wirklich revolutionären Räten vollzogen. Als die KPD dazu überging, den politischen Kampf in den Räten aufzunehmen, ja, um die Führung der Räte zu kämpfen, war es schon fast zu spät.

Als dann die Parteiführung Ende 1919 die Niederlage der Rätebewegung konstatiert und den Rückzug auf den politischen Kampf inklusive Beteiligung an Parlamentswahlen antrat, spaltete sich ein beträchtlicher Teil des linken Flügels der KPD ab und gründete später die sogenannte „rätekommunistische“ KAPD (Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands). Das Interessante daran ist, dass einer der führenden Köpfe dieser Abspaltung, Anton Pannekoek (zusammen mit Otto Rühle), die Differenz genau auf der Grundlage der alten spontaneistischen Theorie Luxemburgs begründete. Nicht nur das: Die Niederlage der Novemberrevolution gegenüber dem Sieg der Oktoberrevolution begründete Pannekoek sehr ähnlich wie Gramsci. Das viel entwickeltere bürgerliche System samt Partei- und Gewerkschaftsbürokratie, die entwickelteren bürgerlichen Institutionen etc. hätten sich so fest in die Hirne der ArbeiterInnen gebrannt, dass sie sich auch in der Revolution in ihrer Entwicklung und Entschlossenheit gehemmt gesehen hätten. Pannekoek zieht aber die gegenteilige Konsequenz von der, wie sie Gramsci unterstellt wird (möglicherweise meinte der aber angesichts seiner Räteerfahrungen mit dem „Stellungskrieg“ sogar etwas Ähnliches!): dass die Rätebewegung der einzige Weg zur „Entwicklung des Selbstbewusstseins“ (62), zum Brechen der ideologischen Bevormundung und zur politischen Handlungsfähigkeit des Proletariats sein könne. Trotz des Niedergangs der Rätebewegung sollten KommunistInnen daher vorrangig ihre Weiterentwicklung und Radikalisierung betreiben – und die „Parteiform“ als bürgerliches Element, das selbst an der Fremdbestimmung der Proletarier mitschuldig sei, aufgeben, um sich „räteartig“ zu organisieren. Die „Arbeiter-Unionen“, die die RätekommunistInnen anstelle von Partei- und Gewerkschaftsorganisationen setzten (z. B. AAUD, AAU-E), sollten die Räteform bewahren und bei Bedarf wieder zu Kernen einer neuen Rätebewegung werden. Auch wenn sie zu Zeiten erhöhter Massenaktivität Anfang der 20er Jahre großen Zulauf bekamen, verfielen sie nach dem Abebben der revolutionären Welle nach 1923 in bedeutungsloses Sektierertum.

Auch die größte der linken Strömungen in der Novemberrevolution, die linke USPD, die zumindest wichtige ArbeiterInnenräte, wie in Berlin, anführte, hatte letztlich eine ebenso passive Hoffnung auf den unausweichlichen Marsch der Massen nach links. Die führenden Köpfe, wie der Sprecher der revolutionären Obleute, der Metallarbeiter Richard Müller, oder der spätere USPD-Vorsitzende Ernst Däumig entwickelten das Konzept des „reinen Rätesystems“ (63). Einerseits lehnten sie, anders als die rechte USPD (um Kautsky und Haase), die Koexistenz von Räten und parlamentarisch-bürgerlichem Staatsapparat ab, insofern sollte das „reine Rätesystem“ sich der Doppelherrschaft mit den bürgerlichen Institutionen entledigen. Allerdings stellte man sich dies andererseits zugleich als einen Prozess vor, in dem irgendwann die Mehrheit dafür in den Räten gewonnen werden würde (Däumig stellte auch einen entsprechenden Antrag auf dem ersten Reichsrätekongress, der aber leider abgelehnt wurde). Entscheidend für letzteres hielten Däumig und GenossInnen, dass sich die Räte als „Organe der Zusammenfassung des Proletariats oberhalb der Parteien“ bilden sollten (ähnlich wie Gramsci in seiner Gegenüberstellung von Räten und Partei), dass in den Räten „keine Parteipolitik zu betreiben ist, sondern revolutionäre Arbeiterpolitik“ (64). Das reine Rätesystem sollte also auch „rein“ von Parteien und ihrem Führungsanspruch sein. Leider aber gaben die Mehrheits-Sozialdemokraten ihren Führungsanspruch doch nicht auf!

Ganz offensichtlich wird hier, dass mehr oder weniger bei allen linken Strömungen der deutschen ArbeiterInnebewegung 1918/1919 der dialektische Zusammenhang von revolutionärem Prozess, Herausbildung von Klassenbewusstsein im Proletariat und den Vermittlungsformen von Partei und Räten nicht verstanden wurde. Einerseits wurde ein mechanisch-spontaneistischer Zusammenhang von revolutionärer Zuspitzung, Entwicklung von Klassenbewusstsein und Radikalisierung der Räte angenommen. Andererseits wurde die Räteform selbst abstrakt abgehoben von ihren historisch-politischen Entstehungsbedingungen verstanden und idealisiert, ohne sie selbst auch in ihrer Form als ein grundsätzlich zu veränderndes Kampffeld zu begreifen.

