Arbeiter:innenmacht

Brasilien im Aufruhr – Die Temer-Protokolle

Pericles da Lima/Markus Lehner, Neue Internationale 220, Juni 2017

Am 17. Mai platzte in Brasilia, der Hauptstadt Brasiliens, eine politische Bombe. Eines der großen Mediennetze veröffentlichte den Mitschnitt eines Protokolls; darin flog auf , dass Präsident Temer nicht nur einer von vielen korrupten bürgerlichen Politikern des Landes ist, sondern offenbar im Mittelpunkt des bekanntesten landesweiten Korruptionsskandals steht.

Erst vor einem Jahr sind Temer und das politische Establishment auf der Woge von „Antikorruptionsprotesten“ und durch die Amtsenthebung der gewählten Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT an die Macht gelangt. Das Verfahren gegen Rousseff war nicht auf irgendeinen konkreten Beweis für Korruption gegründet, sondern wurde vielmehr von der Mehrheit der Parteien und etablierten JournalistInnen unterstützt, weil die Ersetzung von Rousseff durch Temer der einzige Weg war, die Maßnahmen durchzusetzen, die sie für „politisch und ökonomisch notwendige Reformen“ hielten.

Nun haben die veröffentlichten Tonbandmitschnitte bewiesen, dass Temer bei einer Zusammenkunft mit Joesley Batista zugegen war, einem der großen Geldspender in den Korruptionsaffären und Boss der JBS S. A., der größten Fleischerzeugungs-Gesellschaft der Welt, und u. a. eines der wichtigsten Lieferanten für den McDonalds-Konzern. Bei diesem Treffen wurde eine Zahlung von 2 Millionen Real (etwa 540 000 Euro) an Aécio Neves vereinbart, einen der wichtigsten Führer der PSDB, der bedeutendsten bürgerlichen Partei in Brasilien, um seine Verteidigung in dem berüchtigten „Autowäsche-Skandal“, der Mutter aller Korruptionsaffären in Brasilien, zu finanzieren.

Zusätzlich wurden Zahlungen an Eduardo Cunha, den Präsidenten des Kongresses und in dieser Position der Hauptarchitekt des Amtsenthebungsverfahrens gegen Dilma Rousseff, verabredet. In den Mitschnitten gibt Temer klar sein volles Einverständnis mit diesen Akten schamloser Bestechung zu Protokoll.

Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse

Diese Affäre ist in einer Situation aufgedeckt worden, wo die sogenannten “notwendigen Reformen“ wie die Arbeitsmarktreform, die die gesetzlichen Bedingungen für Vertragsarbeit verschlechtert, sowie die Rentenreform, d. h. die Anhebung des Renteneintrittsalters, neben einer Reihe anderer Kürzungen im Sozial- und Bildungssystem diese Regierung bei der Bevölkerung bereits äußerst unbeliebt gemacht haben.Die Proteste begannen schon im letzten Jahr, anfangs im Bildungssektor, in Schulen und an Universitäten, aber dann lösten die Arbeitsmarkt- und Rentenreformen einen wachsenden Widerstand in der gesamten ArbeiterInnenklasse unter Führung der Gewerkschaften aus. Der Höhepunkt einer Reihe von zunehmenden Protesten war der Generalstreik am 28. April 2017, der mehr als 40 Millionen bei Demonstrationen und Streiks auf die Beine brachte.

Im Gefolge dieser neuen Enthüllungen gab es unmittelbar spontane Massendemonstrationen. Temer wies einfach alle Forderungen nach seinem Rücktritt zurück und erklärte, dass die im Fernsehen wiedergegebenen Mitschnitte viele Kürzungen enthielten und seine „Opposition“ gegen die Bestechung herausgeschnitten sei. Jedenfalls sei es wichtiger für das Land, so betonte er, energisch mit den Reformen fortzufahren, statt sich mit solchen „kleineren“ Angelegenheiten zu beschäftigen. Das politische Establishment nimmt mehr oder minder dieselbe Haltung dazu ein. Das wiederum hat die Proteste der ArbeiterInnen und der Armut umso mehr angespornt.

Gefahren

Zur gleichen Zeit konnte der Oberste Gerichtshof aber nicht daran gehindert werden, Nachforschungen anzustellen, denn diese Affäre ist nur die vorläufig letzte in einer langen Kette von Korruptionsvorwürfen gegen Temer. Auf die Art müsste ein neuer Amtsenthebungsprozess entstehen, der sich nun gegen diejenigen richtet, die die Amtsenthebung 2016 angezettelt haben. Dies wiederum ist nicht ganz ungefährlich für die breite Bewegung in Brasilien. Gemäß der Verfassung würde es für den Präsidenten, der zuvor Stellvertreter von Dilma Rousseff war, keinen automatischen Nachrücker geben, wenn er seinerseits des Amtes enthoben werden würde. Das Oberste Gericht hätte zwei Möglichkeiten: Entweder könnte es dem Kongress erlauben, den Präsidenten aus seiner Mitte indirekt zu wählen oder der Armee die Macht für eine „vorübergehende Periode“ vor Neuwahlen in die Hand zu legen.

