Arbeiter:innenmacht

Brasilien: Wohin geht der Protest?

Rico Rodriguez, Neue Internationale 181, Juli/August 2013

Die Massenbewegung der letzten Wochen ist die größte seit 20 Jahren. Hunderttausende gingen in über 100 Städten Brasiliens auf die Straße. Angefangen hat alles mit relativ kleinen Demonstrationen gegen die Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Verkehr in Sao Paulo und bald darauf in Rio de Janeiro. Binnen zwei Wochen explodierte die Bewegung, veränderte rapide ihren Charakter und flachte dann genauso schnell wieder ab – aber vorbei ist sie noch nicht.

Seit 2003 wird die Regierung in Brasilien von der Arbeiterpartei PT geführt. Diese Zeit war – mit Ausnahme des Krisenjahres 2008 – von einem relativ konstanten Wirtschaftswachstum von um die 5% geprägt sowie von einem moderaten Anstieg der Beschäftigtenzahl und der Einkommen breiter Schichten der Arbeiterklasse. Doch das ist nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite hat die PT wichtige Versprechungen und Positionen, für die sie traditionell steht, enttäuscht und verraten. Die Agrarreform z.B. wurde nie durchgeführt, die Auslandsschulden werden brav weiter bedient, die Gewerkschaftsreform ist gescheitert, die Arbeitsbedingungen haben sich weiter prekarisiert. Zudem wurde die Partei 2005 in den größten Korruptionsskandal in der Geschichte des Landes verwickelt. Auch die schreiende Ungleichheit in Brasilien wurde von der PT zu keiner Zeit wirklich bekämpft. Das reichste eine Prozent der Bevölkerung (2 Millionen Personen) besitzt heute nach wie vor 13% des Reichtums – genauso viel wie die unteren 50% der Gesellschaft mit 100 Millionen Menschen! Hinzu kommen noch krassere Unterschiede bezüglich Region und Hautfarbe.

Ursachen der Bewegung

Das Modell der PT und ihres Regierungsbündnisses mit mehreren offen bürgerlichen Parteien, die wichtigste davon die rechte PMDB, fußt auf dem hohen Wirtschaftswachstum, das der Regierung Spielraum für moderate Reformen bei gleichzeitigen Rekordgewinnen für das brasilianische und imperialistische Kapital ermöglicht. Doch dieses Modell gerät nun aber durch ein Abflauen des Wachstums an seine Grenzen.

Die Amtszeit der Präsidentin Dilma, die 2010 die Nachfolge von Lula antrat, war stets auch von Angriffen und Kürzungen geprägt. Die Regierung gab Milliarden für den Bau von Stadien für die WM aus, verabschiedete Steuervergünstigungen und Subventionen für die Industrie, privatisierte Autobahnen, die Ölförderung und die Flughäfen. Gleichzeitig stiegen die Mieten in den Großstädten stark an, in Sao Paulo z.B. durchschnittlich 12% im letzten Jahr. Das Gesundheitssystem leidet chronisch an Unterfinanzierung, ebenso wie das Bildungssystem, Viele LehrerInnen verdienen nur ca. 500 Euro im Monat. Ein neues Gesetz über die Nutzung von Waldflächen überlässt den Agrar-Multis weitere Flächen zur Abholzung und führt zur weiteren Vertreibung der indigenen Bevölkerung. Dazu kommt der miserable öffentliche Nahverkehr, der, gemessen am Durchschnitts-Einkommen, zu den teuersten der Welt gehört und zudem unglaublich schlecht organisiert ist. Ein Grund dafür  ist dessen Privatisierung in den 1990ern. Die Preiserhöhung um 20 Centavos (ca. 0,07 Cent) in vielen Städten war dann der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Eine Führung, die keine sein will

Am 13. Juni war die Demonstration in Sao Paulo auf 15.000 TeilnehmerInnen angewachsen. Sie wurde brutal von der Polizei unterdrückt, so dass die Situation eskalierte. Am Montag, dem 17. Juni, gingen in ganz Brasilien über 250.000 auf die Straße. Zwei Tage später kündigten die Bürgermeister von Sao Paulo und Rio sowie der Gouverneur des Bundesstaates Sao Paulo an, die Preiserhöhungen zurückzunehmen. Ein großer Erfolg für die Bewegung!

Die PolitikerInnen hofften natürlich, damit der Bewegung den Zahn zu ziehen. Doch einen Tag später, am 20. Juni, gingen sogar noch mehr auf die Straße: über eine Million in 80 Städten.

Die Führung der Bewegung hatte de facto eine kleine Gruppe aus Sao Paulo inne, die „Movimento Passe Livre“ (MPL). Diese Gruppe hatte die Proteste gegen die Fahrpreiserhöhungen organisiert. Die Gruppe ist anarchistisch inspiriert und hat eine offene Bündnisstruktur. Sie lehnt Parteien ab und pocht auf „horizontale“ Strukturen. In den Demos haben sie Lautsprecherwagen als „autoritär“ zurückgewiesen und weigerten sich, der Bewegung eine organisierte Struktur zu geben.

