Europa: Kehrt der Widerstand zurück?

Tobi Hansen, Neue Internationale 195, Nov.14/Dez. 15

Wenn über Europa gesprochen wird, werden die bürgerlichen Politiker nicht müde zu erwähnen, dass diese Krise noch nicht vorbei ist. Nun, den Beschäftigten, den Arbeitslosen, der Jugend und den RentnerInnen ist das auch völlig klar – sie spüren die Krise jeden Tag. In fast allen süd- und osteuropäischen Staaten herrscht Massenarbeitslosigkeit, welche v.a. die junge Generation vom Arbeitsmarkt verdrängt. Auch die Sozialleistungen wurden drastisch gekürzt.

Ökonomisch taumelt die EU seit vier Jahren zwischen Rezession und Stagnation. Das Ziel der „Agenda von Lissabon“, die USA bis 2010 als Wirtschaftsmacht Nr. 1 abzulösen, wurde klar verfehlt. Die Schuldenkrise wurde die direkte Nachfolgerin der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/08. Profitiert von der Krise hat im Rahmen der EU v.a. der deutsche Imperialismus. Das BRD-Kapital baute seine vorherrschende Rolle auf dem Binnenmarkt aus, konnte konkurrierende Kapitale schwächen und politisch das Austeritätsprogramm mit Sparpaketen und Schuldenbremse durchsetzen.

Die Schuldenkrise traf auf die bestehenden „Maastrichter Verträge“ zum Haushaltsdefizit, diese wurden durch den EU-Fiskalpakt nochmals verschärft. Dieser sieht eine europäische Schuldenbremse nach deutschem Muster vor.

Seit 2011 wurden zunächst die „PIIGS“- (Portugal, Irland, Italien, Griechenland, Spanien)-Staaten dem Sparprogramm unterworfen. Dies ging einher mit drastischen Kürzungen im Öffentlichen Dienst und bei den Sozialleistungen. Ebenso wurden in Italien und Griechenland Regierungen ausgetauscht und in Griechenland eine „Troika“ eingesetzt, welche die Sparvorgaben für die EU-Bürokratie kontrolliert.

Hier zeigt sich deutlich, wer für die Krise der Banken und des Kapitals aufkommen muss: es sind die Beschäftigten, die Arbeitslosen, RentnerInnen und die Jugend – eine systematische Massenverarmung.

Aber auch 2014 ist die Krise nicht vorbei, derzeit stehen Italien, Frankreich und Belgien im Zentrum von neuen Sozialkürzungen und Angriffen. So zieht diese Krise weitere Kreise und wendet sich erstmals seit 2011 auch direkt gegen die Staaten in „Kerneuropa“ wie Frankreich und Belgien. Dahinter steht weiterhin der Wille der europäischen Kapitalfraktionen, die USA als „Hegemon“ der imperialistischen Ordnung herauszufordern. Zu diesem Zweck gibt es jetzt eine neue Offensive des Kapitals – aber auch eine neue Welle des Widerstands der organisierten ArbeiterInnenbewegung. In Italien und Belgien treffen diese Sparangriffe von Kapital und Staat auf kampfstarke Teile des europäischen Proletariats. Diese sind objektiv in der Lage, die Angriffe abzuwehren und dem europäischen Widerstand eine neue klassenkämpferische Perspektive zu geben.

Italien

Ministerpräsident Renzi hat den Angriff auf ArbeiterInnenrechte als „Job Act“ betitelt. Dieser sieht de facto die Abschaffung des Kündigungsschutzes und die weitere Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen vor. Dabei kooperiert Renzi offen mit Oppositionsführer Berlusconi, um dieses Gesetz auch im Senat durchzubringen. Dies ist am 3. Dezember inkl. einer Vertrauensfrage des amtierenden Ministerpräsidenten geschehen – die Regierung macht ihre Zukunft vom Gelingen ihres  Angriffs auf die Rechte der Beschäftigten abhängig. Die Regierung stützt sich auch auf zwei kleinere bürgerliche Koalitionspartner: die noch von „Übergangspremier“ Monti gebildete „Bürgerliste“ SC und eine Abspaltung der Berlusconi-Partei (Volk der Freiheit), die NCD (Neue Rechte Mitte). Mit diesen setzt Renzi die Politik von Monti fort, der v.a. den Öffentlichen Dienst Kürzungen unterworfen hatte. Seit nunmehr 6 Jahren sind die Gehälter „eingefroren“. Gleichzeitig wurden von den 3 Millionen Beschäftigten schon 10% abgebaut. Fortgesetzt wurde auch die unter Monti begonnene Erhöhung des Renteneintrittsalters – der einzige Brosamen der Regierung Renzi war eine Steuererleichterung von 80 Euro für die Teile der Beschäftigten mit unter 1.500 Euro Monatsverdienst. Dies wurde von den meisten Gewerkschaftsführern als „Wendepunkt“ bezeichnet – und dementsprechend die Regierung weiter unterstützt.