Trotzki steckt dieses Kampffeld im Übergangsprogramm sehr klar ab: Sowjets sind zunächst klar zu unterscheiden von bloßen „Fabrikkomitees“, die ein Element der Doppelmacht in einem Betrieb sein mögen (65). Die Frage der Doppelmacht im ganzen Land, die eine Rätebewegung stellt, entwickelt sich jedoch nicht einfach stetig aus solchen Fabrikkomitees: „Sowjets können nur dort entstehen, wo die Massenbewegung in ein offen revolutionäres Stadium eintritt. Als Angelpunkt, um den sich Millionen von Arbeitern in ihrem Kampf gegen die Ausbeuter sammeln, werden Sowjets vom ersten Augenblick ihres Erscheinens an zu Rivalen und Gegnern der örtlichen Behörden und schließlich der Zentralregierung selbst“. Mit der spontanen Stellung der Machtfrage auf einer viel allgemeineren Ebene ändern sich auch der Charakter und die Zusammensetzung gegenüber den übersichtlichen Fabrikkomitees: „Die Sowjets sind a priori an kein Programm gebunden. Sie öffnen allen Ausgebeuteten ihre Türen. Die Vertreter aller Schichten, die in den allgemeinen Strom des Kampfes hineingezogen werden, finden Eingang in sie. Die Organisation erweitert sich mit der Bewegung und erneuert sich dadurch ständig. Alle politischen Richtungen des Proletariats können um die Führung der Sowjets auf der Basis der breitesten Demokratie kämpfen“.

Die Vorstellung, dass vereinzelte Fabrikkomittees mit Produktionskontrolle in „friedlichen Zeiten“ so etwas wie „sowjetische Keimzellen“ darstellten, geht genauso am Sowjet-Begriff vorbei wie die, dass sich nach dem Niedergang einer Rätebewegung diese durch „Arbeiter-Unionen“ als Keimzellen irgendwie am Leben halten ließen. Sowjets sind Ausdruck extrem zugespitzter revolutionärer Situationen, in denen das herrschende System derart erschüttert ist, dass spontan massenhafter Zustrom zu Basiskomitees der Protestbewegung tatsächlich zu so etwas wie vernetzten Gegenmachtinstitutionen führt. In allen tatsächlich zugespitzten revolutionären Situationen haben sich früher oder später sowjetartige Organisationsformen herausgebildet (was nicht heißt, dass revolutionäre Situationen nur dann bestehen können, wenn es solche Organe gibt – das revolutionäre Moment kann auch vorher niedergehen oder verpasst werden). Und anfänglich waren solche Organe nie ein Ebenbild von Organisationen mit klarem Plan und vollem Bewusstsein ihrer Aufgaben. Revolutionärer Elan, Begeisterung, endlich selbst die unmittelbaren Probleme besprechen und entscheiden zu können, ersetzen zunächst die notwendige Zielgerichtetheit. Jeder der schon mal den Anfang einer Protestbewegung erlebt hat, erinnert sich vielleicht daran, wie eine der üblichen langweiligen Protestversammlungen altbekannter PolitkaktivistInnen plötzlich von einer nicht geahnten Menge an TeilnehmerInnen überrannt wird und plötzlich die „linken“ AktivistInnen von immer radikaleren Vorschlägen aus der Versammlung geradezu überollt werden.

In größerem Ausmaß geschah dies auch in der Novemberrevolution, als die Räte, die ursprünglich aus Streikkomitees der revolutionären Obleute entstanden waren, zu Massenversammlungen wurden – und an allen Ecken und Enden „Räte nach dem Vorbild der Sowjets“ aus dem Boden schossen. Vielerorts hatte das nur bedingt mit betrieblichen Komitees zu tun und es handelte sich oft eher um Stadtteil- oder Gemeindekomitees. Und natürlich wurde nicht nach der Parteizugehörigkeit gefragt oder eine genaue soziologische Untersuchung über den „Proletarierstatus“ gemacht. Wie Trotzki oben richtig anmerkt, ist gerade in diesem ersten spontan nach vorwärts treibenden Moment Demokratie und Offenheit der Räte richtig und erforderlich, um den Klärungsprozess, der dann einsetzen muss, so umfassend und massenhaft wie möglich zu machen. Räte, die „von Anfang an unter kommunistischer Führung“ stehen, in der „keine nicht-revolutionären Arbeiterparteien geduldet sind“, lassen eher vermuten, dass es sich um Strohpuppen gewisser politischer Akteure handelt – dabei entspricht dies nicht nur stalinistischer Methodik, sondern leider auch der selbsternannter „trotzkistischer“ Strömungen. So behauptete etwa Namuel Moreno, dass es keine Demokratie für nichtrevolutionäre Strömungen in Sowjets geben könne, revolutionäre Räte nur kommunistisch geführte Räte sein könnten (66).

ArbeiterInnendemokratie und der Kampf um die Diktatur des Proletariats

Andererseits wäre es auch eine problematische Verallgemeinerung, aus dieser super-demokratischen und offenen Phase der Räte in der ersten Euphorie ihrer Entwicklung ein allgemeines Prinzip zu machen. So etwa das Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale in seiner grundlegenden Resolution „Sozialistische Demokratie und die Diktatur des Proletariats“ (67). Darin wird ganz allgemein erklärt, im Rätesystem herrsche „ArbeiterInnendemokratie mit dem Recht der Massen, zu wählen, wen immer sie wollen, und die politische Organisationsfreiheit für diejenigen, die die Räteverfassung in der Praxis anerkennen (selbst wenn sie bürgerliche oder kleinbürgerliche Ideologien oder Programme vertreten)“. Alles Einschränken politischer Parteien führe „zu systematischer Einschränkung der ArbeiterInnendemokratie“ und tendiere „unvermeidlich zu einer Einschränkung der Freiheit in der Avantgardepartei selbst“ (68).

