Britannien: Die Regierungskrise und die Aufgaben von Labour

Arthur Milton, Neue Internationale 221, Juli/August 2017

Gemessen an den Voraussagen geriet die knappe Wahlniederlage Labours bei den britischen Unterhauswahlen am 8. Juni zu einem unerwarteten Triumph. 13,6 Millionen Stimmen für die Konservative Partei der Tories standen 12,8 Millionen für Labour gegenüber. Erstere verloren 13 Unterhaussitze, letztere gewann 30. Bei den über 50-Jährigen siegten die Tories, Labour schnitt bei den Jüngeren besser ab.

Zudem gewann sie die Mehrheit bei den ArbeiterInnen mittlerer und niedriger Qualifikation sowie den unteren Angestelltenschichten. Ihr Erfolg ist umso bemerkenswerter, weil die Kampagne vom Apparat und den Unterhausabgeordneten sehr defensiv geführt wurde. Corbyn und das Wahlmanifest wurden so gut wie nicht erwähnt. Es waren der engere Kreis um den Labour-Vorsitzenden und die Strömung „Momentum“, die die Wahlkampagne mit Hausbesuchen und riesigen Versammlungen energisch in Schwung brachten, Zehntausende, v. a. Jugendliche und ethnische Minderheiten, mobilisierten. Die Labour Party hat jetzt 800.000 Mitglieder und ist damit Europas größte Partei.

Instabile Regierung

Die Bombenattentate schlugen zur Überraschung der Tories auch nicht für Labour negativ zu Buche, stattdessen wirkten sich die Einsparungen der Regierung bei Feuerwehr und Polizei für sie negativ aus. Auch das tragische Brandunglück im Grenfell Tower schadete eher Premierministerin May. Im Unterschied zu ihr ließ sich Corbyn sofort am Unglücksort blicken. Seine Aufforderung an die Regierung, leerstehenden Wohnraum zu requirieren und diesen andernfalls durch Wohnungssuchende zu besetzen, stieß auf enthusiastischen Beifall bei den Angehörigen der Opfer. Kein Wunder, dass Mays Umfragewerte weiter in den Keller sanken, so dass zur Zeit die Labour die Nase vorn hat.

Zu all dem gesellt sich noch das Missgeschick für die Konservativen, keine Regierung ohne Unterstützung durch die reaktionäre Democratic Unionist Party (DUP) Nordirlands stellen zu können. Ein Pakt mit dieser beinhaltet das Risiko, die Machtteilung in Ulster mit Sinn Fein im Rahmen des Karfreitagsabkommens in Frage zu stellen. Das könnte das Ende des dortigen „Friedensprozesses“ nach sich ziehen. Zudem stößt ein harter Brexit mit der Wiederaufnahme der Grenzkontrollen zur Republik Irland schon aus ökonomischen Gründen auf den Widerstand sogar der DUP.

Der mächtigste Unternehmerverband CBI, Labour, die Liberalen DemokratInnen, die schottischen Tories und die DUP sprechen sich alle für einen weichen Brexit aus, so dass das Regierungslager bei den Austrittsverhandlungen lavieren muss – mit ungewissem Ausgang! Von allen größeren Volkswirtschaften scheint zur Zeit sich allein das Vereinigte Königreich auf Talfahrt zu befinden. Nach der Brexit-Entscheidung versiegen die Unternehmensinvestitionen und Kapitalströme durch das Finanzzentrum der Londoner City. Das BIP wuchs im 1. Quartal 2017 lediglich um 0,2 %.

Labours Manifest „For The Many Not The Few“

Dieser Wahlkampf gestaltete sich v. a. als Schlacht um die Wahlprogramme. Das der Tories musste vor der Wahl entschärft werden, so viele widerliche neoliberale Klauseln enthielt es. So geriet nicht das Thema Brexit in den Mittelpunkt, wie May erhofft hatte, sondern Corbyns Labour Party konnte sich auf die Spar- und Kürzungspolitik der vergangenen Regierungen einschießen.