Renzi hatte in der regierenden Demokratischen Partei (PD) Anfang 2014 seinen Parteikollegen Letta weggeputscht. Zunächst wurde der 39jährige Renzi als Erneuerer des verkrusteten parlamentarischen Systems gefeiert, aber die Bezeichnung als „italienischer Tony Blair“ verwies darauf, welche Politik zu erwarten ist.

Gemeinsam mit dem Kapitalverband „Confindustria“ und den Spitzen der Gewerkschaftsverbände CGIL und FIOM wurden die Angriffe verhandelt. Dies ähnelte dem aus Deutschland bekannten „Bündnis für Arbeit“, bei dem die regierenden Sozialdemokraten von Beginn an die Gewerkschaftsführungen beim Angriff auf die Rechte ihrer Mitglieder integrieren. Diese Politik wurde aber von der Basis nicht honoriert, und so waren CGIL und FIOM gezwungen, schon am 25. Oktober eine Großdemonstration in Rom mit einer Million gegen die Angriffe zu organisieren. Dies wurde am 14. November mit Protesten in mindestens 25 Städten wiederholt. Bei diesen Protesten organisierten die Basisgewerkschaften COBAS, USB und CUB eigene Manifestationen. Für den 5. Dezember rufen alle Gewerkschaften zu einem 8-stündigen Generalstreik auf, der sowohl den öffentlichen wie den privaten Sektor lahm legen wird.

Die offene Konfrontation der Regierung Renzi mit den Gewerkschaftsverbänden erzeugt tiefe Risse zwischen der regierenden PD und Teilen ihrer Basis. Als Renzi zu einer unterstützenden Kundgebung in Florenz, wo er früher Bürgermeister war, aufrief, folgten dem nur ca. 10 000 AnhängerInnen.

Die Massenaktionen vom Oktober und November waren sehr militant. Autobahnkreuze und das  Colosseum wurden von Beschäftigten des Öffentlichen Nahverkehrs in Rom stundenlang besetzt.

Gleichzeitig gab es auch Auseinandersetzungen zwischen den Gewerkschaften. So durften in Mailand SprecherInnen von Cobas, USB und CUB nicht auf der zentralen Kundgebung von CGIL und FIOM sprechen und wurden vom Sicherheitsdienst daran gehindert, die Bühne zu betreten.

In dieser Situation muss eine revolutionäre Linke die entstandenen Widersprüche und Spaltungslinien zwischen CGIL und FIOM einer- und der PD andererseits offen aufgreifen. Die FIOM hatte die massiven Umstrukturierungen bei FIAT bereits mitverhandelt und kaum Widerstand entwickelt bzw. alles getan, um diesen zu unterbinden – jetzt werden diese Angriffe verschärft und auf die gesamte ArbeiterInnenklasse ausgeweitet. Eine sozialistische Linke muss aber auch die tw. sektiererische Politik der Basisgewerkschaften wie COBAS angreifen und diese offen zur Einheitsfront gegen die Regierung Renzi auffordern, um die gesamte Klasse in den Widerstand zu führen. Es reicht eben nicht aus, die großen, mit der PD verbundenen, Gewerkschaften wie CGIL und FIOM zu kritisieren oder eigene Proteste und Demonstrationen zu organisieren. Diese Gewerkschaften werden versuchen, die Proteste zu kanalisieren, um leichte „Verbesserungen“ mitzuverhandeln – diese Politik muss aber in einer gemeinsamen Aktionsfront, einer gemeinsamen Politik angegriffen werden. Nur so können sich die ArbeiterInnen von den sozialpartnerschaftlichen Illusionen in die CGIL- und FIOM-Spitzen befreien und ihre Gewerkschaften zu Kampforganen gegen die Angriffe Renzis umformen. In diesen Bewegungen müssen Organisationen wie die Sinistra Anticapitalista u.a. sozialistische Linke aktiv eingreifen, letztlich mit dem Ziel, eine revolutionäre Partei aufzubauen, die mit der Vasallenschaft gegenüber der PD und den Gewerkschaftsführungen bricht und ein revolutionäres Programm in der italienischen ArbeiterInnenklasse verankert.