Die Frage der ArbeiterInnendemokratie derart abstrakt zu stellen, verkennt, dass sich der zugespitzte Kampf um die Macht natürlich auch in den Räten abspielt und zuspitzt, und zwar zwischen denjenigen, die die Diktatur des Proletariats erkämpfen wollen, und denen, die sie erst bekämpfen oder nach der Revolution beseitigen. Die Reife der Revolution in Russland konnte gerade aus der Verschiebung zwischen Menschewiki und Bolschewiki in den Sowjets abgeleitet werden, wobei (69) zumindest die rechten Menschewiki schon im Vorfeld des Oktoberaufstands zu Recht aus den Sowjets gedrängt wurden (bzw. die Arbeit dort aufgaben). Andererseits verhinderten die Mehrheits-SPDler mit aller Macht, dass andere Parteien ihre Mehrheit besonders in den Reichsorganen der Räte in Frage stellten. Die Forderung der KPD im Februar 1919, die SPD aus den Räten rauszuwerfen, war sicher angesichts der realen Kräfteverhältnisse in den Räten verfrüht und konnte wichtige Teile der ArbeiterInnenschaft nur vor den Kopf stoßen – aber früher oder später hätte eine wirklich revolutionäre Rätebewegung ohne die Marginalisierung der SPD in den Räten unmöglich siegreich sein können.

Produktionskontrolle und politische Macht

Schließlich muss noch die Frage der Räte zur Produktionskontrolle, zur Sozialisierung und den daraus folgenden Organisationsfragen behandelt werden. Die zentrale Errungenschaft der Sowjets ist sicher, dass sie eine Form der Demokratie entwickeln, die unmittelbar die Bestimmung über Produktion, Verteilung und Konsum mit einschließt. Doch wird auch dies in den ersten Phasen jeder Rätebewegung zunächst nur die Ebene der ArbeiterInnenKONTROLLE über wichtige Betriebe, Fragen der Verteilung öffentlicher Güter (z. B. Transport), der Gesundheitsversorgung u. Ä. betreffen. Sie wird kaum sofort zur Zerschlagung des bürgerlichen Eigentums und zu einer vergesellschafteten Ökonomie schreiten. Eine Radikalisierung der Rätebewegung wird jedoch immer zur Ausdehnung der Produktionskontrolle in Richtug auf Planung und Vergesellschaftung fortschreiten. Karl Korsch hat in seinem während seiner Rätezeit geschriebenen Artikel „Grundsätzliches zur Sozialisierung“ dargestellt, dass die Entwicklung der Räteorganisation wesentlich dafür sei, dass eine mit der Diktatur des Proletariats eingeleitete Übergangsgesellschaft tatsächlich eine sozialistische Entwicklung einleiten kann. Diese müsse zwischen den Polen „Staatssozialismus“ und „Produzentensozialismus“ vermitteln. Eine Sozialisierung der Produktion ohne ArbeiterInnendemokratie müsse zwangsläufig die Mechanismen des alten Systems und des staatlich-bürokratischen Zwangsmechanismus wiederherstellen und „Bürokratismus, Schematismus, Ertötung der Initiative und der Verantwortungslosigkeit… Lähmung und Erstarrung“ heraufbeschwören. Andererseits ist eine reine „Sozialisierung von unten“, eine sich „organisch aus den Räten“ entwickelnde Vergesellschaftung auch nur eine Quelle von Partikularismus bestimmter Großbetriebe, Verfestigung alter Arbeitsteilungen, ökonomistischer Verengung auf die am besten rätemäßig organisierten Teile der Ökonomie. Korsch spielt hier auf die Ungleichzeitigkeiten in der Entwicklung der Rätebewegung an, die wohl auch viele wichtige gesellschaftliche Bereiche noch nicht erfasse. Zum Ausgleich dieser Ungleichgewichte, ebenso zur Aufrechterhaltung der Disziplin, gerade auch in komplexen industriellen Großfertigungen, ist daher in den ersten Phasen der Vergesellschaftung eine wichtige ökonomische Funktion auch in der rätedemokratisch kontrollierten Neuschaffung einer staatlichen Verwaltung gegeben. Diese steckt sicherlich wichtige Eckpfeiler für die Frage einer arbeiterInnendemokratisch kontrollierten Planwirtschaft ab.

Korschs Artikel ist einer von vielen Beiträgen während der Novemberrevolution zur Frage der „wirtschaftlichen Räte“ – einer Diskussion, die teilweise mit großem formalistischen Aufwand betrieben wurde (z. B. wurde eine Vielzahl von komplexen Organisationsdiagrammen veröffentlicht – wahrscheinlich eine typisch deutsche Form von „Konkretheit“).