Am 25. Mai waren die Gefahren schon absehbar, dass die Armee wieder eine zunehmend politische Rolle spielt angesichts des Aufrufs der Gewerkschaften, insbesondere des CUT, zu Massendemonstrationen in Brasilia gegen die Reformen und für den Rücktritt von Temer. Mit einer Größe von 200000 TeilnehmerInnen war es eine der gewaltigsten Demonstrationen in der Geschichte der Stadt. Die Polizei attackierte die DemonstrantInnen sofort mit Tränengas und Gummigeschossen, und die ganze Situation eskalierte daraufhin.

Im Verlauf des Geschehens wurden mehrere Ministerien gestürmt und der Polizei entglitt zusehends die Kontrolle über die Stadt. Im Laufe des Tages rief Temer die Armee auf, die Demonstrationen zu unterdrücken. Zum ersten Mal seit Ende der Militärdiktatur sahen sich Soldaten wieder protestierenden ArbeiterInnen gegenüber. Im Zusammenhang mit der Krise und den Verfassungsmachenschaften der herrschenden Klasse besteht die echte Gefahr, dass die Armee für einen „Notstand“ unter einem indirekt gewählten Ersatz für Temer eingesetzt wird. Dies wird umso wahrscheinlicher, weil die jüngsten Entwicklungen zu einer völligen Diskreditierung des bestehenden Parteiensystems und seiner Einrichtungen geführt haben, doch die herrschende Klasse und ihre UnterstützerInnen in den USA sind fest entschlossen, die Protestbewegung gegen ihre „Reformpolitik“ zu brechen.

Wie kann es vorangehen?

Die ArbeiterInnenklasse und die Armut in Brasilien haben andererseits ihre Entschlossenheit zum Widerstand gezeigt. Sie haben ihre millionenfache Macht sich zu wehren offenbart, aber nun ist es an der Zeit, zur Offensive zu schreiten. Es genügt nicht mehr, eintägige Generalstreiks oder Massendemonstrationen zu organisieren, ganz gleich, wie militant sie auch sein mögen. Es ist vielmehr notwendig, einen unbefristeten Generalstreik vorzubereiten, der so lange anhält, bis alle Reformen vom Tisch sind und die Regierung zum Rücktritt gezwungen ist. Im Fall eines Ausnahmezustands müssen Streiks und Demonstrationen verteidigt werden. Gerade jetzt brauchen wir nicht nur Streikkomitees und Regionalkoordinationen, die die Proteste organisiert haben, sondern müssen ArbeiterInnen- und Armutsräte bilden, die die korrupten und verräterischen parlamentarischen Organe auf allen Ebenen ersetzen.

Gegenwärtig steht die Bewegung eindeutig unter Führung der Gewerkschaftsbürokratie, v. a. der CUT. Es ist auch klar, dass die PT politische Glaubwürdigkeit bei Teilen der Bewegung wiedererlangt hat und sich als einzig nutzbare politische Alternative mit Lula da Silva als wahrscheinlichstem Präsidentschaftsanwärter an Stelle von Temer präsentieren will, wenn es zu freien Neuwahlen käme. Andererseits ist die radikale Linke in Brasilien noch schwach und in mehrere Organisationen aufgespalten, und allen fehlt eine klare programmatische Alternative.

Bruch mit der Bourgeoisie

In dieser Lage ist es notwendig, die PT- und CUT-Führung zum Bruch mit der Bourgeoisie und allen Koalitionsgelüsten und stattdessen zur Bildung einer ArbeiterInnenregierung aufzufordern, die sich auf die Protestbewegung und ihre Organisationen gründet, in einem Bündnis mit allen Kräften der Linken, der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen wie der der Land- und Obdachlosen MTST und MST.

Wir wissen, dass die PT alles tun wird, um diesen Weg zu vermeiden. Aber im Kampf dafür wird die Notwendigkeit einer revolutionären Alternative den Massen klarer vor Augen geführt. In diesem Kampf würde es möglich sein, aus den revolutionären Kräften eine wahrhaft revolutionäre Partei zu formen, die auf einem revolutionären Aktionsprogramm steht und in der Massenbewegung verankert ist.

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