Proteste in Belgien

Am 6. November legten über 130.000 Beschäftigte die Hauptstadt Brüssel lahm. Sie besetzten das Gebäude des Unternehmerverbands FEB und lieferten sich nach Provokationen von Nazis und „zivilen Beamten“ Straßenschlachten mit der Polizei. Vorausgegangen war die Bildung einer neuen rechtskonservativ/neoliberalen Regierung, welche als erste Maßnahmen eine  10%ige Gehaltskürzung  im Öffentlichen Dienst präsentierte. Daneben gibt es noch eine Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre und eine Abschaffung der bis heute gültigen Angleichung der Gehälter an die Inflationsrate – im Durchschnitt verlieren die Beschäftigten dadurch über 330 Euro im Jahr.

In der 3. Novemberwoche gab es in verschiedenen Regionen Belgiens begrenzte Streiks. Diese legten den Öffentlichen Nahverkehr lahm. Gipfeln sollen die Proteste in einem landesweiten Generalstreik am 15. Dezember.

Die neue Regierung war zustandegekommen, nachdem die wallonische PS unter Premier Di Rupo mit ihrer Minderheitsregierung gescheitert war. Im belgischen Parlamentarismus gibt es eine wallonische und eine flämische Kammer mit zwar ähnlichen sozialdemokratischen, christdemokratischen und liberalen Gruppierungen, aber mit einer erstarkten Rechten in Flandern. In den letzten Jahren war dort speziell die rechtsextreme und separatistische „Vlaams Belang“ ein Begriff. Seit diesem Jahr ist die rechtspopulistische N-VA (Neue Flamen-Allianz) die stärkste Kraft in der flämischen Kammer. Diese ging hervor aus flämischen konservativen Parteien und wurde unter Parteichef de Bever nun Teil der neuen Regierungskoalition. Jetzt regieren zwei liberale Parteien – die MR (Reformbewegung Walloniens) des neuen Premiers Charles Michel sowie die Open Vld (flämische Liberaldemokraten) gemeinsam mit den flämischen Christdemokraten der CD&V und mit den Rechtspopulisten.

Wenn auch keine Einigkeit über die Hauptforderung der N-VA – die eine mittelfristige Abspaltung Flanderns wünscht – innerhalb der Regierung herrscht, so war sie sich doch einig bei den Angriffen auf die belgische ArbeiterInnenklasse. Diese gehört zu den am besten gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnenklassen in Europa. Nach verschiedenen Zählungen sind mehr als 3 Millionen von ihnen organisiert. Im Unterschied zum Parteiensystem gibt es bei den Gewerkschaften auch keine regionale Spaltung. Dort gibt es zwei Dachverbände – den eher christ-sozialen CSC/ACV und den „sozialistisch“ orientierten FGBT/ABVV. Zwar haben diese je nach Sprachregion einen anderen Namen, sind aber durchaus in der Lage, gemeinsam zu mobilisieren.

Allerdings müssen die Basis der Gewerkschaften und die verschiedenen linken Gruppierungen wissen, dass sie weder mit der wallonischen PS des Ex-Premiers Di Rupo noch mit Gewerkschaftsführungen, welche über die Reformen verhandeln wollen, den Kampf gewinnen können. Bei der Großdemo in Brüssel beklagte so Di Rupo auch lediglich, dass die Regierung „über die Köpfe der Menschen hinweg“ diese Angriffe durchsetze. Ins gleiche Horn bliesen auch die Gewerkschaftsführungen. Diese wollen die bislang gut verankerte Sozialpartnerschaft auch mit Neoliberalen und Rechtspopulisten aufleben lassen – nicht ahnend, warum die Regierung gerade das nicht will und eher den „Thatcherismus“ für Belgien propagiert. Di Rupo wurde dann auch von der aktuellen Regierung auf die Milliardenkürzungen hingewiesen, die von ihm in seiner Amtszeit 2011-14 durchgesetzt worden waren. Die belgische ArbeiterInnenklasse muss sich von der Herrschaft der PS befreien, die Streiks selbst demokratisch kontrollieren und den Gewerkschaftsführungen alle Verhandlungen mit der Regierung untersagen.

Der Generalstreik am 15.12. und die verschiedenen regionalen Mobilisierungen in Belgien bieten die Möglichkeit für Beschäftigte und AktivistInnen, eigene Streikkomitees aufzubauen, den Widerstand gegen die Kürzungen in der Bevölkerung zu verankern und so auch ein Gegengewicht zur Bürokratie zu haben.

Die sozialdemokratische PS und die Gewerkschaftsführungen wollen die Stärke der belgischen ArbeiterInnenklasse jedoch nur dazu missbrauchen, um die Sozialpartnerschaft wiederaufleben zu lassen. Die Stärke der organisierten Klasse bietet aber ebenso die Möglichkeit, über alle sprachlichen Grenzen hinweg, den Kürzungen entgegenzutreten und der neuen Regierung eine Niederlage beizubringen.