Real ergab sich die Aufspaltung von ArbeiterInnenräten und den Betriebsräten (den „wirtschaftlichen Räten“) eigentlich durch den politischen Niedergang der Rätebewegung, der jedoch auf betrieblicher Ebene noch in Form von mehr oder weniger Produktionskontrolle verzögert erfolgte. Während speziell in der USPD und der KAPD Illusionen in den weiteren Fortschritt der „wirtschaftlichen Räte“ und ihre angebliche Fähigkeit, die Vergesellschaftung „von unten“ voranzutreiben, bestanden, betonten Korsch wie auch die KPD die Unmöglichkeit dieses Programms ohne politische Machtergreifung und Errichtung eines proletarischen Halbstaates. Korsch bekräftigte, wie oben gesehen, dass selbst nach der Machtergreifung die politische Initiative und Führung gegenüber den betrieblichen Räten entscheidend zur wirklichen Überwindung der überkommenen kapitalistischen Strukturen seien. Klar ist auch, dass schon für den Kampf um die Macht eine Dominanz der politischen Räte gegenüber dem reinen Betriebsrätesystem erreicht werden muss. Die KPD entwickelte daher zu Recht ein paralleles Modell der politischen Räte, die nicht einfach einzelne Betriebe, sondern Wirtschaftsregionen nach zentralen gesellschaftlichen Tätigkeitsbereichen repräsentierten (nach Delegiertensystemen aus Betrieben und Stadtteilen und Gemeinden). Über mehrere territorale Stufen bis zum politischen Zentralrat sollten Delegierte mit imperativem Mandat gewählt werden. Auch nach Errichtung der Diktatur des Proletariats sollte dieser Zentralrat, stärker die gesamtgesellschaftlichen Interessen vertretend, das letzte Wort gegenüber dem national von den Betriebsräten gebildeten Wirtschaftsrat in wirtschaftlichen Planungsfragen haben.

Conrad Schuhlers Behauptung in der isw-Broschüre „Kapitalismus oder Demokratie“ (70), die Rätebewegung der Novemberrevolution könne kein Vorbild für die heutige Suche nach Alternativen zur parlamentarischen Demokratie sein, da sie die „Menschen außerhalb der Betriebe“ nicht organisiert habe, also eine reine Vernetzung von Betriebsräten gewesen sei, zeugt also vor allem von geringer Kenntnis der Entwicklung der Räte in der Novemberrevolution wie auch der damaligen Diskussionen um die Räte selbst. Schuhlers Alternative, das „territoriale Prinzip“ und Föderation nach dem Vorbild der Pariser Kommune, fällt um Meilen zurück hinter die Entwicklung der Vermittlung betrieblicher Selbstverwaltung und gesamtgesellschaftlicher Rätekontrolle, wie sie während der Novemberrevolution skizziert wurde. Natürlich passt die „immer umfangreicher werdende Gemeinde-Kommunen-Bewegung“ besser zur unmerklichen Transformation der Gesellschaft, bei der ja irgendwie die Machtfrage nicht so heftig auf die Tagesordnung kommt und irgendwie auch Vergesellschaftung von unten wächst. Selbst die KAPD mit ihren „Unionen als Keinmzellen“ der Rätemacht war da wohl realistischer.

Sozialistische Revolution ohne Sowjets?

So wie die Frage der Partei vom bolschewistischen Typ ist natürlich auch der zweite Aspekt, die zentrale Rolle der Sowjets, ein Punkt, mit dem sich das „Modell Oktoberrevolution“ als etwas Vergangenes, für heutige „radikale Politik“ als nicht mehr anwendbar, ausgeben lässt. Hier muss nicht weiter auf die vielen Strömungen eingegangen werden, die mit dem „Abschied vom Proletariat“ und vom „ArbeiterInnenbewegungsmarxismus“ damit natürlich auch keine Verwendung für ArbeiterInnenräte haben können. Ersatzweise klassenunspezifische „Räten“, die nicht mehr ihre Basis in der Produktion haben, können natürlich nicht im Ansatz die gesellschaftliche Macht des Kapitals herausfordern, wozu tatsächliche Sowjets in der Lage sind. Noch viel weniger können sie Grundlage echter Vergesellschaftung und Durchsetzung einer demokratischen Planung des gesamtgesellschaftlichen (Re-)Produktionsprozeses sein.

Slavoj Zizek, der sich in seiner Gesellschaftskritik in der Tradition von Althusser sieht, beschreibt das Problem anders: Zwar sei das Schicksal der Lohnsklaverei so verbreitet wie nie, gleichzeitig aber auch total „verdrängt“ (71) aus der Öffentlichkeit. Dass die Millionen, die in Fabriken arbeiten, in der postmodernen Kultur wieder zu „Nichtsichtbarkeiten“ wie in der klassischen Kultur geworden seien, ist für Zitek der Ausdruck für das Verschwinden des Proletariats als Subjekt. Der besondere Augenblick zwischen Februar und Oktober 1917 in Russland, der eine beispiellose demokratische Massenbewegung und -diskussion hervorgebracht habe, sei der Moment für das „utopische Modell“ der Räteherrschaft gewesen, so Zizek (72). Seither sei das Proletariat als selbstbewusstes Subjekt von der Bühne getreten, wieder in die vielen, von objektiven Strukturen zerstückelten Formen von Subjektivität zerfallen: „Anstatt nach der verschwindenden Arbeiterklasse zu suchen, sollte man besser fragen: Wer besetzt heute ihre Position als Proletariat, wer ist in der Lage, sie zu subjektivieren?“. Insofern sieht Zizek die „TrotzkistInnen“, die er sonst gegenüber allen Linken als die „konsequenten Nachfolger Lenins“ sieht, dem „Arbeiterklassen-Fetisch“ verfallen (73). Zizek will eine „Rückkehr zu Lenin“, zur „genialen Auffassung des Augenblicks“, wie dieser sie 1917 geleistet hat, zu seiner Erfassung des plötzlichen, unverhofften Auftretens massiver Subjektivität. Außer dass „die Revolution kommt“, dass ein neues Proletariat unvermeidlich auf die Bühne träte, dass Kapitalismus und Demokratie am Scheitern seien, lässt uns Zizek aber im Dunkeln, was daraus abzuleitende Handlungsperspektiven wären.