Ähnliche Ideen kennen wir auch in Europa von Occupy, den Indignados aus Spanien und vielen Libertären und AnarchistInnen. In Brasilien hat sich jetzt gezeigt, welche Gefahren drohen, wenn eine solche Führung – die selbst keine sein will – plötzlich eine Massenbewegung anführt.

Die Rechte versucht, die Bewegung zu infiltrieren

So kommt auch aus dem Umfeld der MPL die Idee, dass es keine Parteifahnen auf den Demos geben soll. Am 17. Juni, der ersten Massendemo, breitete sich die Idee schnell aus und zeigte sich in dem Slogan „Ohne Partei!“. Linke Parteien und Gruppen wurden aggressiv aufgefordert, ihre Fahnen weg zu nehmen, teils wurden sie sogar angegriffen. Am 18. Juni waren keine roten Fahnen mehr zu sehen. Stattdessen waren plötzlich Brasilien-Fahnen weit verbreitet. Spätestens am 20. Juni war dann klar, dass rechte Gruppen angefangen hatten, die Bewegung zu infiltrieren. In vielen Städten wurden linke Gruppen, Parteien und auch Gewerkschaften darin gehindert, ihre Fahnen in den Demos zu tragen und angegriffen. In Sao Paulo wurde der linke Block von einer faschistischen Gruppe angegriffen und unter dem Jubel einer nationalistischen Masse aus der Demo geprügelt. Unter die Masse mischten sich rechte Slogans wie „Lula ins Gefängnis“, „PT nie wieder!“ und sogar „Für eine Rückkehr der Militärs!“

Jetzt erkannte auch die MPL, dass die Bewegung völlig außer Kontrolle zu geraten drohte  und die Ablehnung von Parteien und Gruppen vielleicht doch keine so gute Idee war. Sie veröffentlichte am Tag darauf eine Erklärung, dass sie den rechten Angriff verurteilt, und dass sie zwar „a-parteiisch“, aber nicht „anti-parteiisch“ sei. Zudem kündigte sie an, nicht weiter zu Demos aufzurufen.

Wenn diese anarchistischen Ideen bereits bei Occupy und bei den Indignados eine negative Rolle gespielt haben, haben sie sich in Brasilien vollkommen als Desaster erwiesen. Die Bewegung wurde keineswegs an sich rechts, aber von rechten Gruppen durchdrungen und unter dem Vorwand des „Ohne Parteien!“ und „Für Brasilien“ mit Erfolg nationalistisch beeinflusst. Mit dieser Situation war die MPL völlig überfordert und verabschiedete sich daher schnell.

Wie weiter?

Unter dem Druck der Bewegung reagierte auch Präsidentin Dilma und versprach, mehr Geld für Bildung sowie ein Plebiszit über eine politische Reform. Aber es brodelt weiter. Am 30. Juni gab es parallel zum Finale des Confed-Cups eine Demo mit 10.000 TeilnehmerInnen, wobei es erneut zu schweren Auseinandersetzungen kam. Seitdem gibt es viele weitere Demos und Bewegungen zu verschiedenen Themen.

Nach anfänglicher Abstinenz haben auch die Gewerkschaften gemerkt, dass sie etwas tun müssen. Auf einem Treffen der verschiedenen Dachverbände wurde ein nationaler Protest- und Aktionstag für den 11. Juli beschlossen. Es wäre allerdings nötig gewesen, dass die Gewerkschaften von Anfang an ihre Stärke in die Bewegung geworfen hätten. Das hätte einen deutlichen Schub und auch eine deutlich andere soziale Zusammensetzung und Organisation bewirkt. Schließlich hätten so auch die rechten Kräfte schnell aus der Bewegung geworfen werden können.

Auf dem Höhepunkt der Bewegung wäre die Einberufung einer Konferenz nötig gewesen, um die Forderungen, die Strategie und die Organisation der Bewegung zu diskutieren und zu organisieren. Durch die Organisierung von Stadtteilkomitees bei gleichzeitiger Koordinierung durch Delegierte auf Stadt- und Bundesebene hätte die Kraft der Masse genutzt werden können, um eine echte politische Alternative aufzubauen. In Rio und Belo Horizonte sind erste Ansätze in diese Richtung erkennbar. Dort haben sich eine Versammlung bzw. ein Forum gegründet, um die Ziele der Demonstrationen zu diskutieren. Diese Ansätze müssen unbedingt ausgebaut werden! Deshalb kann und muss die Bewegung – statt alle Formen von politischer Organisation abzulehnen – im Gegenteil die Mobilisierungen, die entstehenden Strukturen und die Ablehnung der PT auch dafür nutzen, den Aufbau einer neuen revolutionären Partei als Ziel zu proklamieren.

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