Situation in Griechenland

Seit Ende November gibt es scharfe Zusammenstöße der griechischen AnarchistInnen mit der Polizei. Anlass ist der Hungerstreik des inhaftierten Anarchisten Nikos Romanos, der seit dem 10.11. gegen die Haftbedingungen protestiert. Nikos gehört zur Generation von Alexandros Grigoropulos, der im Jahr 2008 von den Bullen ermordet wurde, und er war ein Freund von Alexandros.

Die Auseinandersetzung führte zu vereinzelten Anschlägen auf Polizeistationen, was die Bullen wiederum dazu animierte, Massenverhaftungen durchführen und ihre Spezialkräfte gegen eine Demo von körperlich Beeinträchtigten einsetzen.

Statt einen „Stadtguerilla“-Kampf zu führen, sollten auch die anarchistischen Gruppierungen auf die griechische Linke zugehen und mit ihnen zusammen gegen die Polizeigewalt in Griechenland, gegen die miserablen Bedingungen von Inhaftierten und Flüchtlingen vorgehen. Gerade die Flüchtlinge werden unter humanitär sehr schlechten Bedingungen untergebracht. Diesen Skandal mit einer Kampagne für bessere Haftbedingungen zu verknüpfen, könnte die ganze Linke mobilisieren. Wenn anstelle einer gemeinsamen Aktion aber wieder nur isolierte Kämpfe stattfinden, schwächt das wiederum den Widerstand der griechischen Linken insgesamt und führt zu nichts.

Perspektive der Abwehrkämpfe

Nachdem Griechenland seit mehreren Jahren dem Spardiktat der Troika unterworfen ist, sehen wir, was die Perspektive eines „europäischen Kapitalismus“ ist:

  • Abbau der sozialen Sicherungssysteme, Arbeitslosenunterstützung nur noch für 6 Monate;
  • Kürzungen im Gesundheitsbereich, heute können sich viele GriechInnen eine Krankenversicherung nicht mehr leisten, die Krankenhäuser sind unterversorgt, es fehlt am Nötigsten;
  • Senkung der Mindestlöhne auf ein Maß (561 Euro), von dem niemand leben kann.

Griechenland zeigt, welche Perspektive das Europa des Kapitals letztlich für die Massen des gesamten Kontinents zu bieten hat.

Das Ziel der Sparprogramme ist eine Ausdünnung des Öffentlichen Dienstes, der z.T. von privatem Kapital übernommen wird. Die Gewerkschaften werden strategisch geschwächt und „Mitbestimmungsmöglichkeiten“ minimiert. Unter dem Diktat der Finanzmärkte und Großkonzerne wird die europäische ArbeiterInnenklasse im großen Stil angegriffen und viele Errungenschaften sollen abgeschafft werden.

Dagegen wird kein nationaler, isolierter oder symbolischer Protest helfen, wie die zahlreichen Kämpfe und Proteste in Griechenland gezeigt haben. Die europäische ArbeiterInnenklasse braucht eine gemeinsame Kampfperspektive, braucht gemeinsame Massenaktionen und ein Programm gegen EU-Bürokratie, Troika und BRD-Imperialismus. Das ist entscheidend! So verständlich auch Slogans gegen Deutschland oder Farbbeutelangriffe auf die deutsche Botschaft sind – wichtiger ist eine gemeinsame antikapitalistische revolutionäre Perspektive aller europäischen ArbeiterInnen und antikapitalistischen Linken!

Die radikale Linke, wie auch die etablierten Organisationen der Arbeiterbewegung sind am Scheideweg. Entweder wir kämpfen mit einer anti-kapitalistischen und sozialistischen Perspektive gegen dieses Europa des Kapitals oder wir wärmen den alten Traum der Sozialpartnerschaft wieder auf. Entweder es beliebt bei symbolischen und isolierten Aktionen und lauwarmen Resolutionen der offiziellen VertreterInnen der Massen oder aber es gelingt, eine Alternative dazu zu schaffen: europaweit koordinierte Widerstandsstrukturen, die gemeinsam mobilisieren und ein Aktionsprogramm erarbeiten, das eine klassenkämpferische, internationalistische Stoßrichtung hat.

In eine solche Dynamik kann und muss eine antikapitalistische Perspektive getragen werden, die   auch zum Aufbau einer neuen revolutionären Linken in Europa führt, welche der kapitalistischen „Einigung“ Europas, die in Wirklichkeit nur Elend, Hass und Spaltung für den Kontinent bedeutet,  die Losung der „Vereinigten sozialistischen Staaten Europas“ entgegen hält.