Sicherlich bedeuten die Veränderungen im Produktionsprozess, die weitere Anonymisierung des Arbeitsprozesses und die jahrelange Zerstörung von radikalen Widerstandstraditionen in den produktiven Kernen der ArbeiterInnenschaft, dass die Bildung von Räten heute ganz andere Gestalten und Verläufe annehmen wird als 1917. Die Bildung der zersplitterten ArbeiterInnenschaft zum massenhaft handelnden Proletariat muss viele subjektive Schranken durchbrechen. Aber auch die enorm rasche Radikalisierung der ArbeiterInnenschaft nach 1917, einer ArbeiterInnenschaft in Russland und ganz Europa, die gerade zu Millionen als reines Schlachtvieh im Weltkrieg herumkommandiert worden war, und dies mit Billigung des allergrößten Teils der einzigen PolitikerInnen, denen sie vertraut hatten, war selbst für viele MarxistInnen eine Überraschung.

Und Zizek hat Recht, dass Lenin einer der wenigen war, der das Ausmaß der Dynamik dieser Radikalisierung sehr früh erfasst hat. Aber die Rätebewegung hatte auch den Aspekt, der großen Unzufriedenheit der Massen mit den bestehenden Parteien der Zweiten Internationale eine Bühne zu bieten. Die Räte waren somit auch ein Ausdruck der spontanen Erkenntnis der Massen, dass es einer übergreifenderen, weitaus demokratischeren Organisation ihrer Interessen bedürfe, um mitten in der Krise das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Insofern sind Räte in Zeiten der revolutionären Zuspitzung immer Ausdruck eines Bruchs der Ausgebeuteten mit bestehenden, verkrusteten, systemischen Organisationsformen der Klasse, die zum Hindernis für die Bildung zur „Klasse für sich“ geworden sind. Gerade in der Situation der gegenwärtigen ArbeiterInnenklasse ist es daher um so weniger denkbar, dass der „Augenblick der Revolution“ zur Möglichkeit wird, ohne dass sich vorher massenhaft selbstbestimmte Basisorganisationen gebildet hätten, die Produktionskontrolle, politische Entscheidungen, überregionale Vernetzung, Herausforderung der bestehenden staatlichen Institutionen in so etwas wie einer Rätebewegung vereinen.

Die Atomisierung der heutigen ProduktionsarbeiterInnenschaft, die weiter vorangetriebene Entpolitisierung des Betriebsalltags, die weitere Desillusionierung über die tradierten ArbeiterInnenorganisationen lassen natürlich spontan Organisationsformen von radikalisiertem Protest entstehen, die noch viel weniger „organisch“ aus Fabrikkomitees herauswachsen als in früheren Zeiten. Es wäre wohl eine opportunistische Verklärung, die Platzbesetzungen im Rahmen des Arabischen Frühlings oder der „Empörten“ der spanischen Anti-Krisenproteste als „Vorformen von Räten“ darzustellen. Trotzdem drückt sich auch in ihnen bereits der Bruch mit der bestehenden Form von repräsentativer Politik aus, das Misstrauen gegenüber den traditionellen „OppositionsführerInnen“, der Wunsch nach Formen der direkten, selbstbestimmten, massenhaften Demokratie.

Trotzki hat in seinen Beiträgen zur Entwicklung der spanischen Revolution in den 1930er Jahren klargemacht, wie wichtig es dort war, angesichts einer breiten Protestbewegung, die viele Formen klassenübergreifenden Protestes (katalanischen und baskischen Nationalismus, „Arbeiter- und Bauernblöcke“ etc.) hervorgebracht hat, die Losung des Kampfes um Arbeiterräte als zentrale politische Orientierung zu sehen (74). Dabei ginge es gerade um die Durchsetzung des proletarischen Charakters der Protestbewegung genauso wie um den Kampf um die politische Führung im Proletariat selbst. Deshalb trat Trotzki auch dafür ein, dass in den spanischen Juntas (unabhängige politische Machtorgane, Räte) alle wesentlichen Organisationen der ArbeiterInnenklasse vertreten sein, ja sie sogar dort hineingezogen werden müssten (ebd.). Dies ist wichtig gerade gegenüber den Tendenzen der heutigen radikal-demokratischen Protestformen, die „Alt-Parteien“ und alles Organisierte aus den Basisorganisationen mit allen möglichen Mitteln herauszuhalten. Dies ist nur eine Methode, um die insgesamt weiterbestehende Vorherrschaft reformistischer Organisationen innerhalb der ArbeiterInnenschaft zu befestigen und den echten Kampf um die Perspektive in der Gesamtklasse zu verhindern.