Im Vergleich zu Labours Wahlaussagen der letzten 25 Jahre fiel ihr Manifest als geradezu links, ja sozialistisch aus. Doch ist es sicher nicht linker als die von 1945, 1974 oder 1983 und weit entfernt davon, revolutionär zu sein. Doch enthält es genug Themen und Reformvorschläge, die als Basis für eine anti-konservative Offensive herhalten können. Aber sie müssen mit Forderungen nicht nur ans Parlament verbunden, sondern an die Partei und die Gewerkschaften im ganzen Land gerichtet werden mit dem Gebot, dafür auf den Straßen zu agitieren und den Weg direkter Aktionen einschließlich Streiks und Betriebsbesetzungen einzuschlagen.

Doch dürfen die Schwächen des Manifests nicht verschwiegen werden. Die Bildungsreform umfasst nicht die erneute Unterstellung der Privatschulen und -akademien sowie der halbprivaten „freien“ Bildungseinrichtungen unter Gemeinderäte und Bildungsministerium. Zudem halten sich seine Finanzierungspläne an die Grenzen der Steuer- und Fiskalpolitik der britischen Regierung. Corbyn fordert außerdem 10.000 mehr Polizeikräfte, die die nächste Streik- und Protestwelle umso sicherer eindämmen könnten. So wie das Programm es vermeidet, seine Finanzierungsgrenzen klar durch ein Bekenntnis zur progressiven Besteuerung der Reichen, Banken und Konzerne zu sprengen bzw. anzukündigen, diese im Fall ihrer Weigerung entschädigungslos zu enteignen, können wir Schlimmes erwarten, wenn die Bosse und VermögensbesitzerInnen Ernst machen. Was, wenn zudem im Gefolge des Brexit die nächste schwere Rezession ins Haus steht, die alle Budgetpläne über den Haufen werfen wird?

Was wird eine Labourregierung unternehmen in Anbetracht der Sabotage ihrer Reformpläne durch die Kapitalistenklasse? Darauf fehlt jede Antwort! Das Beispiel der „linken“ Syriza-Regierung, die vor den Banken, den Anlagemärkten und der Troika in die Knie ging, haben wir noch zu gut vor Augen.

Zu schlechter Letzt stellen die außen- und verteidigungspolitischen Passagen einen deutlichen Kontrast dar zu den Versprechen, mit denen Corbyn zum Vorsitzenden gekürt wurde. Die atomare U-Boot-Flotte (Trident) soll bleiben. Labour will Britannien in der NATO halten und 2 % des BIP jährlich für Rüstung ausgeben. Corbyn beging 2015 schon den Fehler, den Parlamentsabgeordneten freie Hand bei der Frage der Beteiligung am Bombardement Syriens zu lassen, obwohl er selbst stets gegen alle Militäreinsätze in Nahost gestimmt hat. Die Labour-Abgeordneten müssen gezwungen werden, für den sofortigen Abzug aller britischen Streitkräfte zu stimmen – oder sie sollten ausgeschlossen werden. Keinen Menschen, keinen Penny fürs imperialistische Militär!

Auch in der Frage der Grenzöffnung und Freizügigkeit von Arbeitskräften hat Corbyn nach der Brexit-Abstimmung einen fatalen Rückzieher gemacht. Was sonst sollen Phrasen wie „Die Bewegungsfreiheit wird enden, wenn wir die EU verlassen“ und „Wir werden ein neues Einwanderungsmanagement brauchen“ bedeuten? Sollen die Konzernchefs bestimmen, wer einwandern darf? Nur wo sie Arbeitskräftemangel und Qualifikationsdefizite spüren? Corbyns Mannschaft hat sich selbst in diese Bredouille gebracht, indem sie zustimmte: „Brexit heißt Brexit!“ Anstatt von Theresa May zu verlangen, ihre Pläne für das Ausscheiden aus der EU offenzulegen, bevor es an die Wahlurne oder in ein erneutes Referendum geht, gestattete sie ihr, eine vorgezogene Blitzwahl anzuberaumen.

Die Antiausteritätsklauseln des Wahlprogramms sind alle begrüßenswert, aber auch nicht mehr als das derzeitige Minimum. In Wirklichkeit müssen alle Antigewerkschaftsgesetze Thatchers auf dem Misthaufen der Geschichte landen, nicht nur der neueste Trade Union Act. Es müssen doppelt so viele gemeindeeigene Bauten errichtet, alle PFI-Verträge (privat-staatliche Mischfinanzierung) gekündigt werden. Die Pharmakonzerne müssen verstaatlicht werden. Sie saugen den NHS (staatlicher Gesundheitsdienst) aus. Weitere Nationalisierungen unter ArbeiterInnenkontrolle sind nötig in der Stahl- und Bauindustrie, den digitalen Netzen – und v. a. bei den Banken.