Letztlich geht es darum, das Proletariat aus diesen „Bewegungen des Volksprotestes“, die in vieler Hinsicht nur neue Formen der klassischen „Volksfront“ sind, eigenständig und als die Kraft zu organisieren, die tatsächlich in der Lage ist, das Ganze der bestehenden, krisenhaften Gesellschaft umzuwälzen und auf eine neue Grundlage zu stellen. Insofern hatte schon Trotzki in den 30er Jahren festgestellt, dass „die Volksfront die Hauptfrage der proletarischen Klassenstrategie“ geworden sei (75). Denn in jeder der aktuellen Revolutionen, auch der Oktoberrevolution, begeben sich nicht nur die reformistischen ArbeiterInnenorganisationen in Koalitionen mit bürgerlichen Kräften zur Kanalisierung des Protestes: „Vom Februar bis zum Oktober waren die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre … in engstem Bündnis mit der bürgerlichen Partei der Kadetten, mit denen sie zusammen eine Reihe von Koalitionsregierungen bildeten. Unter dem Zeichen dieser Volksfront befand sich die ganze Masse der Bevölkerung, einschließlich der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte. Freilich nahmen die Bolschewiki an den Räten teil. Aber sie machten nicht die geringsten Konzessionen an die Volksfront. Ihre Forderung lautete, diese Volksfront zu ZERBRECHEN … und eine echte Arbeiter- und Bauernregierung zu schaffen“.

Sowjetfetischismus oder sowjetische Strategie?

Die Abkehr von den „Sowjets“ gibt es aber noch in einer anderen, sehr viel „politischeren“ Form. Unter dem Eindruck der Entstehung „sozialistischer Staaten“ in Osteuropa, Asien und Kuba seit 1945 wurde die Vorstellung, dass „sozialistische Umwälzungen“ ohne Rätebewegung der „Normalfall“ und die Oktoberrevolution die „Ausnahme“ sei, nicht nur in der (post-)stalinistischen Linken verbreitetes Gemeingut. Vielleicht am konsequentesten wurde dies gerade vom „Trotzkisten“ Nahuel Moreno (der eine der größten lateinamerikanischen Strömungen des „Trotzkismus“ begründete) formuliert, als er seinen WidersacherInnen in der 4. Internationale vorwarf, einen „Sowjetfetischismus“ zu vertreten (76).

In der Polemik gegen die oben zitierte Resolution zur „Sozialistischen Demokratie und die Diktatur des Proletariats“ behauptet Moreno, dass der entscheidende Faktor der Revolution die Führung der Massen durch die revolutionäre Partei sei, während die Frage der Sowjets nur eine untergeordnete taktische Frage sei. Sowjets könnten eine Rolle bei der Erlangung der Führung der Massen durch die Partei spielen, doch könne dies auch anders erfolgreich gelingen. Im „Übergangsprogramm“ hatte Trotzki von der unwahrscheinlichen Möglichkeit gesprochen, dass eine von reformistischen ArbeiterInnenparteien (auch StalinistInnen) dominierte „Arbeiter- und Bauernregierung“ unter dem „Einfluss eines außergewöhnlichen Zusammentreffens bestimmter Umstände (Krieg, Niederlage, Finanzkrach, revolutionäre Offensive der Massen usw.)… auf dem Wege des Bruchs mit der Bourgeoisie weiter gehen können, als ihnen selbst lieb ist“ (77). Aus dieser „Ausnahmesituation“, der Überdetermination, die Trotzki nicht ausschließen wollte, macht Moreno nun das allgemeine Modell, dass die Errichtung der Diktatur des Proletariats vor allem über die ArbeiterInnenregierung voranschreitet – im positiven Fall über eine revolutionäre, das heißt für ihn von einer revolutionären Partei geführten ArbeiterInnenregierung, während in Fällen wie in China oder Kuba durch den mangelnden revolutionären Charakter der Führung, die nur durch den Gang der objektiven Umstände zur Diktatur gezwungen sei, eben ein „deformierter ArbeiterInnenstaat“ entstünde (in der Art, wie Lenin den Rückzug zu staatskapitalistischen Maßnahmen in den 1920er Jahren als „Deformation“ bezeichnete).

Diese Revolutionstheorie der „revolutionären ArbeiterInnenregierung“ verkennt die zentrale Rolle der Sowjets für eine wirkliche proletarische Revolution. Während sie die Sowjets zu einer untergeordneten Taktik macht, wird ein tatsächlich spezifisch taktisches Moment – die der Einheitsfronttaktik der Komintern entnommene Losung der „Arbeiter- und Bauernregierung“ – zu einer revolutionären Strategie fetischisiert. Die radikale Pose der „revolutionären Diktatur“ hat dabei die opportunistische Kehrseite, dass alle möglichen „revolutionären Einheitsfronten“ mit reformistischen GewerkschafterInnen, PeronistInnen, GuerillaistInnen, „Arbeiter- und Bauernblöcke“ etc. – die vor allem deshalb „revolutionär“ waren, weil sie mit den selbsternannten „Revolutionären“ zusammenarbeiteten – zu Etappen auf dem Weg zur „revolutionären Arbeiterregierung“, also zur „Revolution“ gemacht werden. Dies ist offensichtlich nur eine in die Terminologie der Komintern gekleidete Wiederauflage von Kautskys „Weg zur Macht“.

Tatsächlich sind die Bildung von Sowjets und der Kampf um ihre revolutionäre Führung nicht einfach eine taktische Frage unter besonderen Bedingungen – die Frage der Sowjets ist für die proletarische Revolution von strategischer Bedeutung. Die von Lenin in „Staat und Revolution“ entwickelte Staatstheorie bestimmt im Kern die Bedeutung der Sowjets für die Zerschlagung des bürgerlichen Staates damit, dass die Diktatur des Proletariats zugleich die Errichtung eines proletarischen Halbstaates sein muss, soll sie eine erfolgreiche proletarische Revolution sein. Je mehr es gelingt, die bürgerlichen Insitutionen, von den Repressionsorganen bis zur Verwaltung und den ideologischen Apparaten, durch die Selbstverwaltungsorgane des Proletariats zu ersetzen, umso größere Chancen bestehen für eine wirkliche, die Produktionsweise in allen ihren Aspekten umwälzende Übergangsgesellschaft Richtung Sozialismus. Je mehr diese innere, nicht bloß formale eigentumsrechtliche Enteignung und Entmachtung der Bourgeoisie durch die eigenständige Bewegung der Klasse voranschreitet, desto größer die Chancen auch für die Abwehr der notwendigen konterrevolutionären Gegenschläge.

Eine Umwälzung der Eigentumsverhältnisse, die ohne diese Selbsttätigkeit vor allem „von oben“, vor allem über „Verstaatlichungen“ abläuft, wird umso mehr Elemente des alten bürgerlichen Staates bewahren und anstelle wirklicher Räte setzen. Alle Erfahrungen, von der Stalinisierung der Sowjetunion über die Umstürze in Osteuropa und der DDR bis zu den Siegen in China, Kuba und Vietnam, zeigen, dass die Formen der Staatlichkeit in diesen Regimen kaum zu unterscheiden waren von ganz gewöhnlichen bürgerlichen Diktaturen. Selbst was sich „Räte“ oder gar „Sowjets“ nannte, war nichts anderes als parlamentarische Staffagen, „Quasselbuden“ ohne Bezug zu den tatsächlichen Problemen der arbeitenden Bevölkerung, die sie angeblich vertraten. Die bürgerliche Form dieser Staaten im Gegensatz zu ihren nach-kapitalistischen Eigentumsverhältnissen war Ausdruck der Abtötung des Lebenselements im Sinne eines wirklichen Übergangs zum Sozialismus: der immer weiter um sich greifenden Selbstorganisation der Arbeitenden, die immer mehr alle Formen von Staatlichkeit überwindet. Dagegen waren die Ausschaltung der Sowjets in der UdSSR bzw. die unter ganz besonderen Umständen möglich gewordenen Umwälzungen durch „bürokratische ArbeiterInnen- und Ba(e)uerInnenregierungen“, die auf militärischen Organen statt auf Räten beruhten, zentral dafür verantwortlich, dass die errichteten ArbeiterInnenstaaten zugleich Diktaturen bürokratischer Schichten über die ArbeiterInnen wurden. Früher oder später musste die ökonomische Krise des blockierten Übergangs und der bürokratischen Misswirtschaft große Teile dieser Bürokratie selbst zu Agenten der Konterrevolution machen. Die bürgerliche Form des Staatsapparates konnte ihre letzte Funktion in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten bei der formal legalistischen Durchführung der Restauration des Kapitalismus spielen.

Dies ist kein „Rückwärtslaufen des reformistischen Films“ des Weges zum Sozialismus – denn mit der stalinistischen Konterrevolution, der Zerschlagung der revolutionären Organisationsformen, der revolutionären Partei und der arbeiterdemokratischen Sowjets, war die „Diktatur des Proletariats“ bereits ihres revolutionären Subjekts beraubt. Die ArbeiterInnenklasse herrschte nur noch abstrakt, „objektiv“, über die nachkapitalistischen Eigentumsverhältnisse vermittelt. Nachdem die Krise der bürokratischen Planwirtschaft große Teile der Klasse und der Bürokratie in diesen Staaten keine Perspektive mehr sehen ließ, fehlte jegliches Subjekt zur Verteidigung dieser Art von Staat – es blieb nur die kapitalistische Restauration oder eine neue politische ArbeiterInnenrevolution, die wiederum auch diesen „Arbeiterstaat“, d. h. seine bürokratischen Strukturen hätte zerschlagen müssen, um die nachkapitalistischen Eigentumsverhältnisse zu verteidigen. Insofern haben auch die Aufstände in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten, ob in Polen, der DDR, Ungarn oder der Tschechoslowakei sofort auch immer wieder zur Bildung von Streikkomitees und Rätestrukturen geführt. Auch hierin zeigt sich die spontane Tendenz der ArbeiterInnen in revolutionären Situationen, ihre unabhängige, gegen bestehende staatliche Strukturen gerichtete Stoßrichtung – genauso wie die beständige Gefahr, dass solche Räte oder Selbstorganisationsansätze unter reaktionäre Führung geraten können, wenn es keine revolutionären Organisationen gibt, die darin für eine sozialistische Perspektive kämpfen.