Was kommt nach der Wahl?

Die Tory-Regierung ist also äußerst anfällig und kann über eine Abstimmung zur Brexit-Gesetzgebung ebenso stürzen wie über verlorene Nachwahlen. Eine Neuwahl würde im Augenblick wohl Labour gewinnen. Die Partei tritt im Moment recht geschlossen auf. Die vor kurzem noch gegen Corbyn meuternden Unterhausabgeordneten und Apparatschiks halten zur Zeit die Füße still. Schließlich hat Corbyns Partei auch in ihren Augen einen brillanten Wahlkampf geführt. Die Corbyn-McDonnell-Führung und McCluskeys Gewerkschaft „Unite“ riefen neben anderen Kräften zu einer Großdemonstration in London am 1. Juli unter dem Motto „Not One Day More“ auf, an der sich rund einhunderttausend Menschen beteiligten.

Um die Tories zu erledigen, muss die britische ArbeiterInnenbewegung gemeinsam mit der Jugend und den sozial Unterdrückten alle Mittel der Gegenwehr gegen deren Offensive anwenden – auf der Straße, in den Betrieben wie im Unterhaus. Diese Einheitsfront muss mit der traditionellen Führung gehen und sie zum Kampf auffordern, wenn nötig aber über sie hinausgehen und eine neue, revolutionäre Führung bilden. Die beste Möglichkeit dafür bildet das Zustandekommen einer linken Labour-Regierung. KommunistInnen müssen für sie eintreten, weil heute in Britannien die fortschrittlichsten Teile der Massen sich von ihr eine deutliche Verbesserung ihres Loses erhoffen. Sie müssen sich in der Praxis ein Bild von deren Standhaftigkeit gegenüber den Bossen machen können, nicht allein durch kritische Worte. An ihrer Seite werden wir alle ihre fortschrittlichen Maßnahmen gegen die Reaktion verteidigen.

Gleichzeitig müssen wir vor einer Wiederholung des Verrats von Syriza warnen. Corbyn ist letztlich auch nichts weiter als ein linker Reformist. Nur wenn diese Warnungen befolgt und jeder Schritt der Regierung argwöhnisch beobachtet werden, kann eine kleine revolutionär-kommunistische Gruppe wie Red Flag in der Labour Party zu einer einflussreichen Kraft anwachsen. Nur wenn die ArbeiterInnenklasse ihren Argwohn positiv in die Errichtung von Organen der ArbeiterInnenkontrolle, von Doppelmacht, kurz in Räte ummünzt, kann eine linke Labour-Regierung das Tor zu einer echten ArbeiterInnenregierung und schließlich zur proletarischen Diktatur aufstoßen.

Unsere unmittelbaren Forderungen für die notwendige Massengegenwehr lauten daher:

  • Demonstrationen gegen die Regierung des Chaos aus Tories und DUP!
  • Kampf für Labours Manifest auf den Straßen: für Wohnungsneubau und -instandsetzung, beginnend mit Sicherheitsmaßnahmen wie Brandschutz!
  • Schluss mit dem Lohnstopp im Öffentlichen Dienst, für Labours Mindestlohn von 10 Pfund Sterling pro Stunde, gegen Nullstunden-Arbeitsverträge!
  • Wiedereinführung kostenlosen Unterhalts für StudentInnen, weg mit Studiengebühren und Ausbildungsschulden!
  • Ein Ende der zu geringen Finanzierung und Ausstattung des staatlichen Gesundheitssystems!
  • Offene Grenzen für Geflüchtete, weg mit der Abschaffung der Bewegungsfreiheit für Arbeitskräfte!
  • Weg mit dem gewerkschaftsfeindlichen Trade Union Act!
  • Demokratisierung der Labour Party: keine Hexenjagd gegen Linke, keine Sabotage durch die Parteirechten in Apparat und Parlament, Wahl der Unterhausabgeordneten und Gemeinderäte durch die Basis! Für eine neue, von der Basis kontrollierte Labour-Jugendorganisation!