 

Endnoten

(1) Schuhler, Conrad: Der Marxismus und das Ende des Kapitalismus, Seite 5 von 8; zitiert wird aus den Gefängnisheften von Antonio Gramsci. In der Ausgabe „Philosophie der Praxis“ (S. Fischer Verlag, Frankfurt/M., 1967) findet sich das Zitat auf Seite 347, im Kapitel „Politischer Kampf und militärischer Krieg“

(2) Schuhler, ebd., S. 6 von 8

(3) In: Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, MEW 21, Berlin/O., 1975, S. 27 ff.

(4) Lenin, W. I.: Staat und Revolution (SuR). Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution, LW 25, Berlin/O., 1972, S. 400

(5) Engels, Friedrich: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), MEW 20, Berlin/O., 1962, S. 261

(6) ebda., S. 262

(7) Marx, zitiert nach Lenin, Staat und Revolution, a. a. O., S. 427

(8) Lenin, ebda, a. a. O., S. 463

(9) Lenin, ebda, a. a. O., S. 501, 504

(10) Gramsci, Antonio: Philosophie der Praxis, a. a. O., S. 75

(11) ebda., S. 33

(12) ebda., S. 96 f.

(13) ebda., S. 67

(14) ebda., S. 97 f.

(15) ebda., S. 34

(16) ebda., S. 60

(17) ebda.

(18) ebda., S. 86

(19) ebda., S. 346

(20) ebda., S. 328

(21) ebda., S. 332

(22) ebda., S. 349

(23) Althusser, Louis: Für Marx, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M., 1968, S. 113 f.

(24) ebda., S. 114

(25) ebda., S. 115

(26) ebda., S. 116

(27) ebda., S. 117 f.

(28) ebda., S. 126 f.

(29) ebda., S. 128 f.

(30) ebda., S. 129

(31) Croce, Benedetto: Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M., 1968. Original: Storia d’Europa nel secolo decimonono, Neapel, 1932

(32) ebda., S. 324

(33) Althusser, a. a. O., S. 140

(34) ebda., S. 141

(35) Marx, Karl: Das Kapital. Band I. Nachwort zur zweiten Auflage, MEW 23, Berlin/O., 1971, S. 27 f.

(36 Poulantzas, Nicos: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, autoritärer Etatismus, VSA Verlag, Hamburg, 2002. Originalausgabe: Paris, 1977, S. 64

(37) ebda., S. 74

(38) ebda., S. 279

(39 ebda., S. 281

(40) ebda., S. 289

(41) ebda.

(42) ebda., S. 286 f.

(43) ebda., S. 174

(44) ebda., S. 292

(45) Lukács, Georg: Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik, Frankfurt/M., 1968; Erstausgabe: Berlin, 1923

(46) Korsch, Karl: Marxismus und Philosophie, London, 1998; Original: Berlin, 1923

(47) Rogowin, Stalins Kriegskommunismus, , Mehring Verlag, Essen, 2006, S. 277 ff.

(48) Lukács, Chvostismus und Dialektik (1925), Áron Verlag, Budapest, 1996, S. 51

(49) ebda., S. 51 f.

(50) ebda., S. 55

(51) Zitiert von Lukács, ebda.

(52) ebda., S. 83

(53) ebda., S. 78

(54) Kautsky, Karl : Der Weg zur Macht, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/M., 1972, S. 60 f.

(55) Zizek, Slavoj: Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M., 2002

(56) ebda., S. 10

(57) ebda.; historische Bezüge und Zitate jeweils aus: Harding, Neil: Leninism, Durham, 1996

(58) Trotzki, Leo: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der 4. Internationale. Übergangsprogramm der 4. Internationale. Ende des ersten Abschnitts, in: ders., Das Übergangsprogramm der 4. Internationale. 1938 bis 1940 – Schriften zum Programm, Verlag Ergebnisse und Perspektiven, Essen, o. J., S. 5 f.

(59) Arnold, Volker: Rätebewegung und Rätetheorien in der Novemberrevolution, Hamburg, 1985, S. 113

(60) ebda., S. 148

(61) ebda., S. 152

(62) ebda., S. 158

(63) ebda., S. 188 f.

(64) ebda., S. 190

(65) Trotzki, Übergangsprogramm, a. a. O., S. 28

(66) Karim, Darius (Pseudonym von Nahuel Moreno): Die revolutionäre Diktatur des Proletariats, Bogotá, 1979

(67) Resolution des 12. Weltkongresses der 4. Internationale, 1985. Aus: Warum wir den Sozialismus wollen II, RSB, Die Internationale Theorie, Heft 30, Mannheim, 2006

(68) ebda., S. 33

(69) Arnold, a. a. O., S. 214

(70) Schuhler, Conrad: Widerstand. Kapitalismus oder Demokratie, isw-Report 96, München, 2014

(71) Zizek, Lenin, a. a. O., S. 123 ff.

(72) ebda., S. 11 f.

(73) ebda., S. 185

(74) Siehe: Trotzki, Leo: Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931-1939, Frankfurt/M., 1975, Band 1, S. 75

(75) ebda., S. 204

(76) Karim, a. a. O., S. 149

(77) Trotzki, Übergangsprogramm, a. a. O., S. 27